Juli 2020

El Niño

von Alexander Estis
Jahresthema: Klima- und andere Katastrophen
Monatsthema: El Niño

Ich hatte mich endlich von meinem Freund Felipe getrennt, einem rüden Peruaner mit dem Spitznamen «El Niño». Ob man ihm diesen seiner Heissblütigkeit wegen nach dem Strom oder einfach aufgrund seines kindischen Benehmens gegeben hatte, war mir unbekannt, und natürlich konnte ich ihn nicht direkt danach fragen. Die Mischung dieser beiden Eigenschaften jedenfalls machte ihn unerträglich. Dass ich mich nun nach langen Jahren der Duldung seinem Zugriff entzogen hatte, fühlte sich daher an, als hätte ich einen lästigen Bug gefixt.

Voller Freude über die wiedererlangte Freiheit registrierte ich mich bei Tinder. Und während ich mich registrierte, verspürte ich eine Art vorgreifender Lust auf die neuen, leichten, von jahrelanger Beziehungsdramatik unbeschwerten Bekanntschaften.

Mit den Bildern gab ich mir ordentlich Mühe: Ich posierte vor dem Spiegel in fortgeschrittener, selfieoptimierter Ausführung der Utthita Hasta Padangustasana. Ich flexte maximal aufm Laufband, bis sich der Tanga durch die Yogapants hindurchprofilierte. Ich toupierte die Haare zu einem Topknot, setzte eine nerdige Hornbrille auf, machte mir Matcha und blitzte mich beim Lesen der neuesten Neuheit von Juli Zeh. Ich lieh mir den Labrador meiner Grundschullehrerin, um potentiellen Liebhabern Fürsorglichkeit und Treue zu signalisieren, indem ich beim Striegeln seines Strubbelfells den Kopf synchron mit dem Tier in den Nacken legte.

Ich bestellte mir ein temporäres Tattoo mit einem Infinity-Zeichen, zog es mir auf den Unterarm und hielt das Symbol ins Objektiv, die Arme chillig-lasziv über das sorgfältig arrangierte Durcheinander des störrischen Haarschopfes streckend. Ich füllte eine Moët-Flasche aus dem Altglas mit Sprudel und passte einen purpurnen Sonnenuntergang ab, um am nächstgelegenen Strand den lauen Täuschungschampagner zu süffeln, gekonnt nonchalant. Ich erwarb Gucci-Gürtel und Prada-Gläser, mit denen ich mich, von verschwitzten Muskelpaketen befummelt, im Dreivierteldunkel eines Szeneclubs ablichten liess.

Ich nutzte gewiefte Filter; ich erwarb sogar Photoshop und lernte erst anschliessend in YouTube-Tutorials: Botox und Filler wären nicht nur günstiger, sondern auch einfacher und effektiver gewesen. Danach suchte ich das Netz ab nach ästhetizistisch-neckischen Antithesen wie «chasing sunsets, not guys», nach voluntaristischen Parallelismen wie «she knew she could, so she did», nach antileibnizschen Aperçus wie «behind every great woman is herself», nach brillant alliterierenden hedonistischen Lebensmaximen wie «live love laugh». Für die Selbstbeschreibung presste ich die beste Ironie aus mir heraus; sie sollte mich als zugleich unkompliziert und tiefsinnig darstellen, als offen und geheimnisvoll, als verfügbar-verführerisch, aber kaum zu haben.

Dann ging es los. Dummerweise zeigte das erste Bild ausgerechnet niemand anderen als meinen Ex, was mir die Stimmung um ein Haar ruiniert hätte. Dieses triebgesteuerte Tinderluder!, rutschte mir innerlich heraus, wie lang mag der sich hier wohl schon rumtreiben? – Aber das sollte nun meine Sorge weiter nicht sein; und so wischte ich, natürlich nach links. Allerdings, merkwürdig genug, kam er wieder und wieder. Diesmal war es wohl wirklich und unmetaphorisch ein Bug; ich startete das Programm neu und swipte Felipe, wie ich hoffte, endgültig hinweg, auf Nimmerwiederkehr, so wie man einen erledigten Blutsauger von der Handoberfläche auf den Boden herabfegt.

Weit gefehlt: Wieviel ich auch swipte – alles, was ich zu sehen bekam, waren Felipes Profile, Felipes Klone in endloser Folge, in zahllosen Variationen. Die meisten Bilder kannte ich selbstverständlich; auf manchen war ich als verstümmelter Arm, als lange blonde Haarsträhne oder als Stück einer Frauenhandtasche übriggeblieben. Jedes Profil trug seinen Namen, nicht selten handelte es sich um Koseformen, die ich ihm in den ersten Monaten unserer Bekanntschaft verliehen hatte.

Aus Wut swipte ich schneller und schneller, wie ein durchgedrehter, wie ein wildgewordener Scheibenwischer, aber es half nichts, El Niño kam immer wieder. Ich erweiterte meinen Suchradius, wählte als Standort erst New York, Shanghai, Delhi, London und Moskau, danach Gammelsdorf, Christchurch, Kapstadt, Kalalla und Jurjung-Chaja – überall gab es nur Filipinhos, Pipos, Lipes. Ich swipte, swipte und swipte, bis mein Daumen wund war und die Schutzfolie auf dem Bildschirm zerrieben. Ich raste, und es raste mein Herzschlag – so sehr, dass ich erwachte. Felipe schlief; ich beschloss, ihn vorerst nicht zu verlassen.