September 2016

Waldsommer

von Merle Müller-Knapp
Jahresthema: Musikstück
Monatsthema: Them Fleurs, «Never Mind» von dem ersten Album der Band, welches 2012 erschienen ist.

Die Luft ist grau wie altes Papier. Das Kind hat See in den Haaren und Kälte auf den Armen. Es tritt fest in die Pedale.

Hinter dem Wald liegt die Hitze des Nachmittags weit zurück. Flocken aus Nacht treiben durch den Himmel.

Das Kind duscht seine Haut, bis die Stimme der Mutter zwischen den warmen Tropfen steht. Da weiss das Kind, dass es jetzt gleich essen wird und auch, dass das Tageslicht ganz vorüber ist. Die Mutter nämlich arbeitet so viel, dass ihr vom Tag bloss die Nacht zum Leben bleibt. Weil nachts aber geschlafen wird, bleibt fast nichts, zumindest unter der Woche.

An freien Tagen macht die Mutter dann oft selbst den Tag zur Nacht. Sie sagt: Nur im Schlaf fühle ich mich ganz.

Das Kind ist eigentlich zu jung fürs Alleinsein an Sommertagen. Zusammensein aber kostet Geld, und weil Geld fehlt, muss das Kind dieses Jahr älter sein als eigentlich.

Seitdem das so ist, wartet das Kind auf die Ankunft der Nacht.

Zwischen Essen und Schlaf drückt es sich in die Nähe der Mutter, drückt gegen den Bauch und das Weiche im Arm, so lange, bis die Mutter sagt: Jetzt reicht es.

Dann setzt das Kind sich aufrecht hin.

Nachts sickert der Atem der Mutter von hinter der Tür bis unter das Bett des Kindes und das Kind schläft fest. Am Morgen sind die Nähe und die Mutter fort.

Das Kind isst Müsli, das Kind spült seinen Teller, das Kind gibt dem Kaninchen einen Kuss ins Fell, einen vorsichtigen Kuss, denn das Kaninchen ist noch jung und bricht sich schnell die Knochen.

Die Uniform des Sommers trägt sich leicht: Kleid und Schleife, Sandalen an den Füssen. Der Tag riecht noch frisch.

Auf dem Rücken des Briefkastens findet das Kind an diesem Morgen einen See aus Nachtwasser, darin ein Käfer, strampelt um sein Leben. Das Kind zählt sechs Beine und rettet den Ertrinkenden mit einem Blatt aus Holunder.

Viele Käfer gehen baden, ohne schwimmen zu können.

Vorne auf der Tageszeitung ist ein Bild: kaputte Holzbretter stehen und liegen in einer grauen Wüste. Das Kind hält das Papier ganz nah an sein Gesicht und kneift die Augen zu Schlitzen: es sieht jetzt einzelne Punkte. Das Bild bleibt tot.

Manchmal beginnen besondere Tage so, als wären sie völlig normal. Es kommt sogar vor, dass man einen besonderen Tag erst viel, viel später erkennt.

Der Staudamm ist hoch und so dicht, dass der Bach ein Becken wird.

Auf dem Heimweg fährt das Kind eine plötzliche Kurve, fährt bis dahin, wo der Wald zu Ende geht. Über dem Gelb der Felder steht eine Wolke. Dunkle Bretter stecken in ihrem Bauch, andere liegen daneben.

Später sagt die Mutter: Sogar der Stall ist abgebrannt. Das Kind fragt: Was ist mit den Kühen, und die Mutter sagt erst nichts und dann sagt sie: Die sind alle tot.

Die Menschen waren nämlich auch fast tot, als die Feuerwehr den Hof erreichte, und da gab es keine Zeit zum Retten der Tiere.

Das Kind drückt seinen Kopf in die Armbeuge der Mutter.

Augen von Kühen sind schöner als Augen von Menschen.

Brand-Stopp heisst ihr Spiel. Der Name erklärt fast alles.

Das Kind und Louise haben die Regeln ausgedacht und laut gesagt: Bis 20 zählen, sobald es Flammen gibt. Zuerst löscht nur die, die nicht das Feuerzeug gehalten hat. Nochmal bis zehn zählen, dann darf auch die andere helfen.

Das Kind und Louise sassen hinter der Bretterwand. Es ist wichtig, das Spiel in Windstille und Sand zu spielen, hatte Louise gesagt, und hinter der Bretterwand gab es beides.

Die Flammen waren zuerst klein und still. Louise streute zwei Hände trockene Blätter und dann zählten sie. Unter der Flasche des Kindes verschrumpelten die Feuerarme schnell. Louise spuckte auf das letzte bisschen Rot.

Der Rauch hatte ihre Lungen zerkratzt und zwischen den Härchen seiner Unterarme fand das Kind Asche in kleinen Stücken.

Sie fuhren an den See.