April 2023

Saint-Jacques

von Stefan Andreas
Jahresthema: Vom Verschwinden
Monatsthema: Verschwindende Orte

Buschwerk stand ringsum, ein Fahnenmast markierte die Stätte. Unsteter Wind lupfte das Banner. Hinten begannen die Dünen. Das Meer sah man nicht.

Paul ging durchs Gras. Er drückte mit dem Fuss dürre Halme und flauschig blühendes Kraut zur Seite, während er seine Schritte setzte. Die Stängel knickten gefügig und gaben den Blick auf rissige Erde frei.

«Da ist nichts», sagte Maurice. Er sass auf einem mannshohen Felsen, der im Lehmboden steckte, seit ihn vorzeiten eine Frühjahrsflut den Hang hinuntergespült und hier versenkt hatte.

«Ich versteh euch nicht. Was wollt ihr da finden.» Maurice zog die Knie an den Körper, legte die Windjacke über die Beine und fummelte in der Brusttasche. Paul strich langsam, leicht vorgebeugt, die Augen zu Boden gerichtet, mit der Schuhsohle tastend Schritt für Schritt über die Grasfläche. Er drehte prüfend mit der Fussspitze einen Stein um, der locker lag.

«Es ist nichts mehr da», hörte er Maurice sagen.

Über die Schulter warf Paul ihm ein helles Lachen zu, das auch trotzig sein konnte.

Maurice klopfte eine Zigarette aus der Schachtel und hielt sie zwischen den Fingern. «Was wollt ihr die ganze Zeit hier. Sucht nach Spuren, die nicht mehr da sind, pflügt durchs Gras, vergeht vor Ehrfurcht. Und dann?»

«Ja», sagte Paul, indem er sich noch einmal zu Maurice umdrehte. «Stimmt schon.» Vielleicht nicht ganz, dachte er. Irgendwann würde er Maurice von seinem Vater erzählen.

Eine Armlänge gesetzter Mauersteine war sichtbar, die auf Bodenhöhe endeten. Paul kniete sich hin. Mit den Handflächen fegte er den losen Sand vom Fundamentrest.

«Herkunft, Ursprung, Wurzeln. Folklore», sagte Maurice. Paul hörte das Reibrädchen des Feuerzeugs über den Zündstein schmirgeln.

 

Er wollte nicht widersprechen. Hier trafen sich Märchen und Wahrheit. Hier war das Land aus den Geschichten des Vaters. Saint-Jacques, das war, wo man herkam. Le-Pré-de-la-Baie, das war, wo man sich gegen Knechtschaft verschworen hatte. Hier, hinter den Dünen am Meer, erzählte der Vater, hatte der Fischer Kinou die große Revolte ins Leben gerufen. Als er vor der Hütte seine Netze zum Trocknen aufhängte, sah er Schwalben am Himmel, die einen Adler in die Flucht schlugen. Der Fischer verstand das Zeichen: Wie diese Schwalben müssen wir sein, erklärte er im Dorf. Der Vater sass auf der Bettkante, während nur das Nachttischlicht noch brannte, hielt die Hand seines Sohnes und erzählte von Kinou und den Ruderbooten, die französischen Kanonen trotzten. Die flachen, schnellen Boote glitten unter den Kugeln hindurch, drängten nah heran und die Krieger legten Feuer an die Fregatten. So erzählte der Vater. Verbürgt ist jedenfalls, dass die Kolonialmacht damals eine Zeit lang in Bedrängnis geriet. Marianneville mit den putzigen bunten Häusern am alten Hafen, das heute als Grossstadt bis weit in die dahinterliegenden Hügelketten aufragt, wurde den Franzosen entrissen und eine Zeit lang gehalten. Gleichwohl meinten manche, sagte der Vater, es habe Kinou nie gegeben. «Wie kann es ihn nicht gegeben haben», fragte er nachsichtig wissend und schaute über die Brillengläser hinweg, «wenn er uns die Freiheit geschenkt hat?» Es war fraglich, ob das zutraf, denn die bleibende Unabhängigkeit kam viel später, aus anderen Impulsen in veränderter Weltlage. Saint-Jaques mit seiner Schwurstätte behauptete sich dennoch als ihr Symbol. Mit dem Herz kannte der Vater die Legenden, den modernen Staat dagegen aus den Nachrichten. Er war noch sehr klein, als die Familie das Land verliess.

 

«Lasst doch mal eure Denkmäler zu Hause», sagte Maurice vom Felsen herunter.

Es gab nichts zu sehen, da hatte er recht. Paul passierte den ausladenden runden Sockel mit der Inschrift und dem Flaggenmast. Das Selfie sparte er sich.

Wir fliegen da hin, hatte der Vater gesagt. Wir steigen auf den Mont Confiance und schauen über die Inseln. Wir mieten ein Boot und segeln rund um die weissen Strände. Wir sammeln Papageienfedern, wir suchen Piratenschätze. Dazu machte er ein Gesicht, als sei er entschlossen, das Gold mit dem Dolch in der Hand gleich selbst zu erobern. Damals, als der Vater noch sprach. Saint-Jacques blieb indes weit weg. Jetzt machte Paul die Reise allein. Dem Vater schrieb er Postkarten, täglich eine. Las er sie? Er musste sie sehen.

 

Paul entfernte sich langsam. Maurice tat einen Zug. «Ihr wollt uns hier doch einfach nur zu Helden machen, damit ihr euch drin sonnen könnt.» Er blies in den Rauch. Er rief: «Und warum bleibt dann keiner von euch?»

Die Stimme tönte ferner. Paul ging in geraden, weit ausgreifenden Schritten. Am Boden achtete er nurmehr auf seinen langen Schatten, der vorweg übers Gras schwebte, über Erde, Gras und Sand, und sich dabei in Höhen und Tiefen schmiegte. An den Dünen sanken die Füsse ein. Paul hielt nicht an, sein Schatten bog sich aufwärts in die Steigung.

«He!», rief Maurice. Paul hörte ihn gedämpft gegen den Wind. Er brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, dass Maurice ihm jetzt nachlief. Wie er die Zigarette wegwirft, den Unterleib vorstreckt, sich mit den Händen abstützt, sich von seinem Fels gleiten lässt, das sah Paul vor sich, ohne hinzuschauen. «He jetzt, wohin gehst du», rief Maurice im Laufen. Wie die Jacke auf dem Stein liegen blieb, das hatte Paul vor Augen, während er selbst schneller ging. Er biss sich auf die Unterlippe und rannte. Auch Maurice rannte.

Paul drehte sich aus dem Lauf heraus um, stellte ein Bein zurück und streckte die Arme aus. Seine Handflächen prallten auf den Körper des Verfolgers, Maurice packte Paul bei den Schultern, die beiden strauchelten und fingen sich wieder. Sie stemmten sich gegeneinander. Wenn er Maurice berührte, glaubte Paul sich ganz verbunden mit diesem Land, fühlte sich angekommen und zu Hause. Das war Maurice, der hierhergehörte, der gar nicht anders konnte, der ein Teil der Geschichte war.

Maurice liess los, liess ihn ins Leere laufen und lachte. Er boxte Paul locker gegen die Brust, hüpfte und schwang die Arme. Dann hielt er still. Paul ging noch näher an ihn heran, legte ihm die Fingerkuppen auf die Schläfe und strich ihm tastend durch die kurzen Haare bis hinters Ohr. «Und das? Wollen wir das auch alle?», fragte er. Maurice fasste die Handgelenke und hob behutsam Pauls Arme von sich weg. Dann zog er mit einem Ruck, griff Pauls Nacken und drückte die Stirn gegen seine. Sie küssten sich nicht. «Ich geh jetzt zum Auto und lass dich forschen», sagte Maurice.

 

Der Motor lief bereits, als Paul sich in den weichen Sitz fallen liess und mit der nötigen Wucht die Tür zuschlug. Das Auto schaukelte vorwärts über den Lehm. Aus einer Bar strahlte helles Licht über die Strasse. Ein Junge hielt einen Fussball fest, die Kinder machten Platz, winkten und riefen lachend Unverständliches. Fernseher beleuchteten sprunghaft die Fensterflächen. Manchmal schummerte eine Strassenlaterne. Kabel wanden sich um angezapfte Strommasten.

Auf der Hauptstrasse kurbelte Paul das Fenster hoch. Maurice schaltete das Autoradio an, drehte am Regler und stellte es wieder aus.

Paul sah ihn an: Wie er den Oberkörper reckte, um sich aus dem ausgeleierten Polster zu heben. Im Licht der Armaturen glänzten die Lippen, die er nicht ganz geschlossen hielt. Maurice konnte ja nicht wissen, dass Paul einem Vater nachspürte, der nicht mehr mit ihm sprach. Vielleicht würde er ihn trotzdem belächeln, wie er sich fleissig die abgedroschenen Orte zeigen liess, die jeder besuchte, der herkam. Vielleicht erst recht. Und wirklich, was sollte es nützen! Wie sollte sich ändern, was die Jahre längst festgeschrieben hatten. Der Vater wies Paul nicht die Tür, wenn dieser die Eltern besuchte, aber er sprach kein Wort. Er stand an der Treppe, schaute auf den Boden, hielt sich am Geländer und liess Paul vorbeigehen, ohne ihn anzusehen. Er sass am Tisch und löffelte stumm seine Suppe.

Er hatte nichts sagen können, als Paul sich eröffnete. Der eigene Sohn! Die Schande! Neu war das Fremde am schlimmsten und selbst Tadel unaussprechlich. Die Zeit mochte den Schrecken mildern, aber das Schweigen war zur Gewohnheit geworden, aus der nicht mehr herauszufinden war. Was sollte er mit einem Mal reden, der Alte, nach all der Zeit? Übrigens. Lieber Sohn. Paul malte sich aus, welche Bedeutung von dem Umstand ausging, dass er gerade hier auf Maurice getroffen war. In der Fantasie improvisierte er eine Zusammenkunft: Papa, schau, das ist Maurice. Er kommt von Saint-Jacques, von der Insel deiner Helden. Schau ihn dir an, wach auf. Paul wischte sich über den Mund und schaute seitlich nach draussen ins Dunkel, um ein Grinsen zu verbergen. Warum sollte es nicht auch einmal leicht sein.

«Weisst du —» begann er.

Maurice legte die Kassette, die er eben in der Ablage mit den Fingern ertastet hatte, wieder zurück. Aber Paul sprach nicht weiter.

 

Sie hielten vor dem Hotel an. Die Scheinwerfer liehen dem Verputz ein blendendes Weiss. Maurice schaltete den Motor nicht ab. «Kommst du noch mal mit hoch», fragte Paul. Er stellte den Ellenbogen auf den Rahmen und stützte sein Gesicht mit der Hand.
Maurice nahm die Hände vom Lenkrad und hielt sie vor sich hin, als läge darin das, was er Paul erklären musste. Sieh mal, wollte er sagen, sei vernünftig. Er setzte zu einem Wort an, drehte den Kopf zum Beifahrersitz, aber als Paul ihn nicht anschaute, liess er die Geste wieder fallen. Er schlug mit den Handballen auf den Lenkradring, sass da mit gestreckten Armen und schaute geradeaus.
«Und», fragte Paul gegen die Seitenscheibe, «kommst du.»

Maurice zuckte die Achseln.

Paul drückte die Stirn gegen das Fenster. Es gab keinen Kondensfleck am Glas, wenn er ausatmete, die Nächte waren zu warm. Das bewahrte ihn vor dem Leichtsinn, mit dem Finger ein Herz an die Scheibe zu malen.

Zum Reden und Rauchen, sagte er, er wolle noch nicht allein sein.

Maurice zuckte die Achseln und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss.