Im Tal der Assassinen

Die kindliche Lektüre von «1001 Nacht» habe den Sa­men für ihre ausgedehnte Reisetätigkeit im Nahen und Mittleren Osten gelegt. Und auch wenn Scheherazade weder die brütende Hitze – 50 Grad im Schatten – er­wähnt hatte noch den Staub, der die Atemwege der Stadtbewohner:innen verklebte, fühlte sich Freya Stark (1893-1993), britische Forschungsreisende und Reiseschriftstellerin, in Bagdad sofort wohl.

1929, kurz nach dem Börsencrash, war die 37-Jährige in der ehemaligen Königsstadt eingetroffen. Von Bagdad aus reiste sie 1930 nach Persien, um die Ruine der Gebirgsfestung von Hassan-e Sabbah, dem Anführer der Sekte der Assassinen, zu erkunden. Als sie in Hamadan ankam, stellte sie fest, dass das Geld, das sie sich hierher hatte überweisen las­sen, nicht eingetroffen war und sie gerade mal zwei Pfund in der Tasche hatte, um ihren abenteuerlichen Treck zu finanzieren. Mit einem zuver­sichtlichen «Allah will provide!» und in Begleitung dreier grimmig ausse­hender Maultiertreiber, die sich um sie kümmerten, als wäre sie ihre Mut­ter, brach sie in das nahezu unzugängliche, von Armut geplagte Elburz-Gebirge auf. Unterwegs nächtigte sie unter dem Sternenhimmel oder in einfachen Unterkünften; die Einheimischen waren fasziniert von dieser allein reisenden Engländerin, die ihre Sprache beherrschte. Freya fand nicht nur die sagenumwobene Festung Alamut, von der aus die Assassi­nen während 200 Jahren politische Morde verübt und Angst und Schrecken verbreitet hatten, sondern auch weitere, bislang nicht karto­grafierte Dörfer und Berge. Mit ihrem Kompass kraxelte sie auf eisig kalte 3142 m ü. M. hoch und identifizierte eine ganze Reihe kartografi­scher Fehler. Sie übergab ihre Daten einem verblüfften britischen Nach­richtenoffizier in Bagdad. Für ihren Beitrag zur Forschung wurde sie von der Royal Geographical Society geehrt. In den Nachrichtenoffizier war sie vermutlich verliebt; er war mutmasslich homosexuell, und sie hatte sich zu dieser Zeit gemäss Biografin bereits mit ihrem «Jungferndasein» abgefunden.

Der Reisebericht, den sie nach ihrer Rückkehr aus Persien verfasste, «The valleys of the Assassins», wurde zum Bestseller und im Erschei­nungsjahr 1934 zweimal nachgedruckt. 1949 erschien er erstmals in deutscher Übersetzung; der Titel «Im Tal der Mörder» ist allerdings irreführend. Der Begriff «Assassinen» leitet sich vom arabischen haschischiyyin ab: Man vermutet, dass die als Selbstmordattentäter Rekrutierten in Dro­genrausch versetzt wur­den, um ihre tödliche Lo­yalität zu verstärken.

Freya bereiste auch den Nahen Osten und die ara­bische Halbinsel. Sie reise, um «fun» zu haben, «to look around me, to learn, and to enjoy», hatte sie einmal gesagt. Aller­dings erlaubte ihre Reisetätigkeit ihr auch ein Ausmass an Freiheit und Selbstbestimmung, das ihr als Frau im Europa der 1930er-Jahre nicht beschieden gewesen wäre. Hier zählte nicht, wie hübsch sie war, wie viel Geld sie besass und welcher sozialen Klasse sie angehörte – hier war sie eine Persönlichkeit, die Geschichten aus anderen Weltgegenden mitbrachte, eine Vertreterin einer europäischen Grossmacht.

Ihre letzte Reise unternahm sie 1968, im Alter von 75 Jahren, nach Af­ghanistan. 1972 wurde sie von der Queen als Dame Commander des Order of the British Empire geadelt. Die letzten Jahre ihres langen Le­bens (sie wurde hundert) verbrachte sie in Asolo, Italien.

 

Kathrin Berger

 

Stark, Freya: The valleys of the Assassins and other Persian travels. London: John Murray, 1934. Signatur A 6447

Bücher in der Bibliothek

Freya Stark