Zwischen 1882 und 1884 erschien unter dem Pseudonym Capitain Ramon Diaz de la Escosura im Verlag H. G. Münchmeyer einer der erfolgreichsten Kolportageromane des 19. Jahrhunderts: das 2’612 Seiten umfassende «Waldröschen». Auf billigem Papier gedruckt, wurde es in 109 Lieferungen durch Hausierer verkauft. Gemäss dem Verfasser wurde vereinbart, dass an den Manuskripten keine Änderungen vorgenommen werden durften und dass die Rechte nach einer Auflage von 20’000 Abonnenten wieder an ihn zurückfallen sollten.
Diese Abmachung wurde allerdings nicht eingehalten. 1902 erschien eine Buchausgabe unter dem richtigen Namen des Autors, der nicht mit Kolportageliteratur hatte in Verbindung gebracht werden wollen: Karl May. May wehrte sich gegen die Veröffentlichung, die folgenden Prozesse dauerten bis über seinen Tod 1912 an. Neben der Frage um Rechte und finanzielle Entschädigungen ging es May auch um inhaltliche Veränderungen, die der Verlag angeblich ohne sein Wissen vorgenommen hatte. Man habe sie «[…] aus belehrenden Reiseromanen in aufregende Kolportageromane verwandelt». Insbesondere gegen den Vorwurf der Unsittlichkeit wehrte sich May, der behauptete, alle anstössigen Stellen («hochwogende Busen» u. ä.) seien erst nachträglich hinzugefügt worden.
Wie gross diese Änderungen tatsächlich waren, lässt sich nicht mehr feststellen. Mays Witwe gab dem Karl-May-Verlag 1930 die Erlaubnis, die Werke nach eigener Vorstellung umzuarbeiten, was zu grösseren Kürzungen und dramaturgischen Überarbeitungen führte. Andere Verlage stützten sich bei ihren Veröffentlichungen zwar auf die ursprünglichen Texte, nahmen sich dabei aber ebenfalls grosse Freiheiten heraus.
So der Zürcher Pfeil-Verlag, dessen Ausgabe (1946–1949) des «Waldröschens» im Bestand der Museumsgesellschaft zu finden ist. Die zwölf Bände beruhen weitgehend auf dem Original aus dem Münchmeyer-Verlag: «Die Kürzungen, die wir vornahmen, betreffen nur Stellen, von denen man wirklich überzeugt sein kann, dass sie nicht von Karl May stammen. Wir haben allerdings die Gelegenheit benützt, Stil und Orthographie leise zu überarbeiten und der heutigen Art und Weise anzupassen.» Erscheinen durften sie nur in Ländern, in denen die Urheberrechte bereits abgelaufen waren.
Ein Abgleich mit den Bänden 51–55 von Karl Mays gesammelten Werken aus dem Karl-May-Verlag von 1924–1954 (ebenfalls in unserer Bibliothek zu finden) ist entsprechend schwierig. Zu stark weichen die Bücher voneinander ab, obwohl sie alle ein Abdruck des «Waldröschens» sind.
In groben Zügen geht es um Folgendes (die Feinheiten sind umstritten, May selber hatte bei der hastigen Produktion oft den Faden verloren): Der deutsche Arzt Sternau rettet in den 1850er-Jahren den spanischen Grafen Rodriganda vor seinem schurkischen Verwalter Cortejo und befreit (Kloster), heilt (Gift) und heiratet die Grafentochter. Cortejo, der seinen eigenen Sohn mit dem Sohn Rodrigandas ausgetauscht hat, ist von nun an sein Erzfeind. Der Versuch, den in Ostafrika als Sklaven gehaltenen Bruder des Grafen zu retten, scheitert, dafür befreit Sternau in der Karibik den Sohn des Grafen und bringt ihn auf die mexikanischen Ländereien der Rodrigandas. Dort wehrt Sternau verschiedene Mordanschläge ab, wird aber mit Freunden gefangen genommen (Aztekenpyramide). Sie entkommen, fallen wieder in die Hände der Schurken und werden auf einer einsamen Südseeinsel ausgesetzt. Nach 16 Jahren befreit sie der mittlerweile geflohene Bruder des Grafen. Sternau kämpft kurz mit Benito Juárez gegen Kaiser Maximilian und wird erneut gefangen genommen (düstere Klostergewölbe). Endlich befreit ihn sein Schwiegersohn in spe endgültig, worauf er zu seiner Frau zurückkehrt und seine Tochter, das titelgebende Waldröschen, kennenlernt.
Mirjam Schreiber
May, Karl: Waldröschen, Bd.1–12, Zürich/Basel: Pfeil-Verlag, 1946–1949. Signatur K 9051: a-l.
May, Karl: Gesammelte Werke, Bd. 51–55, Radebeul/Bamberg: Karl-May-Bücherei, 1924–1954. Signatur G 7620: 51-55