Wir verschwinden hier
Sheng Sheng dachte viel über den Tod nach, besonders beim Essen. Das ist an sich nichts Besonderes, denn Pandas verbringen die meiste Zeit mit Essen. Und sonst mit Schlafen, aber Sheng Sheng konnte sich nie an irgendwelche Träume erinnern. Während Sheng Sheng also stundenlang damit beschäftigt war, Bambusschösslinge Schicht um Schicht zu schälen, das freiliegende Stück der zarten Bambusherzen abzubeissen und dann langsam zu kauen, gab es viel Zeit, um über den Tod nachzudenken.
Nicht so sehr über den eigenen, den fand Sheng Sheng zu erwartbar und deshalb langweilig, sondern den Tod der Art. Es gab nicht mehr viele Pandas – Sheng Shengs drei Geschwister, deren Kinder, ein paar Cousins und Cousinen. Sie alle lebten entweder in derselben Aufzuchtstation wie Sheng Sheng oder verteilt in Zoos weltweit, in einer künstlichen Welt, weil es in der realen schon lange keinen Platz mehr für sie gab. Die Menschen hatten die Bambuswälder gefällt, in denen die Pandas früher lebten. Dabei assen Menschen noch nicht einmal den Bambus. Welch eine Verschwendung, dachte Sheng Sheng.
Wer von uns würde wohl als letztes sterben? Oder waren wir alle dazu verdammt, so lange fortzuleben, wie es Menschen gab, die für uns Bambus anbauten, um ihn an uns zu verfüttern? Die uns künstlich befruchteten, damit es noch weitere Generationen von Pandas gab, obwohl uns allen schon lange die Lust auf Sex und Fortpflanzung vergangen war? Denn Sex macht doch nur Spass, wenn das Ambiente stimmt, und das stimmte in diesen Glashäusern mit ständiger Überwachung nun einmal nicht. Und sich fortzupflanzen, nur um Menschen glücklich zu machen, weil sie uns «niedlich» finden, das hätte kein Panda freiwillig gemacht. Würde der letzte Panda wohl zufrieden sterben im Wissen darum, dass mit ihm die Art ausstarb?
Vermutlich, dachte Sheng Sheng langsam kauend, war es gar nicht so einfach, als letzter Panda zu sterben. Der Erwartungsdruck musste sehr gross sein, die Menschen würden versuchen, den Tod so lange wie möglich hinauszuzögern, denn es warf kein gutes Licht auf sie. Es ist ihnen lieber, dass wir weiterleben, damit sie nicht zugeben müssen, dass wir ihretwegen ausgestorben sind. Dass wir nicht einfach klammheimlich verschwunden sind, wie sollte das auch gehen, einfach davonfliegen konnten wir ja nicht.
Nun denn, Hauptsache, es trifft nicht mich als letztes, dachte Sheng Sheng und lehnte sich an den Berg von leeren Bambusschösslingsschalen um sich herum. Das viele Denken machte müde und so glitt Sheng Sheng in einen warmen, satten Schlaf.