September 2021

Kotzemeuschel

von Gabriele Palm-Funke
Jahresthema: Die Grossen Zwölf
Monatsthema: Neid

Grossmutter sass in ihrem Korbsessel, wie immer. Sie trug ihr schwarzes Kleid, wie immer. Das  nachtblaue Kopftuch, die verwaschene Schürze, schwarze Hausschuhe, wie immer. In der rechten Hand bewegte Grossmutter ihren Rosenkranz, ununterbrochen, wie immer. Sie betete. Plötzlich hielt Grossmutter inne und herrschte mich an. Emma, was willst du wissen? Ich zuckte zusammen, drückte meinen Hintern noch fester gegen die Fussbank, meine Augen wanderten zur verrussten Küchendecke, um Grossmutters Blick auszuweichen. Emma, was willst du wissen? Los, frag schon!, flüsterte mir Mutter ins Ohr, ich konnte Mutter nicht sehen. Los, frag schon!

 

Grossmutter, wo wachsen die süssesten Birnen?

In Kutzemeuschel, mein Kind, wachsen die süssesten Birnen.

Grossmutter, wo schmeckt der Sträselkucha am besten?

In Kutzemeuschel, mein Kind, schmeckt der Sträselkucha am besten.

Grossmutter, wo ist alles viel schöner als hier?

In Kutzemeuschel, mein Kind, ist alles viel, viel schöner als hier.

 

Grossmutter konnte zufrieden sein. Ich hatte die Fragen gestellt, die sie mir beigebracht hatte. Ich hatte mir ihre Antworten angehört, obwohl ich sie längst kannte. Juri wartete draussen auf mich, wir wollten spielen. Ich versuchte von der Fussbank aufzustehen, doch ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich starrte auf Grossmutter, die über mir thronte. Sie nahm ihr Kopftuch ab. Aber Grossmutter, warum sind deine Haare so weiss geworden?,wollte ich sie nun fragen, dann würde  Grossmutter sich freuen, dass ich ihr auch noch diese Frage stelle und sie wird mir antworten, schuld an den weissen Haaren sei der ganze Kummer, den ihr das Leben bereitet habe, der Krieg die Vertreibung, die Polen, die Russen. Sie wird mir von der einäugigen Ziege erzählen, die sie damals zurücklassen musste. Emma, wird sie nun mich fragen, wie konnte ich denn nur meine einzige Ziege zurücklassen? Und ich werde in traurige dunkle Augen blicken und sprechen, jetzt verstehe ich alles, Grossmutter, deine Haare sind vom ganzen Kummer so weiss geworden. Dann endlich wird Grossmutter mich zu Juri gehen lassen. Aber ich konnte plötzlich auch nicht mehr sprechen, ich konnte ihr gar keine Frage mehr stellen, meine Lippen waren fest verschlossen und mein Körper schwer wie Blei. Ich hörte das Ticken der Uhr. Grossmutter schloss ihre Augen. Jetzt schlief sie in ihrem Korbsessel ein. Ich musste pinkeln, gleich werde ich mich einpinkeln, es wird eine Pfütze auf dem Fussboden geben, und das ausgerechnet in der Küche. Kannst du nicht rechtzeitig aufs Klo gehen?, wird Mutter schimpfen. Emma, du bist doch schon sechs Jahre alt, ein so grosses Mädchen  kann doch seinen Mund aufmachen und sagen, dass es aufs Klo muss. Steh auf, Emma! Das war jetzt Juris Stimme. Steh endlich auf! Juri zerrte an meinem Arm. Ich schrie, du tust mir weh. Ich hatte verschlafen.

 

Schreib schnell deinen Traum auf, sagte Juri, schreib alles auf, was dir dazu einfällt, alles, was dir durch den Kopf geht. Er redete auf mich ein, das Unbewusste, Emma, das Unbewusste, ich aber rannte zum Klo, liess, während ich pinkelte, die Tür einen Spalt weit offen stehen, rief, mir fällt ein, dass mein grosser Bruder ein verdammter Klugscheisser ist, mach Kaffee, Juri, und lass mich mit Freud in Ruhe, giess die Blumen auf dem Fensterbrett, zieh den Stecker vom Fernseher raus, schreib einen Zettel für Sonja, schreib ihr, das Futter für Nudel steht in der Kammer. Ich wusch meine Hände und mein Gesicht, ging zurück in die Küche und sprach, du musst das Bett nicht abziehen, räum die Bettdecke in die Truhe, Juri, du kannst sie ja nochmal nehmen, wenn wir zurückkommen. Du schläfst doch noch eine Nacht hier auf dem Sofa in der Küche, oder?, fragte ich ihn, nachdem ich einen Schluck Kaffee getrunken hatte. Wann willst du zu deiner Couch  zurückkehren?, der Messias aus Wien wartet sicher auf dich. Freud hat es nicht eilig, antwortete Juri und grinste, ich habe ja Urlaub, sagte er, und dabei kraulte er Nudel, die auf seinem Schoss lag, das braune Fell. Meine Katze ist eine Diva, erklärte ich, sie mag es nicht, wenn man sie verlässt, sie wird mich links liegen lassen, wenn ich zurückkomme, aber wenn ich sie dann ebenfalls eine Weile ignoriere, gibt sie nach und holt sich wieder ihre Streicheleinheiten. Du und Sonja, fragte Juri, seid ihr? Ja, sagte ich, wir sind zusammen.

