«Bombenpeter, Mariannchen und Blockade-John»

Der «Struwwelpeter» gilt als einflussreichstes deutsches Kinderbuch des 19. Jahrhunderts – und als eines der kontroversesten. In drastischen Bil­dern propagiert es autoritäre Erziehung. Der Psychiater Heinrich Hoff­mann gestaltete das Buch 1844 für seinen dreijährigen Sohn und liess sich von zeitgenössischer Satire beeinflussen. Als Arzt, der auch Kinder behandelte, hatte er festgestellt, dass sich diese vom bizarren, ans Gro­teske grenzenden Stil der Karikatur viel mehr faszinieren liessen als vom damals geläufigen, lieblichen Biedermeierstil. Hoffmanns Protago­nist:innen waren frech und eigensinnig und alles andere als gehorsam. Neu daran war zudem, dass Bild und Text nebeneinanderstanden und die Geschichten auch verständlich waren, wenn man nicht lesen konnte. Das war bahnbrechend – der «Struwwelpeter» kann als erster Comic gelten.

Heute wird angenommen, dass Hoffmann den Kindern mit Bildern vom sich selbst ab­fackelnden Paulinchen oder vom Daumen­lutscher, der verstümmelt wird, nicht einfach Angst machen wollte, sondern auf die ka­thartische Wirkung von Schock- und Grusel­motiven setzte. Der Germanist Peter von Matt beschreibt die «Magie des Struwwel­peter-Bildes» so: «Es sprengt für einen Mo­ment die Ordnung. Die Erwachsenen set­zen es zwar ein, um die Ordnung zu propa­gieren; die Kinder aber erleben daran, dass es ein Ausserhalb dieser Ordnung gibt.»

Bis heute ist das Buch in 540 Auflagen er­schienen und erfuhr zahlreiche Nachahmungen, «Struwwelpetriaden». Eine solche war beispielsweise der 1915 erscheinende «Kriegs-Struwwelpeter» von Karl Ewald Olszewski. Der Holbein-Verlag reagierte damit auf die britische Struwwel­peter-Parodie «Swollen-headed William», auf dessen Titelblatt Kaiser Wil­helm II. mit verrutschter Krone und Wasserkopf posiert.

Im Olszewskis «Kriegs-Struwwelpeter» werden die alliierten Staaten als unartige Kinder dargestellt, die von den Mittelmächten, den strengen El­tern, in den Senkel gestellt werden. In der Geschichte von den «schwar­zen Buben» tunkt der mächtige Kaiser mit Pickelhaube die Kriegsgegner – den «Franzmann» mit der Lügenfahne, Zar Nikolaus II mit der Schnaps­flasche und den britischen Aussenminister Sir Edward Grey – in ein gros­ses Tintenfass, weil sie den deutschen Michel plagen. Es geht weiter mit den Geschichten vom Suppen-Kaspar «Blockade-John», der sich zu Tode hungert, mit Zappel-Philipp Beppo, der mit Vater Deutschland und Mutter Österreich am Tisch sitzt und mit seinem Stuhl umkippt, und John Guck-in-die-Luft, der in die Dardanellen fällt. Paulinchen wird zu Marianne, die ihr Kleidchen in Brand steckt und zu Asche verkohlt:

 

«Mariannchen durch das Zimmer sprang

Mit leichtem Sinn und Sing und Sang […]

Da sah sie lockend vor sich stehn

Das Feuerzeug ‹Revanche-Ideen›.

‹Ei›, sprach sie, ‹ei, wie schön und fein!

Das wird ein lustig Spielzeug sein.

Ich zünde mir die Hölzchen an,

Hätt‘ ich schon lange gern getan.›»

 

Der «Kriegs-Struwwelpeter» ist eines von vielen Kriegskinderbüchern, die vor und während des Ersten Weltkriegs boomten und die Kinder mit der vorherrschenden Interpretation des Kriegsgeschehens vertraut machen sollten. Viele Verlage brachten Kriegsversionen beliebter Klassiker her­aus. Kinder sollten anhand emotionalisierter Bilder auf die «guten» Mittel­mächte und die «bösen» gegnerischen Nationen eingeschworen werden. So wurden Kinderbücher im Handumdrehen für Kriegspropaganda instrumentalisiert.

 

Olszewski, Karl Ewald: Der Kriegs-Struwwelpeter: lustige Bilder und Verse, München: Holbein-Verlag, 1915.
Signatur G 612

 

Katrin Berger

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Karl Ewald Olszewski