April 2022

Auswege

von Monika Volaucnik
Jahresthema: 1 Ort – 1 Gegenstand – 1 Genre
Monatsthema: Mond – Schirm – Auktoriale Erzählung

In Prag sind viele Gassen alt. Die Stadtturmuhr schlägt zehn Mal, der warme Wind braust um die Ecke. Eine Frau nähert sich, ihre Absätze klappern auf dem Kopfsteinpflaster. Der Mond scheint auf die Dächer und leckt über ihre Haut, und als sie erschrocken den Kopf hebt, nutzt er die Gunst der Sekunde und küsst sie auf den Mund, küsst gleich noch frech ihre Augen, die Stirn, die Wangen, ehe sie den Arm hochreisst und das Gesicht bedeckt. Sie muss unter dem Ellbogen hervorschielen, um den Weg zu finden.

Dort, wo der Platz sich zur Gasse verengt, laufen die Regenrohre von den Häusern. An einem dieser kalten Zeugen pappt ein Zettel mit der Aufschrift: «Betreten verboten.» Sie geht achtlos daran vorbei und macht, was nicht erlaubt ist, öffnet die schwere hölzerne Haustür gleich nebenan. Sie tritt in den schmalen Gang. Dorthin kann er ihr nicht folgen, dort fühlt sie sich sicher und atmet auf.

Er schaut ihr enttäuscht nach, tröstet sich aber mit dem Gedanken, dass sie ihm nicht entkommt.

Das Stiegenhaus liegt im Halbdunkel, erhellt nur vom Fenster und dem Viereck aus Licht auf dem Steinboden. Sie macht einen Bogen um diesen bleichen, wie mit dem Lineal gezogenen Fleck und möchte sich tiefer in die Dunkelheit zurückziehen, doch ihre Hand stösst an ein Hindernis. Mit einer kalten Brise im Nacken schaut sie auf. Vor ihr steht ein Mann. Er ist gross und hager, sieht krank aus mit dem bleichen Gesicht über einem dunkelgrauen Körper, der mit der Umgebung verschmilzt. Im selben Moment weicht auch er aus, nicht minder erschrocken. Wie ein Geist ist sie hier aufgetaucht, wie der Geist, von dem er sich bedroht fühlt. Er wohnt hier, sollte eigentlich im Warmen sitzen, friert aber im Gang. Durch die dünnen Socken dringt eiskalter Frost und lässt ihn im dunklen T-Shirt schaudern. Der Pullover hängt in der Wohnung über dem Stuhl. Er kann aber gerade unmöglich hinein, fühlt sich nur elend im Magen. Immer wieder hört er den Satz im Kopf widerhallen: «Einer wie unsereins träumt nicht, steht mitten im Leben.» Nur dass er gerade danebensteht, neben dem Leben. Zumindest neben dem Leben, das sein Vater für ihn ausgesucht hat. Er hört ihn durch die Tür schimpfen, wenn er genau hinhört, hört ihn herumgehen und einen Stuhl verrücken. Hört ihn die Türschnallen bewegen, die dort drin einfach nur Türschnallen sind, nichts weiter. Keine Türöffner in eine bunte Welt. Drinnen, wo Fenster das Glas im Rahmen sind, das ein Loch verschliesst.

Weil die Frau immer noch vor ihm steht, lehnt er sich ganz an die Wand zurück und holt mit der Hand aus: «Bitte sehr.» Er will nur den Weg freigeben, denn offensichtlich ist ihr Ziel die Treppe, doch sie tut keinen Schritt, mustert ihn stattdessen scheu und schaut hastig zum Fenster zurück. Wer ist gefährlicher, denkt sie, Mann oder Mond? Das muss sie für sich herausfinden, ehe ihr ein Leid geschieht. Eine Fehleinschätzung darf sie sich nicht leisten. Weil sie nur 1,52 Zentimeter misst, sind alle Mitmenschen stärker als sie, Männer wie Monde gefährlich.

«Ich will nicht nach oben», sagt sie, «nur nicht nach draussen.»

Er hat den Kopf mit anderem voll, hört kaum zu und wartet.

«Es ist, weil der Mond scheint,» erklärt sie. «In einem Haus bin ich sicher. Also vor dem Mond.»

«Ach ja.»

«Ja. Der ist…» Sie verstummt, zupft am Lederriemen ihrer Handtasche. Weil er wartet, glaubt sie, sich genauer erklären zu müssen, auch wenn ihr davor graut. «Es ist…. Also er macht…. – ich mag ihn nicht.» Trotzig sieht sie ihn an, fordert stumm, er möge sich mit dieser dürftigen Erklärung zufriedengeben. Er seinerseits hat den Vater einen Moment lang komplett vergessen und folgt ihrem Blick zum hellen Viereck aus Glas. «Er stellt mir nach», flüstert sie. «Und grapscht.»

Er kann sie kaum hören, das Gehörte aber grundsätzlich nachvollziehen. Wer will schon den Mond an sich heranlassen. Vorsichtig nickt er. Der Mond also als Übeltäter.

«Und Sie, wovor flüchten Sie?»

Um seine Mundwinkel zuckt es. Ein Lächeln erlaubt er sich nicht, zu ernst ist die Lage, seine Stimmung zu gedrückt. «Vor meinem Vater.»

«Ist er da drin?» Sie dreht den Kopf zur Tür, neben der er lehnt. Er nickt.
Sie nickt auch, als kennte sie seinen Vater.

«Ich soll weiter als Automechaniker arbeiten, mag aber nicht mehr. Autos haben mich nie interessiert, ich bin kein Geschwindigkeitsmensch, vielmehr langsam unterwegs.»

«Ach. Und das Schild auf der Regenrinne, wozu dient das?»

«Es ist für die Mäuse, für die, die lesen können. Sie sollen nicht hier herein, sollen ihre Nester woanders bauen. Meine Katzen jagen sie.»

«Die Katzen. Sind das dieselben, die den Mond anheulen?»

«Sie singen dem Mond was vor. Wie kann ich Ihnen helfen?»

«Gar nicht. Ihnen kann man vermutlich auch nicht helfen, sie müssen Geld verdienen, schätze ich.»

Sie mutmasst viel und entmutigt ihn ganz. Er hat nur selten Frauen mit so kurzen Haaren gesehen und starrt sie an. Sie merkt, was er ins Visier nimmt: «Männer interessieren den Mond nicht, aber er lässt sich nicht täuschen.»

Wieder zucken seine Mundwinkel. «Man müsste ihn von seinem frechen Tun abhalten.»

«Bis jetzt habe ich kein Mittel gefunden». Verlegen streicht sie über ihre Haarspitzen.

Er möchte dasselbe tun, hält sich aber zurück. «Ein Schirm könnte helfen?»

«Ein Schirm.» Entgeistert blickt sie in seine wachen Augen. «Ein Schirm!»

«Dann kommt er nicht mehr dran.»

Schweigend stehen sie voreinander, schon beginnt sie vorsichtig zu lächeln, das Lächeln wird zum Strahlen, zum Lachen, zum Juchzen. «Ein Schirm!» Plötzlich wieder ernst fragt sie: «Ja, aber woher nehmen.»

Er deutet zur Wohnungstür. «Wir haben genug. Ich könnte einen holen.» Mit schiefgelegtem Kopf lauscht er, fragt sich, ob er es wagen kann, seinem Vater schon gegenüberzutreten, wägt ab, was wichtiger ist, und drückt endlich gegen das schwere Türblatt.

Sie wartet, sieht den Mond hereinblinzeln, erwartungsfroh, doch mit ihr lauschend, hört drinnen keine Stimmen und schon steht der Mann wieder an der Tür, einen grossen bunten Schirm in der Hand. «Er ist bereits schlafen gegangen. Kommen Sie, gehen wir.»

Als sie vor das Haus treten, zieht der Mond sich wütend hinter eine Wolke zurück. Sie haben ihn schon längst vergessen.