 

Als wir aus dem Haus traten, standen Vater und Mutter bereits am Auto. Mutter hielt eine Plastiktüte vom Aldi in der Hand, bis an den Rand mit Essen gefüllt. Nimm, sagte sie zu Juri, wir wissen ja nicht, ob wir unterwegs was kriegen. Vater aber zeigte auf das Nachbarhaus und sprach, bevor ich ins Auto steige, will ich euch noch eins klar machen, der, dem dieses Haus dort gehört, der ist ein zweihundertprozentiger Kommunist und nicht nur das, der war, darauf könnt ihr Gift nehmen, auch bei Horch und Guck, sonst würde der nicht in dieser Villa leben. Der und seine Genossen sind schuld daran, dass wir nie laut über die Vertreibung sprechen durften. Vertrieben wurden wir und keine einzige Ost-Mark haben wir als Entschädigung bekommen, während die im Westen … Vater schnappte nach Luft, dann rief er, wir wohnen in verkommenen Häusern zur Miete und der …  Nun hör schon auf, sagte Mutter und schob Vater zum Auto hin. Als Vater neben Mutter auf dem Rücksitz sass, sprach er, in ein paar Stunden werdet ihr alles sehen, ihr werdet sehen, was wir verloren haben.

 

Keine sechs Monate nach dem Mauerfall fuhren wir in Juris gebrauchtem VW nach Kotzemeuschel. Nein, Mutter, Juri und ich fuhren nach Chociemyśl, Vater fuhr nach Kutzemeuschel. Ich bin in Kutzemeuschel geboren und nicht in Chociemyśl, betonte Vater, bevor er in ein Wurstbrot biss, das Mutter für die Reise geschmiert hatte. Mutter zischte ihn an, du hast doch gerade erst gefrühstückt, lass das Brot liegen, das ist für später. Ausserdem habe Hitler aus Kotzemeuschel Dammfeld gemacht, auch wenn es Hitler gewesen sei, Dammfeld höre sich einfach besser an. Man sagt auch nicht Kotzemeuschel, belehrte Vater sie wütend, man sagt Kutzemeuschel, wir haben unser Dorf immer Kutzemeuschel genannt, das ist niederschlesisch, doch davon verstehst du nichts. Mir ist warm, jammerte Mutter und kurbelte die Scheibe neben ihrem Sitz runter. Wie lange brauchen wir bis dorthin?, wollte sie wissen. Drei, vier Stunden, antwortete Vater, und wenn wir länger brauchen, ist es auch egal, wir sind ja nicht auf der Flucht. Sag doch nicht so was!, schimpfte Mutter. Wir sind ja nicht geflohen, wir wurden vertrieben, fuhr Vater sie an. Vater wollte noch etwas sagen, vielleicht, dass Mutters Familie vor den Russen geflohen war und Nazis auch gute Gründe hatten zu fliehen, aber er verschluckte sich an einem Brotkrümel und fing an zu husten.

 

Zgorzelec, Strzelno, Bolesławiec, ich breche mir die Zunge, beklagte ich mich bei Juri und legte den Atlas beiseite, fahren wir erst einmal bis Görlitz und dann sehen wir weiter. Nach Bolesławiec machten wir eine Pause am Strassenrand, assen von Mutters Vorrat, fuhren weiter. Juri legte eine Kassette mit Orgelmusik ein, Bach, sagte er, der beruhigt die Nerven. Noch vor Legnica fing Vater an zu schnarchen, auch Mutter schlief ein. Lass uns reden, sagte Juri, die beiden hören uns ja nicht, Emma, Neid ist keine Lösung. Das stimmt, antwortete ich, auch da, wo wir jetzt leben, ist es schön, das ewige Vergleichen bringt nichts, auch bei uns gibt es wunderbare Birnen, hast du Sonjas Birnen schon mal probiert? Clapps Liebling, Williams, selbst der Katzenkopf wächst in ihrer Gärtnerei, eine Sorte besser als die andere. Juri unterbrach mich. Wie kommst du auf Birnen, Emma?, ich wollte … Mein Nachbar, fiel ich ihm ins Wort, mein Nachbar ist zwar ein politischer Vollidiot, er war auch bei der Stasi, Vater hat für so was einen guten Riecher, aber es gibt keinen Grund, meinem Nachbarn das Haus nicht zu gönnen, soll er es doch haben. Er hat gerade erst seinen Job verloren und wer stellt jetzt einen ein, der jahrelang für die Staatssicherheit gearbeitet hat, der Mann weiss im Moment nicht, wie es für ihn weiter gehen soll, warum ihm die alte Villa streitig machen, die ja in Wirklichkeit eine Bruchbude ist, vierzig Jahre nichts gemacht, das Dach kaputt, die Fenster ein Jammer, doch der Mann braucht etwas, woran er sich festhalten kann, eine Religion hat er ja nicht. Ich musste lachen, denn ich stellte mir vor, wie der dicke Mittfünziger sich an den Fensterläden, die keinen Sturm mehr überstehen würden, festzuhalten versucht und mit dem morschen Holz aus dem Hochparterre in den Rhododendron kracht.

 

Nein, sagte Juri gereizt, es geht mir auch nicht um deinen  Nachbarn, sondern um dich, Emma, aber in diesem Moment nahm uns ein Lada die Vorfahrt, Juri fluchte, was für ein Arsch!, dann schaltete er das Licht an, es war kurz vor zwei, der Himmel war grau, es sah nach Regen aus.

Wir hörten wieder Bach, Juri sah auf die Strasse, ich sah in die Landschaft. Rechts und links der Strasse Kirschbäume, kurz vor der Blüte, hier und da ein paar neue Häuser, aber viel mehr Häuser, von denen der Putz fiel, das waren mal deutsche Häuser, dachte ich. Hinter den Häusern Felder, es war nicht zu erkennen, was darauf wuchs. Ab und zu eine Fabrik, qualmende Schornsteine. Endlich ein Schild, Lubin, noch vierzig Kilometer bis Glogau, sagte ich, von dort aus ist es ein Katzensprung und ich begann aufzuzählen, was ich über  Chociemyśl gelesen hatte. Bedeutende Bauerngemeinde am Grossen Landgraben, Bahnstation, Post, eine Windmühle, eine Sägemühle, siebzehn Bauerngüter, evangelische und katholische Kirche im Nachbardorf, Schule am Ort. Nicht zu vergessen die Molkerei, die Pferdeschwämme, den Glockenturm, an dem sich die Dorfjugend traf. Kotzemeuschel Neunzehnhundertdreissig. Emma Abel, Eins, setzen. Würde Vater nicht schlafen, würde er keinesfalls sagen, toll!, sondern du hast vergessen zu erwähnen, wie viel Hektar Land zu  Kutzemeuschel gehörten, es waren genau eintausenddreihundertvierzig Hektar, nicht mehr und nicht weniger.

 

Auch Juri sagte nicht, Emma, toll, sondern Emma, du bist neidisch auf mich, hör auf mit deinen  Sticheleien. Ich fauchte, du bist geworden, was Vater, Mutter und Grossmutter wollten, Arzt. Und nun heilst du auch noch die Seelen der Leute, du schaffst sogar das, was Grossmutter mit ihrem Rosenkranz und all ihren Gebeten nicht hinbekam. Unser Juri wird einmal Arzt!, äffte ich sie nach. Juri, Juri, Juri. Für mich aber haben sie einen anderen Plan aus ihrem Schlesien mitgebracht. Heiraten, Kinder kriegen, Mehl in die Schüssel schütten, Hefe in die Mitte, einen Löffel Zucker, lauwarmes Wasser dazu, abwarten, bis die Hefe aufgeht, Teig kneten, ruhen lassen, Mehl, Zucker, Butter für die Streussel, Sträselkucha backen und sonst nichts. Juri sagte, du bist doch Krankenschwester, das ist nicht Nichts. Ja, Krankenschwester, das haben sie durchgehen lassen, warf ich ihm an den Kopf. Ich bin Krankenschwester, eine, die kein Blut sehen kann, was soll ich in diesem Beruf?

 

In der Sonnenblende befand sich ein Spiegel, ich sah mir in die Augen und dachte, das ist also Emma Abel mit dem bösen Blick. Bloss nicht weinen. Ich kramte in der Schminktasche, die Sonja mir einen Tag zuvor geschenkt hatte. Meine Schöne, hatte sie gesagt, da ist alles drin, was du brauchst, es reicht für diese Fahrt und für alle anderen Reisen in die Welt. Ich zog die Lidstriche nach, malte mit einem roten Stift meine Lippen an und warf einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne kroch gerade hinter den Wolken hervor, sie war blass und lächelte zu allem.

