Haarspalterei
Wir spielen ein Spiel und sitzen im Garten, wir flechten uns gegenseitig die Haare und bewundern unsere Locken und die Kuhle über dem Schlüsselbein, aus der man trinken könnte. Wir liegen im Gras, die Köpfe so dicht beieinander, dass sich unsere gelösten Strähnen ineinander verknoten, unsere Körper drei lange Strahlen, deren Licht miteinander verschmilzt. Wir werfen Wörter in den Kreis unserer Köpfe und fangen sie auf, darauf bedacht, bloss keins davon fallen zu lassen. Wir spielen mit Namen, meist sind es dieselben, und wägen ab, zu wem sie am besten passen, wir teilen sie auf, nur bei wenigen sind wir uns nicht einig, doch lachen es weg.
Wir flüstern Geheimnisse und lassen die Dinge beim Sprechen entstehen, wir betrachten uns in der anderen und stecken uns in Schubladen, um zu schauen, wohin wir passen in dieser Welt. Wir streiten, nicht zu laut, wir wissen nicht, wie das geht, aber wir wissen, dass nur Platz für eine sein kann, für eine Sensible und eine Kluge und eine Kreative, keine Zweite, was würde das bedeuten. Wir füllen Fragebogen in schnell zerlesenen Zeitschriften aus und studieren die Ergebnisse mit ernsten Gesichtern, wir lesen Horoskope und glauben den Sternen. Wir sind noch zu fremd in dieser Haut, die sich dehnt für Formen, die wir ungläubig ertasten, kaulquappenartig und fremd, wir fragen schliesslich, ob wir es dürfen, anfassen, ungeniert gucken und kichern dabei, erstaunt darüber, wie unser Ähnlichsein verblasst.
Wir machen Fotos, voneinander, miteinander, wir lachen verlegen, verdrehen die Augen und ziehen Grimassen, aber nicht in die Kamera, wir fürchten den Blick und wollen ihn doch. Wir tanzen zu lauter Musik im Garten, beschämt, wenn die Nachbarn gucken und gleichzeitig froh. Wir gehen hoch und schminken uns, malen Farbverläufe auf unsere jungen Lider, ziehen die Kleidung der anderen an, nur um festzustellen, dass sie nicht passt und schlucken die Enttäuschung, bis sie den Magen füllt, denn wir verstehen nicht, dass es ein Und ist und kein Oder und heben uns gegenseitig auf Podeste, die wir auf unserem Rücken tragen.
Wir fahren ins Freibad, lachen über unsere Brände und stehen für Süssigkeiten an, während wir Küsse beobachten, wir sehnen uns nach nichts anderem, doch glauben nicht daran, dass es passiert, ausgerechnet uns. Wir übernachten zu dritt in viel zu schmalen Betten, aneinander gepresst, wir halten uns fest, denn es gibt niemanden, der uns versteht, auch wenn es die Alten behaupten, wir glauben ihnen kein Wort, es kann gar nicht sein, wir sind die Ersten, wir sind die Einzigen.
Wir spielen das Spiel jeden Tag, werden seiner nicht überdrüssig, denn zu dritt gewinnen wir mehr als das wir verlieren, das, was wir nicht verstehen, über uns, über die andere, sammeln wir heimlich, heben den Verlust auf für Tage, die kommen werden. Wir schlafen abends erschöpft ein, unsere Haare lose und frisch gewaschen auf dem Kopfkissen, wir spüren das Ziepen auf unserer Kopfhaut, es ist dasselbe Ziepen, das uns morgens weckt.
Wir spielen das Spiel auch an dem Morgen, an dem wir uns zu vollgepackten Autos begleiten und wir zuerst die eine wegfahren sehen, dann die andere, und nur eine bleibt, um sich in den Garten zu legen und in Zeitschriften zu blättern. Wir spielen das Spiel auch aus der Entfernung, wir versuchen es zumindest, und sitzen in Internetcafés und kühlen Hotellobbys und hören zuhause dem Krächzen des Modems zu, wir verschicken Mails voller Ausrufezeichen und enden mit Schwüren, deren Bedeutung wir selbst nicht ganz verstehen. Die Tage vergehen und die Ausrufezeichen wandern immer öfter an das Ende von Sätzen, die fremde Namen aufzählen, die statt unserer mitspielen, einfach so. Wir lesen und schreiben von Siegen, von denen wir immer geträumt haben, von unerwarteten Bündnissen und Verrat, vom Rausch und von der Liebe, von all dem, was wir teilen wollten, aber nie teilbar war, nur dass wir es nicht wussten, bis jetzt. Und so stehen wir stolz, aber einsam auf unserem Siegertreppchen und schwanken beim Gehen, wenn wir an den Pool oder in den Garten zurückkehren, mit einem schalen Nachgeschmack im Mund. Das Ziepen wird mit den Tagen schwächer, bis es ganz aufhört, nur manchmal fällt es uns ein, dass wir es gespürt haben, damals in diesem Sommer.
Doch irgendwann kommt die Zeit, wo wir wieder ins Auto steigen, wir sind freudig und skeptisch zugleich, wir stellen uns vor, wie wir uns umarmen, der Brustkorb mit Unbenennbarem zum Bersten gefüllt. Wir treffen uns, die Umarmung allerdings verhalten, unsere Stimmen dünn, wir mustern uns und stellen fest, wie braun unsere Haut geworden ist und sommersprossig das Gesicht, wie hell die Locken, die Kuhle noch tiefer, und zwischen uns die Unsicherheit, ob da jemand anderes sitzt, doch unser Lachen klingt fast wie früher, vielleicht rauer, ein wenig geheimnisvoller. Wir erzählen die ganze Nacht von den Spielen, die wir gespielt haben, und freuen uns mehr über die Blicke als über die Siege, denn erst die Blicke machen den Sieg zum Sieg. Wir tasten uns vor und schlafen verschlungen ein, unser Griff nicht mehr so fest, unsere Haare auf dem Kopfkissen, irgendwie schüchtern, berühren sich nicht.
Wir gehen gemeinsam in die Schule und schauen uns um, wir erkennen die Gesichter und Körper kaum wieder, wir versuchen uns die Veränderungen zu merken, doch scheitern daran. Wir wollen uns setzen, aber der Tisch reicht nicht für drei, das hat er noch nie, wir schauen uns an und entscheiden, noch bevor es die Lehrerin tut, wir warten darauf, dass sie uns trennt. Wir schauen den Locken hinterher und entdecken den Riss, der sich durchs Klassenzimmer zieht, fein und nur für uns sichtbar, bis wir erkennen, neben wen sich die Locken setzen. Es ist der Eine, dessen Namen wir den Sommer über im Kreis jongliert haben, unendlich oft abgewägt, zu wem er am besten passt, mit immer demselben Ergebnis, zu allen gleich gut, wir könnten uns ihn teilen, haben wir gesagt und gelacht, keine bereit, ihn abzugeben. Jetzt lachen wir nicht, sondern starren ungläubig und sind wütend, am meisten auf uns selbst, hätten wir uns bloss selbst verstossen, würden wir nun dort sitzen. Wir tauschen Blicke über die Tische hinweg, um uns zu vergewissern, doch statt Ekel spiegelt sich Genugtuung darin.
Der Unterricht beginnt, doch wir können den Lehrern kaum folgen, wir lernen woanders, wir beobachten verstohlene Blicke, wir hören ihr Kichern, selbst das leiseste hallt in unseren Ohren. Wir fragen in den Pausen und hängen an Lippen, die Widerstand leisten, wir bohren unentwegt weiter, denn wir alle leben, wenn Eine von uns lebt, selbst wenn wir ihn nicht teilen, dann zumindest die Erinnerung, so wie immer, das war unser Spiel. Doch für uns ist auf einmal kein Platz mehr, es wird ein Neues gespielt, das nur für zwei reicht, egal, wie sehr wir Busse tun, ein Spiel, dessen Regeln wir nicht verstehen, und so fallen unsere Worte auf den Asphalt und mit ihnen fallen auch wir. Wir linsen aus Augenwinkeln und entdecken Facetten, in der Stille der Nacht heimlich zugelegt, wir ergründen sie, jede neue davon, wir kopieren und passen an, vielleicht ist das der Schlüssel, ein neuer Lidstrich, ein ähnliches Oberteil, um endlich von seinem Blick gestreift zu werden.
Doch er bleibt an denselben Locken hängen, nie geht sein Blick darüber hinaus, bis er sie schliesslich einlädt, sich in den Pausen in seine Ecke zu stellen, während wir bleiben, wo wir sind, entblösst und unsicher, zu zweit lässt sich kein Kreis schliessen. Wir sehen, wie die Locken hüpfen, wenn sich der Kopf dreht, hin und her, von einem Lacher zum nächsten, aber nie zu uns, kein einziges Mal, und wir wissen, dass die Tage gekommen sind für unsere Verluste, wir studieren sie so genau, dass uns danach schlecht ist und wir den Blick in den Spiegel meiden. Aber wir hören nicht auf, wir können nicht anders als Zettel durch die Hände der Klasse zu schieben, die nie ihren Weg zu uns zurückfinden, wir betteln um Audienzen und erhalten sie nur spärlich. Die Locken erzählen dann von Kinofilmen, die wir nicht gesehen haben, von Eis, das wir nicht gegessen haben, von Händen, die sich auf dem Nachhauseweg halten, und Lippen, die sich berühren, erst vorsichtig, dann mutiger, wir sehen, wie Wangen erröten, und erblassen dabei. Wir schlafen nur noch selten in zu schmalen Betten, und wenn, beobachten wir den Körper zwischen uns, wir atmen ihn ein, berühren ihn aber nicht, jetzt, wo ihn andere berühren, wissen wir nicht, ob wir es noch dürfen.
Wir treffen uns zu zweit und essen Eis, das nach nichts schmeckt, und schauen Filme, die uns nicht gefallen, wir halten Händchen, halten aneinander, warm und verzweifelt ist unser Griff, wir reden und sind doch woanders, dort, wohin wir nicht eingeladen werden, vielleicht beim nächsten Mal, versprechen die Locken, wir nicken, unsere Haut gelb und grün von allem, was wir fühlen, aber nicht sollten, denn wir sind doch eins, versprochen. Wir senken die Blicke im Unterricht, unsere Rücken krumm von dem Podest darauf, wir versuchen zu bestrafen und bestrafen uns selbst, denn wir halten es nicht aus, nicht zu gucken, nicht wissen zu wollen. Doch auf dem Nachhauseweg schlendern wir nicht mehr, wir gehen jetzt zügig und legen uns ins Bett und hören Akustikversionen, wir spielen mit unseren Geschwistern und machen Hausaufgaben, wir essen weniger und hoffen, dass auch bald aus unseren Kuhlen getrunken werden kann.
Wir lecken unsere Wunden im Dunkeln, dort, wo nicht einmal wir sie sehen, und flechten uns wieder die Haare, fest ziehen wir an den Strähnen, fester als im Sommer, unsere tränenden Blicke treffen sich im Spiegel, wir sind uns einig, je mehr Tränen, desto lockiger die Haare, doch wir ziehen vergeblich, denn es ist Herbst und wir laufen durch den Regen und sitzen mit nassen Strähnen an unserem Tisch. Und dort zwischen nassen Strähnen erreichen sie uns, Wörter, so leise gezischt, dass wir wissen, dass sie für uns bestimmt sind, Wörter, die sich zu Geheimnissen zusammensetzen und aus dem Kreis unserer Köpfe stammen, im Garten erzählt, als wir noch spielten. Wir rutschen auf unseren Stühlen, kalt und klamm ist die Kleidung an unserer Haut, sie klebt, genau wie die Wörter, die wir zuhause kaum abstreifen können. Wir starren geradeaus und wissen doch, dass sich die Lippen, die zu den Locken gehören, aufeinander pressen, wir spüren den Druck dahinter, noch mehr zu verraten, er trifft uns in Wellen. Wir stellen uns zu neuen Kreisen auf den Schulhof, die sich nicht für uns öffnen, denn das Zischen wird lauter, das Gekicher auch, es folgt und holt uns ein, es wartet bereits, während wir erst ankommen. Wir kichern zurück, lauter als alle anderen, doch wir kichern nicht lang, denn die Wörter kriechen uns unter die Haut und zerbersten die Bläschen in unseren Lungen, wir stehen mit Mündern da, aus denen nichts kommt. Wir ziehen an unseren Haaren, bis sie sich lösen und verstecken die kahlen Stellen unter Mützen und uns in den hintersten Ecken, doch wir hören alles, es schallt über den Graben hinweg, der sich durch die Strassen der Stadt zieht und nicht endet, nicht einmal vor unserer Tür. Und so kriechen wir luftleer und mit wenigem Haar die Gänge entlang, umgeben von Geheimnissen, die einst unsere waren, unsere Hände greifen immer öfter ins Leere statt nacheinander.
Wir können nichts tun ausser zu warten, jede für sich, auf die Locken, auf Blicke und Lippen, die richten und henken. Wir schweigen und hoffen, dass die Zeit vergeht und damit auch wir, doch die Geschichten bleiben, sie blähen sich auf, werden fetter und träger, wir erkennen sie kaum wieder, angereichert mit Erinnerungen, die es nicht gibt. Wir verstehen nicht, woher sie kommen, wir fragen nicht einmal mehr, warum es passiert, doch wir wissen, dass wir alles sind, nur keine Lügner.
Und aus dem Nichts nicken wir uns zu und ohne zu reden und ohne denken und ohne zu fühlen, gehen wir nach der Schule los, wir folgen den Locken, die immer noch wippen, wir springen über den Graben, wir warten und lauern und schnappen sie uns. Wir zerren an ihnen und ziehen sie glatt, wir ziehen sie lang und reissen sie aus, wir sammeln die Büschel und stecken sie ein. Wir kratzen und beissen, wir treten und lachen, wir hören nicht auf, wir hören nicht zu, uns fehlen die Sinne. Wir verlieren uns im Spiel, das keine Gewinner kennt, geblendet vom Spieltrieb, der kein Ende will. Wir werden erst wach, als kein Haar mehr übrig ist, zum Reissen und Sammeln, und laufen nach Hause, in den Händen die andere, unter den Sohlen eine rosa Kruste. Wir zählen die Büschel und teilen sie auf, kein Haar zu viel, wir spalten sie auf, wir streicheln die Locken und flechten sie ein, wir flechten uns Kränze und flechten uns Kronen, wir richten uns auf, unser Rücken so leicht, unser Haar nun so prächtig, wir atmen tief ein und grinsen uns an. Wir hören das Rütteln der Tür und das Klopfen daran, wir lehnen uns dagegen und schütteln die Köpfe, wir flüstern uns zu, wie schön wir doch sind, wir wollen nicht öffnen, selbst als die Strähnen sich lösen. Wir heben sie auf und kauen auf ihnen, schlucken sie runter, wir wollen nicht aufhören, wir wollen noch spielen.