Sommer, Erholung, Flirt am Schwimmbeckenrand à la 1925: In seinem «Baedeker für Sommerfrischler» beleuchtet Bela Balázs unerschrocken Körperkult und Befangenheiten seiner Zeitgenoss:innen. Erkenne man den Bankdirektor sogar in der Badeanstalt an seinem «wachsgelben Hängebauch», verrate das kleine Schwimmhöschen eines Athleten nichts über dessen soziale Stellung, wodurch sich die flirtwillige Frau dem Zufall ausliefere. Es sei denn auch eine Freude, zuzusehen, wie die Schwimmschule an den «Schranken niedriger Klassenurteile» rüttle.
Der Autor hatte sich in seiner Heimat Ungarn als Lyriker, Dramatiker und Schriftsteller einen Namen gemacht, als er 1919, nach der Niederschlagung der Räterepublik, nach Wien flüchten musste. In Wien und Berlin etablierte er sich als Feuilletonist. Die in diesem Bändchen versammelten Essays waren zuvor in der Zeitschrift «Der Tag» abgedruckt worden. Balázs findet gewitzte und poetische Bilder für dar Reisen, Wandern und Entspannen. So rät er, von einem Ort, der einem ans Herz gewachsen sei, zu Fuss wegzugehen, damit «er nicht zu einem Traumbild verdunste». Denn wer zu schnell unterwegs sei, etwa reisend im Zug, verliere «seine eigene Vergangenheit am Weg».
Bereits vor hundert Jahren, als Quality Time und Work-Life-Balance noch kein Thema waren, machte sich Balázs Gedanken zu den Herausforderungen, die der moderne Berufsalltag an uns stellt. «Wir Arbeitsmenschen», so schreibt er treffend, «haben keine Gegenwart. […] Von Gründen gestossen, von Zielen gezogen, werden wir durch unsere Stunden hindurchgeschleift, wie durch eine ewige Reihe von Vorzimmern und Couloirs, in denen man sich nicht umschaut, nicht aufhält. Man hat immer eine Aufgabe, eine Absicht, man ist immer unterwegs und das Leben ist nur Gelegenheit und eine Reihe von Terminen.» Klingt vertraut?
Urlaub hingegen … «Urlaub bedeutet Gegenwart haben. […] Wo will ich den Sommer verbringen? Auf der glücklichen einsamen Insel des ‹Jetzt›, zu der jeder Verkehr abgeschnitten ist», schreibt einer, der noch nicht von einer vollen Mailbox und überlaufenen Tourist Resorts geplagt war.
So richtig Fahrt nimmt Balázs’ Argumentation aber dann auf, wenn er hellsichtig darauf hinweist, was das alltägliche Hamsterrad mit uns macht: «Man verschlampt sein Innenleben, man vernachlässigt und vertuscht seine seelischen Konflikte, macht sein Gewissen mundtot mit dem Vorwand, dass man viel Sachliches zu tun habe – ‹auswärts›. Man arbeitet aus Angst vor seiner Seele.» Die schönste Zeit des Jahres, auf die wir alle hinarbeiteten, sei denn auch «unerbittlich»: «Man wird mit sich selbst konfrontiert. Zeit haben bedeutet verantwortlich sein. Verantwortlich für seine Seele. Der Urlaub beginnt, die Arbeit fängt an. Die Arbeit nach innen.»
Ein besonderes Kränzchen windet der Autor dem Reisen. Es führe uns in Räume, in denen sich «die Seele wachsend dehnt». Balázs beschreibt Insekten, deren «Sichtkreis so beschaffen ist, dass sie mit einem Flügelschlag über ihren Horizont hinausfliegen. Jede ihrer Bewegungen ist ein Sturz ins Ungewisse.» Und er staunt über Schnecken, die, aus dem Kaukasus nach Europa eingewandert, jahrtausendelang gewandert seien, Generation um Generation unterwegs gestorben, unter dem «Zwang des Naturgesetzes». Wir Menschen hingegen, die wir aus blosser Neugierde reisten, verkörperten etwas Ungeheures: die Rebellion gegen die Natur. «Jetzt erst hat man seine Wurzel aus dem Boden gerissen […] Man könnte fast Angst bekommen, dass der rollende Erdball einen abwirft, wie das Wagenrad den Strassenkot.»
Balázs, Bela: Der Phantasie-Reiseführer – Das ist ein Baedeker der Seele für Sommerfrischler, Berlin/Wien/Leipzig: Paul Zsolnay Verlag, 1925. Signatur: K 66.