«Ganz defekt»: So ist das in grünem Leinen gebundene Buch mit gold- und schwarzgeprägtem Rücken- und Deckeltitel auf dem Buchrücken markiert. Und tatsächlich macht das Buch einen viel gelesenen Eindruck. Neben dem gestossenen Einband und dem zerfledderten Rücken wurde eine Vielzahl von Seiten, offenbar zu verschiedenen Zeiten, mit Klebstreifen geflickt. Da das Buch auf Holzschliffpapier gedruckt wurde, sind die Seiten entsprechend bräunlich verfärbt und brüchig.
Verfasst hat das Werk mit dem vielversprechenden Titel Prof. Dr. Ludwig Büchner, der jüngere Bruder des Schriftstellers Georg Büchner. Ludwig Friedrich Büchner (1824-1899) war Arzt, Naturwissenschaftler und Philosoph. Als Vertreter des naturwissenschaftlichen Materialismus versuchte er, Themen der Naturwissenschaft, insbesondere die Evolutionstheorie von Darwin, einem breiten Publikum nahezubringen.
1875 publizierte er in der «Gartenlaube», einer Illustrierten mit einer Auflage von fast 400’000, einen Aufruf «an alle Herren Thierbesitzer, Thierzüchter, Thierwärter, Thierärzte, Jäger und Thierfreunde […], sie möchten ihm zum Behufe der Benutzung […] gefällige Mittheilung von gut verbürgten und (wo möglich) selbstbeobachteten Beispielen oder Thatsachen machen, welche für die Ueberlegungskraft und das Denkvermögen, sowie für das Gemüthsleben der Thiere sprechen – und zwar unter gefälliger Angabe des Namens und Wohnorts der Herren Beobachter.»
Offenbar erhielt Büchner derart zahlreiche Zuschriften, dass er nicht nur, wie ursprünglich vorgesehen, 1876 ein Werk mit dem Titel «Aus dem Geistesleben der Thiere» veröffentlichen konnte, sondern drei Jahre später eines über das Liebesleben derselben nachreichte.
Für Büchner ist klar: «Liebe und Verliebtheit, Liebeswahl und Liebeswerben, Liebeskampf und Liebesspiel, Gattenliebe und Gattenwahl, Ehe- und Familienleben, Kindes-, Mutter- und Elternliebe sind bei dem Thiere, oft in höchster Vollendung […] ausgeprägt. […] Nächstenliebe und Mitleid, gegenseitige Hülfe und gegenseitigen Beistand, Sorge für Andere, Mildthätigkeit, Treue und Dankbarkeit, Freundschaft, Erbarmen, Edelsinn und Grossmuth, Gewissen und Pflichtgefühl – aber auch die hohen, mannigfaltigen und nützlichen Tugenden der Sociabilität oder Geselligkeit kennt und übt das Thier in beinahe ebenso grossem, oft oder in einzelnen Fällen in noch grösserem Masse, als der auf seine geistigen und moralischen Vorzüge so stolze Mensch. An zahlreichen und gut verbürgten Beispielen zum Beweise dieser Behauptungen wird es der weitere Verlauf dieser Schrift nicht fehlen lassen.»
Da ist die Katze, die den befreundeten Kanarienvogel aus den Klauen einer anderen Katze rettet, der Adler (alternativ: der Löwe), der einen erbeuteten Bussard (alternativ einen Hund) aus Mitleid am Leben lässt und sich mit ihm anfreundet, oder das Pferd, das seinen Herrn, der den Hund züchtigt, am Rockzipfel packt und zurückzuziehen versucht.
Bemerkenswert an den vielen eingesandten Beispielen, die Büchner aufführt, ist nicht zuletzt, wie oft das liebende Tier vom beobachtenden Menschen zwecks genauerer Analyse geschossen werden muss:
«[Der] Wildwart [entdeckte] ein Habichtsnest mit fünf Jungen […] und [liess] eins davon mit gekappten Flügeln im Neste […] um die Alten herbeizulocken. Andern Tages schoss er wirklich die Eltern und glaubte, die Sache sei damit abgemacht. Aber folgenden Tages fand er abermals zwei andre mitleidige Habichte bei dem Neste, welche gekommen waren, das Junge zu füttern. Auch sie wurden geschossen und nach einiger Zeit abermals durch zwei andre Habicht-Samariter ersetzt, welche sich des Waisenkindes annahmen. Als auch sie getödtet waren, kam keiner mehr zu dem unfruchtbaren Werke.»
Mirjam Schreiber
Büchner, Ludwig: Liebe und Liebes-Leben in der Thierwelt, Berlin: A. Hofmann & Comp., 1879. Signatur D168