 

Auch du kannst noch studieren, warf Juri ein, du bist noch nicht einmal dreissig, jetzt ist doch alles möglich. Jetzt habe ich meinen Buchladen, schnauzte ich ihn an, die Leute rennen mir gerade die Bude ein, es gibt ja keine verbotenen Bücher mehr, du kannst alles bei mir kaufen, Solschenizyn, Nietzsche, Pornos, auch Freud ist ohne Probleme zu haben, wenn du willst, kann ich dir eine Gesamtausgabe besorgen.

 

Juri nahm seine Brille ab, rieb die Gläser an seinem Pullover, kniff die Augen zusammen und schluckte seinen Ärger mit der Spucke herunter. Vor uns die Rücklichter eines LKWs, der keine fünfzig fuhr, ich stöhnte, nimmt das denn kein Ende. Wir sind zu laut, sagte ich. Vater war wach geworden, fing wieder an zu husten, noch so ein Krümel, krächzte er, dann steckte er seinen Kopf zwischen unsere Sitze und fragte, worüber habt ihr gestritten? Alles gut, sagte ich, alles gut. Vater rüttelte an Mutter und hielt ihr die Landkarte vor die Nase, sieh mal, wir sind schon hier.

 

Es war kurz vor vier, als wir in Chociemyśl ankamen. Zuerst nach Hause, dann ins Hotel nach Glogau, sagte Vater. Du bist gut gefahren, mein Junge, gut gemacht. Er tätschelte Juris Arm. Vaters Stimme zitterte, als er ihm den Weg wies. Am Glockenturm links, dann rechts, ein paar Meter gerade aus, da müsste es sein. Wir hatten einen Marienschrein am Zaun, sagte Vater. Mutter schrie auf, da ist er, der Schrein! Es gab keine Klingel am Gartentor, aber die hatten wir ja damals auch nicht, meinte Vater, wozu auch? Alles fast so, wie es war, sprach er leise vor sich hin.

 

Wir gingen auf ein geducktes Haus zu. Die Fenster matte Augen, die Wände wunde Haut, das Dach verlorene Hoffnung, der Schornstein gebrochener Stolz. Platz für zwei, doch sechs Menschen und eine Ziege wohnten einst hier. In der Tür eine Frau, ohne Alter, dunkel gekleidet, sie sagte Guten Tag, ich Post bekommen, ich warten auf Sie. Dzień dobry, sprach Vater. Mutter rief hastig dzięki, dzięki. Vater und Juri mussten ihre Köpfe einziehen, um durch die Tür ins Haus zu kommen, sie mussten auch in der Stube ihre Köpfe einziehen, um nicht an die Decke zu stossen. Guter Mann, bitte setzen, sagte die Frau. Oder andere Kammern sehen? Vater sagte, jetzt nicht, lieber morgen, wenn mehr Licht ist, jutro, jutro.

 

Die Frau schenkte uns Kaffee ein und schob uns Kekse hin. Juri nahm einen Keks, Vater sprach, Mutter sprach, die Frau sprach, sie sprachen mit Händen und Füssen, es war laut in der engen Stube, sehr laut, aber ich verstand nicht mehr, was sie sagten, ab und zu nur drang ein Dobrze zu mir durch. Hier also hat Grossmutter gesessen und aus dem winzigen Fenster gesehen. Von hier aus hat Grossmutter ihre Ziege beobachtet, die Einäugige, die sie am Birnbaum festgebunden hatte. Es gab keinen Birnbaum mehr. Ich sah ein paar Hühner auf der Wiese herumlaufen. An der Pumpe sass eine schwarze Katze. Sie starrte aufs Gras, wartete auf ihr Opfer.

Meine Augen wanderten zur Stubendecke, an der ein Klebestreifen mit toten Fliegen baumelte, zu den ausgetretenen Dielen, zur buckligen geweissten Wand mit dem Kreuz, an dem der Auferstandene hing, er hing schon damals dort, dachte ich, er hat schon damals zugesehen. Ich schwieg und wartete auf den Augenblick, in dem ich zu Juri sagen würde, der Neid ist nur eine Krücke, mit der jemand nach dem Schatten wirft, der ihn sein Leben lang verfolgt. Wie kann man etwas verlieren, das man gar nicht besass? Das hier ist kein Haus, das ist eine Kate, hier lebte schon damals die Armut, hier wohnt schon immer die Scham.