Dezember 2022

Im Wartezimmer des Selbstmitleids

von Romina Stargard
Jahresthema: 1 Ort – 1 Gegenstand – 1 Genre
Monatsthema: Im Wartezimmer – Hormonspirale – Satire

Im Wartezimmer des Selbstmitleids sitze ich täglich bis zu zwölf Stunden. Den Rest des Tages schlafe ich. Die Sigmund Freuds dieser Welt meinen sogar, ich würde mein ganzes Leben verschlafen aus Angst, nichts zu verpassen. Da muss ich energisch widersprechen, denn was sich in meinen eigenen vier Gedankenwänden tagtäglich an markerschütternden Dramen abspielt, übertrifft jede Telenovela. Wenngleich ich nicht leugnen kann, an chronischer Müdigkeit zu leiden. Das ist aber auch kein Wunder, schliesslich beobachte ich angestrengt. Und was ich so alles beobachte, ist schwer preisverdächtig. Wäre Dummheit eine sportliche Disziplin, ich wüsste gar nicht, wo ich all die Trophäen hernehmen sollte. Erst neulich fuhr ich mit der Strassenbahn zur Arbeit. Sie war voll. Sie hielt an jeder Haltestelle. Dort stiegen Menschen ein und aus. Irgendwann, es war eine lange Fahrt, gesellte sich ein Kind von etwa 18 Jahren dazu. Es blieb direkt vor der Tür stehen. Die Strassenbahn war noch immer voll. Sie hielt noch immer an jeder Haltestelle. Die Menschen stiegen dort noch immer ein und aus. Trotz des wiederkehrenden Ablaufs, der offensichtlichen Wiederholungen, schien das Mitfahren dem Kind kognitive Höchstleistungen abzuverlangen (für die Eltern sicher beruhigend, das zumindest die motorischen Fähigkeiten einwandfrei funktionierten, so flink wie seine Finger über das Display des Smartphones wischten). Endlich war meine Haltestelle in Sicht. Die Strassenbahn kam zum Stehen. Ich wollte aussteigen. Ich konnte nicht. Das Kind stand noch immer wie festgetackert vor der Tür. Wenn schon nicht primitive Logik, dann hätte doch wenigstens Beobachtung zu einer der Situation angemessenen Handlung führen können. Fehlanzeige (scheinbar nicht auf dem Display, denn das desorientierte Kind freute sich, als hätten ihm die Drei Heiligen Könige höchstpersönlich eine Botschaft per WhatsApp hinterlassen). Es half nichts, ich musste mich zu erkennen geben: «Entschuldigung, aber ich möchte hier aussteigen.» Das begriffsstutzige Kind schaute mich wortlos an. Hatte ich plötzlich Ähnlichkeit mit Caspar, Melchior oder Balthasar? Die Leute hinter mir wurden ungeduldig, schimpften, drängelten, fluchten. Das Kind schien just in diesem Moment eine Erleuchtung zu haben und machte Platz. Vielleicht fiel ihm auch nur ein, dass es neben seinen beiden Händen noch zwei Füsse hatte. Kaum liess ich mich von den Schimpftiraden anstecken, stapfte ich wütend zurück in mein Wartezimmer des Selbstmitleids. Dort beklagte ich die Dummheit der Welt und zückte meine imaginäre Trophäe aus meinem imaginären Vorratsschrank, der inzwischen auf die Grösse eines Fussballstadions gewachsen war. Wirklich dumm ist jedoch, dass der Preis mehr über denjenigen aussagt, der ihn überreicht – und nicht über den, der ihn empfängt. Das zumindest meint mein Psychoanalytiker, dem ich jeden Montag von meinem Wartezimmer des Selbstmitleids berichte. Er will darin andauernd Spiegel aufhängen, damit ich mich in meinem Gegenüber erkenne. Angeblich würde ich verdrängte innere Anteile auf mein Umfeld projizieren. Aber wie soll ich etwas erkennen, das sich vor mir versteckt? Ausserdem muss ich nicht in den Spiegel gucken, ich weiss schon vorher, was mich erwartet. Mit den Erwartungen ist es auch so eine Sache. Wenn ich morgens im Supermarkt der Kassiererin einen schönen Tag wünsche, erwarte ich gar nichts mehr. Ich kompensiere. Deswegen lege ich schon im Voraus zwei 300-g-Tafeln Schokolade und eine XXL-Familienpackung Gummitiere auf das Kassenband. Meine Glückshormone sollen unter den negativen Schwingungen meines Umfelds nicht leiden. Die Süssigkeiten stopfe ich dann jeden Abend im Wartezimmer des Selbstmitleids in mich hinein. Dabei frage ich mich, welche inneren Anteile die Kassiererin auf ihre Kundschaft projiziert und ob sie eigentlich mal in den Spiegel geguckt hat, wie hässlich ihre Zornesfalte aussieht. Vielleicht ziehe ich die Unfreundlichkeit aber auch an, weil ich meine Seelenhausaufgaben nicht richtig erledige. Das zumindest behauptet der Schamane, den ich jeden Mittwoch konsultiere, um mein Wartezimmer des Selbstmitleids energetisch sauber zu halten. Leider gehört Geduld nicht zu seiner Kernkompetenz. Denn während er mich zu meinem Krafttier trommeln will und ich ihn immer wieder freundlich frage, ob es sich auf dem Weg zu mir verlaufen hat, weil ich nun schon eine ganze Weile hier auf der Lichtung warte, unterbricht er abrupt. Seine Augen sind zusammengekniffen, seine Nasenflügel regelrecht aufgebläht. Bei dem Gesichtsausdruck hatte das Krafttier bestimmt keine Lust aufzutauchen, denke ich etwas resigniert. Vom vielen Denken ist mir schon ganz übel. Vielleicht sollte ich mich mal hypnotisieren lassen, um nichts mehr zu denken. Doch warum für etwas Geld ausgeben, das andere Menschen spielend leicht beherrschen? Ein wenig neidisch bin ich schon. Der Gemeindepfarrer, mit dem ich mich immer am Freitag unterhalte, sagt, Neid könne sich wie eine Schlange durch die Herzenswände fressen. Hoffentlich ist mein Krafttier keine Schlange. Falls doch, würde das zumindest erklären, warum es nicht zur Lichtung kommen konnte. Auf dem Nachhauseweg friere ich. Im Wartezimmer des Selbstmitleids ist die Heizung ausgefallen. Für eine Person lohnt sich die Reparatur wohl nicht. Aber wann lohnt sich schon etwas? Ginge es nach meiner Schwester, würde sich das Kinderkriegen nicht mehr lohnen. Sie ist eine radikale Person. Ich mag sie nicht. Zu ihrem 18. Geburtstag hatte sie sich eine Hormonspirale einsetzen lassen. «Damit sich das Elend nicht vermehrt», scherzte sie. Ich wusste natürlich, dass es kein Scherz war. Kinderkriegen war in meiner Familie nicht besonders beliebt. Wahrscheinlich bin ich gar nicht auf herkömmlichem Wege hier gelandet, sondern wurde versehentlich zurückgelassen, von welchem Planeten auch immer. Der Schamane erklärte mir einmal, meine Seele hätte sich meinen Körper ausgesucht. Das glaube ich nicht. Und wenn, dann wäre meine Seele eine ganz schöne Streberin mit ihren Seelenhausaufgaben und Lernaufgaben. Und eine Egoistin noch dazu. Immer muss es nach ihrem Willen gehen und wenn nicht, dann hackt sie mein Karma-Konto, schreibt rote Zahlen und schickt mir so lange Dauerschleifen, bis ich die ganze «Drecksarbeit» erledigt habe. Diesen Ausdruck habe ich nicht von meinem Schamanen, sondern von meiner optimistischen Freundin. Sie inhaliert Lebensweisheiten wie andere ihr Nasenspray und verbreitet gern Weltuntergangsstimmung. Inzwischen hat sie allerdings keine Aufträge mehr, weil andere mit mehr Format und grösserer Reichweite ihr den Job weggenommen haben. Also besucht sie mich manchmal im Wartezimmer des Selbstmitleids. Eigentlich mag ich keinen Besuch. Als ich vor zwei Jahren in eine grössere Wohnung umgezogen bin, hatte ich aus Anstand ein paar Kolleginnen eingeladen und das auch nur, weil ich bei meinem Arbeitgeber meine neue Adresse angeben musste. Ich hatte eine leicht angebrannte Käsetorte hingestellt in der Hoffnung, sie würden dank meiner gewieften Gastgeberqualitäten schnell verschwinden. Stattdessen verbrachten sie den Nachmittag mit Lobgesängen auf meinen nicht vorhandenen Perfektionismus und nahmen als Zeichen ihrer Anerkennung noch ein Stück. Der Kaffee, den ich absichtlich viel zu schwach gekocht hatte, war in ihren Augen ein tadelloses Beispiel von Emanzipation, sodass ich noch eine Kanne aufsetzen musste. Entsprechend verwunderte es mich nicht, dass ich beim Rorschach-Test, den mein Psychoanalytiker zu Beginn der Therapie mit mir machte, den Farbklecks als männliches Geschlechtsteil identifizierte. Als wir später auf meinen Neid zu sprechen kamen, spielte diese Assoziation erneut eine Rolle. Ich war ganz erstaunt, worauf andere Menschen neidisch sein können.

 

Wie viele Jahre ich schon im Wartezimmer des Selbstmitleids zubringe, weiss ich gar nicht. Jedenfalls lange genug, um mich endlich mal zu fragen, worauf ich da eigentlich warte. Zumindest empfiehlt mir das mein Glückscoach. Ja, ich habe meine Strategie geändert und möchte ab sofort glücklich sein. Die Idee kam mir beim Töpferkurs, den ich seit letztem Dienstag besuche. Wir sind eine kleine Gruppe von sechs Frauen. Sie reden lauter als die Stimmen in meinem Kopf, das ist ganz praktisch. Denn so kann ich mich voll und ganz auf mein Glücksprojekt konzentrieren. Nur eines irritiert mich jedes Mal; an der Wand gegenüber hängt ein Spiegel. Und der Spiegel sieht mich an. Ich fühle mich ertappt. Das ist nicht gut, weil sich nur schuldige Menschen ertappt fühlen. Doch womit habe ich mich schuldig gemacht? Da fällt es mir wieder ein, ich bin beruhigt: Ich habe das Schild vor dem Wartezimmer des Selbstmitleids ausgetauscht: WARTEZIMMER DES GLÜCKS steht dort. Wenn ich schon warte, dann wenigstens auf das Richtige. Den Schwindel merkt sowieso keiner.