Im Jahresbericht von 1900 veröffentlichte der Vorstand der Museumsgesellschaft erstmals eine Liste der meistgelesenen Autor:innen. Diese Hitliste birgt aus heutiger Sicht so manche Überraschung. Parallel zur Modernisierung ihrer Stadt, zu den technischen Errungenschaften und der touristischen Erschliessung der Alpen scheint die Zürcher:innen nämlich eine Sehnsucht nach der «guten alten Zeit» erfasst zu haben.
Zürich boomte. In Mitteleuropa herrschte eine lange, ununterbrochene Zeit des Friedens, die Menschen waren von Zukunftsfreude und Zuversicht beseelt. Es war die Zeit der ersten Fotografien, der ersten Schallplatten, der ersten Kinos, der ersten Automobile.
Das Gesicht der Stadt veränderte sich in atemberaubendem Tempo. Die Altstadt wurde «saniert»; das Kratzquartier am See abgerissen und viele der prestigeträchtigen Bauten der Innenstadt errichtet, u.a. die Quaibrücke und die Quaianlagen, die Bahnhofstrasse und die Fraumünsterpost. Das Bürgertum liess sich in prunkvollen Villen am Zürichberg oder in luxuriösen Apartmenthäusern nieder und kaufte im ersten Warenhaus, dem 1899 eröffneten Jelmoli, ein.
Gleichzeitig wurden an den Stadträndern Arbeiterquartiere aus dem Boden gestampft, denn die Textil- und Maschinenindustrie zog Menschen vom Land an, die in den Fabriken ein Einkommen suchten. Uhren – Fabrik-, Bahnhofs- und Taschenuhr – strukturierten in zunehmendem Mass den Alltag. Viele Haushalte verfügten neu über Telefon und elektrische Beleuchtung. Nach Typhus- und Choleraausbrüchen war das Abwassersystem saniert worden. Neben dem seit wenigen Jahren elektrifizierten Tram setzten sich Velo und Auto als Verkehrsmittel durch. Ein Pfünderli kostete 1 Franken, 1 Kilo Rindfleisch 7.50 Franken. Lebensmittel verschlangen die Hälfte des Familieneinkommens.
In ihrer Freizeit zerstreuten sich die Zürcher:innen in der neuen Tonhalle und im Stadttheater (dem späteren Opernhaus), besuchten aber auch Tier- und Menschenschauen, Wanderkinos und Variétébühnen mit Kunstreitern, dressierten Hunden, kleinwüchsigen Menschen und Säbelschluckern. Und gelesen wurde natürlich auch: Die seit 1834 bestehende Museumsgesellschaft erfreute sich grossen Zulaufs. Vor allem in den Abendstunden waren die beiden Lesesäle gut besucht, und die Bibliothek erfreute sich einer hohen Ausleihfrequenz.
Die deutschsprachige Schweizer Literatur der Jahrhundertwende wurde von Autor:innen dominiert, die die dörfliche Gemeinschaft als ein von den «Krankheiten» der Zivilisation unberührter Lebensraum ins Zentrum ihrer Geschichten stellten. Was in diesen Romanen – wenig überraschend – keinen Ausdruck fand: die Schweiz der raschen Industrialisierung, des expandierenden Fremdenverkehrs, des Alkohol- und Tuberkuloseproblems in den Vorstädten, die Schweiz der Auswander:innen und Söldner, der Verdingkinder und der zu langen und schlecht bezahlten Fabrik- und Büroarbeit.
Was wurde denn nun gelesen? Als Amuse-bouche sei an dieser Stelle nur die heute gänzlich vergessene Spitzenreiterin genannt: Nataly von Eschstruth. Die 27 Bücher von ihr, die die Bibliothek im Bestand hatte, wurden im Jahr 1900 354-mal ausgeliehen! Wenn Sie neugierig geworden sind: In der aktuellen Ausstellung in Foyer und DZ erfahren Sie mehr über die Lesevorlieben der Zürcher:innen um 1900!
Bild: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich