August 2021

Systemfehler

von Annegret Mühl
Jahresthema: Die Grossen Zwölf
Monatsthema: Sanftmut

Sie hat Angst vor mir. Starrer Blick, versteifte Muskulatur. Anstatt mich und meine 1,93 Körpergrösse zu ignorieren, kauert sie sich zusammen, presst ihre Würde in die Schablone potentieller Opfer. Es ist nach 23 Uhr. Der neonbeleuchtete Waschsalon ist ebenso trostlos wie die abgeschiedene Seitenstrasse. Sie weiss, dass ich weiss, wie ungünstig sie sitzt. Der Platz neben dem Kaffeeautomaten ist eine Sackgasse. Jeder, der hereinkommt, blockiert automatisch den einzigen Ausweg. Die Arme vors Dekolleté gepresst, krampfen sich schlanke Finger weissknöchrig um den Schlüsselbund. Hastige, flache Atemzüge scheitern daran, hinter der Alltagsmaske Gelassenheit zu mimen.

«Ruhig einatmen, bis sieben zählen, langsam ausatmen», höre ich mich sagen. «Keine Furcht zeigen, junge Frau. Es gibt Typen, die das antörnt.»

«Sie klingen zynisch.»

«Und Sie ein bisschen naiv.»

 

Warum kann ich nicht einfach die Klappe halten? Das ist kein Präventionskurs. Münzen in den Schlitz, muffige Wäsche in die Maschine. Und wieder herausnehmen. Erstmal Taschen entleeren. Schliesslich hat Camillos mitgewaschener GRW Hefter daheim die Waschmaschine geschrottet. GRW steht für Gemeinschaftskunde, Recht und Wirtschaft. Camillo steht für Contra. In meiner alten Hose finde ich meinen Notizblock Wir bleiben mehr – Stark gegen Rechts zusammen mit dem verdächtigen, auf 18 endenden Kennzeichen. Eins und acht, der erste und achte Buchstabe des Alphabets, A und H, Adolf Hitler. Aus Camillos Jeans zerre ich ein Papiertaschentuch, Zigarettenpapier und einen bekritzelten Zettel: Dienstag. HJ-Treffen. Das ist es also. Ich atme ein. Zähle bis sieben. Atme aus. Die Horde Minderjähriger mit der eigenwilligen Geschichtsinterpretation, dem Hang zu Verschwörungstheorien und Schnellfeuerwaffen hat sich erst kürzlich in unserem Stadtteil formiert. «Netter Arbeitsweg für dich», meinte unser V-Mann bei den Identitären. Ist mein Sohn…? Error. Das Display der Waschmaschine flackert. Fehler im System.

Ich trete gegen den Waschautomaten. Ein wohltuender Schmerz flutet meinen Knöchel. Wann genau habe ich Camillo verloren? Error. Mit lautem Geklimper werden meine Münzen freigegeben. Keine Frage, ich versprühe Autorität. Manchmal zu viel, wie Joana findet. Ausserdem nervt sie, dass ich bei butterfly nicht an ein Insekt denke. Sondern an ein Faltmesser.

«Sie hatten nur das Waschpulver vergessen», sagt die Mitwäscherin im kurzen Rock. Trotz meines Gewaltausbruchs hat sich ihre Haltung entspannt. Vielleicht liegt es an meiner Stimme. Der Stimme eines Polizisten.

«Ich habe Sie erst gar nicht erkannt», meint sie und zieht ihre Maske runter bis unters Kinn.

«Sie kennen mich?», frage ich die namenlose Schönheit. So ist das. Die Sprache der Strasse ist mir vertraut, die Gesichter der Nachbarn sind es nicht. Unter glänzenden Augen tanzt die geschwungene Linie ihrer Lippen amüsiert auf und ab, um dann wieder unter dem Stoff zu verschwinden. Ich liebe es, wenn sich Situationen rasant verändern: Eine Gefährdete. Eine Corona-Gefährderin. Eine Gefährtin. Alles ist möglich. Einen Waschgang lang will ich nur an den Tanz dieser Lippen denken. Nicht an Camillo. Nicht an mein Versagen. Solche Lippen kann man küssen. Ein weiterer Fehler im System. Ich bin verheiratet. Wasser flutet meine Wäsche, dann beginnt sich die Maschine zu drehen. Im gleichen Takt wie die bereits laufende. Unter meinem schwarzen Schlauchschal lächle ich zurück.

«Darf ich?» Die verwaisten Holzbänke um uns und jeglichen Mindestabstand ignorierend lande ich neben ihr. Auf dem Platz ohne Fluchtweg.

Sie blickt auf meine Finger und wispert: «Ganz schön spät zum Wäschewaschen.»

Vor 15 Jahren haben Joana und ich uns entschlossen, unsere Eheringe an den Ohren zu tragen. Meine Hände waren mir nicht heilig genug.

«Für manche Dinge ist es nie zu spät», entgegne ich. Wie lange habe ich dieses Spiel nicht mehr gespielt? Um uns Rauschen, Plätschern, Klacken, Quietschen. Die mir unbekannte Bekannte sieht mir in die Augen, während sie sich eine Locke um den Finger zwirbelt. Ein Hauch ihres Parfüms streift mich. Mandarine auf Tabak.

Eine der ersten Erinnerungen, die ich an Joana habe, ist der Duft ihrer Haare. Das Aroma bittersüsser Zitrusfrüchte, das ihr waches Journalistinnengesicht mit der Stupsnase umgab. Mögen Sie Shakespeare? Wie ein Vorhang aus Samt schirmte uns Joanas Mähne vor den anderen Besuchern des Theatercafés ab, als sich unsere Lippen das erste Mal trafen. «Ein ganz weiches Schutzschild» habe ich damals gedacht, ohne zu ahnen, wie hart Joana sein kann. Das Mandarinenmädchen an meiner Seite rückt näher, lässt das Bild von Joana verblassen. Vielleicht ist Joanas Shampoo eine dieser Erinnerungen, die plötzlich aus dem Nichts aufploppen, ein letztes Mal, um dann für immer zu verschwinden. Ich will das nicht. «Sie erinnern mich an meine Frau.»

Die Schönheit neben mir hebt die Augenbrauen. «Danke. Wissen Sie, was ich manchmal denke? Wenn ich mit 40 noch so aussehe wie Joana Braun es tut, dann ist alles gut!»

Nichts ist gut.

«Wie verträgt sich der Nachname Braun eigentlich mit der Arbeit bei einem Spezialkommando gegen Neonazis?», fragt sie und schlägt die Beine übereinander. Einer ihrer Pumps tippt gegen meine Stahlkappenboots.

«Wer sagt etwas von einem Spezialkommando?», erwidere ich und schubse zurück.

«Der Schulklatsch. Ich bin die Referendarin der 10. Klasse.»

Ich hasse es, wenn sich Situationen rasant verändern. Ihr Blick durchbohrt mich. Keine noch so brachiale Brustmuskulatur ist geeignet, mein Scheitern zu verbergen. Sie kennt Camillo. Vermutlich besser als ich.

«Wie geht es Ihrer Frau in Brüssel?»

«Gut. Natürlich.»

Die Nachricht von Joanas vierwöchiger Auszeit hat offensichtlich die Runde gemacht. «Wissen Sie», meint sie, «ich bin ja noch nicht lange im pädagogischen Geschäft unterwegs. Aber manchmal glaube ich, Kinder einflussreicher Eltern haben es besonders schwer.»

«Bitte?»

«Es fällt diesen Kindern oft schwerer, ihren eigenen Weg zu finden. Sie sollten Camillo Zeit lassen.»

«Aha.»

«Wenn wir wahren Frieden in der Welt erlangen wollen, müssen wir bei den Kindern anfangen.»

«Was ist das? Ihr pädagogisches Manifest?»

«Mahatma Gandhi. Sie sollten ihm vertrauen.»

«Gandhi?»

«Camillo.»

Ich entdecke mein Spiegelbild in ihren grünen Augen. Die Umrisse eines Mannes, der ganze Drogenringe sprengt, aber nicht dafür sorgen kann, dass ein 15-Jähriger regelmässig zur Schule geht.

«Der Junge braucht mehr Grenzen, wenn Sie mich fragen», knurre ich, «man demoliert keine Zigarettenautomaten!»

«Yep. Und keine Waschautomaten …» UND MAN BANDELT NICHT MIT RECHTSEXTREMEN AN!, schreit es in mir. Ist das Camillos Rache? Es könnte sein Ende sein. Und meins.

«Camillo ist aktiv», sagt sie. «Er engagiert sich.»

«Ach was! Hierbei vielleicht?», zische ich und reiche ihr den HJ-Zettel. Sie überfliegt die krakelige Handschrift meines Sohnes. Unsere Blicke treffen sich.

«Ja, zum Beispiel. HJ steht für Halbjahr. Oder haben Sie dabei an was anderes gedacht?»

Fehler im System. Ich stehe auf und reiche dem Mandarinenmädchen mein Smartphone. «Könnten Sie bitte ein Foto von mir und der Waschmaschine machen? Ich würde es gern meiner Frau schicken.»

«Aber natürlich! Patriot im Grosseinsatz gegen den Schmutz, das muss Ihre Frau begeistern!»

«Sie klingen zynisch.»

«Und Sie ein kleines bisschen naiv!»