
Im letzten Bulletin habe ich versprochen, diesmal die zweite der besonders bemerkenswerten Schriften des damals vorgestellten Sammelbands aus dem Besitz von Franz Schnyder von Wartensee zu präsentieren. Es ist dies die kleine und sehr seltene Frühschrift Arthur Schopenhauers: „Ueber das Sehn und die Farben“, erschienen 1816 bei Hartknoch, dem Verleger Kants.
Goethe hat bekanntlich zwei Jahrzehnte mit der Ausarbeitung seiner Farbenlehre, und das heisst auch: mit dem Kampf gegen diejenige Newtons, zugebracht. Gegen die Experimente Newtons, in denen dieser das Licht durch enge Kammern und Röhren „quälte“ und zergliederte, setzte er eine ganzheitliche Sicht, die auf die prästabilierte Harmonie von Objekt (Licht) und Subjekt (Auge) setzte: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt’ es nie erblicken; Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?“
Der junge Schopenhauer wohnte in Weimar und hatte dort Kontakt zu Goethe, dem er seine Schrift schickte mit der Bitte, sie als Herausgeber zu begleiten und mit seinem Namen zu unterstützen. Zu dieser Bitte hatte er durchaus Grund, denn er verstand sich als (fast) einzigen Mitstreiter des in der Frage der Farbenlehre isolierten Goethe. Gleichzeitig war er überzeugt, dass er dessen Erfahrungslehre durch seine Theorie nicht nur krönte, sondern überbot: Der Schüler wollte mehr als nur unterstützen. In der Tat differierte er in einigen wesentlichen Punkten von Goethe. Während dieser die “Taten und Leiden des Lichts“ im Auge beschrieb, setzte der Schüler Kants die Farben transzendentalphilosophisch ganz in das Subjekt als „Taten“ der Netzhaut. Damit verabschiedete er sich von der prästabilierten, pantheistischen Harmonie Goethes und kam in seiner Theorie des Weiss sogar der Argumentation Newtons nahe. Goethe war es deshalb nicht möglich, der Bitte Schopenhauers zu entsprechen. Er hat aber das gesunde, um nicht zu sagen anmassende Selbstbewusststein, mit dem der Jüngere ihm gegenüber seine eigene Theorie als die einzig mögliche vertrat, mit gelassener Grossmut ertragen, ohne mit ihm zu brechen. Immerhin hat er in sarkastischen Versen, die Schopenhauer selbst in der Einleitung zur zweiten Auflage zitiert, seiner Irritation Luft gemacht:
Trüge gern noch länger des Lehrers Bürden,
Wenn Schüler nur nicht gleich Lehrer würden...
Und Schopenhauer? Er hat trotz der tiefen Enttäuschung über die Zurückhaltung Goethes nicht aufgehört, die „Excellenz“ zu bewundern und zu verehren. Th. Eh. (Nov. 2007)
Arthur Schophenhauer: Ueber das Sehn und die Farben. Eine Abhandlung. Leipzig: Johann Friedrich Hartknoch 1816. – Signatur: S 627.
Den Briefwechsel Schopenhauers mit Goethe hat Ludger Lütkehaus zusammen mit andere Dokumente zur Farbenlehre und mit einem erhellenden Essay herausgegeben (Zürich: Haffmans 1992). – Signatur: H 8852.