Armut hat viele Facetten. Eine davon: Sie macht unsichtbar. Wie kann man in einem Land, das so teuer ist wie die Schweiz, als armutsbetroffener Mensch teilhaben am öffentlichen Leben? Wie kann man mit der eigenen Geschichte sichtbar werden, sie erzählbar machen?
In der Textwerkstatt von Surprise erarbeiten Strassenmagazin-Verkäufer*innen Texte, in denen sie nicht nur aus ihrem Leben erzählen, sondern auch von ihren Beobachtungen, Gedanken, Meinungen. Auf den Surprise Stadtrundgängen erzählen die Stadtführer*innen anhand ihrer eigenen Biografie, wie es ist, wie rasch man den Anschluss an die Gesellschaft verlieren kann und wie schwerwiegend die Folgen von Armut sind. Sans-Papiers – also Menschen, die über keinen Aufenthaltstitel verfügen – brauchen Mut, um sich der Öffentlichkeit zu stellen. Obwohl viele voll berufstätig in der Pflege und als Hausangestellte sowie der Gastrobranche beschäftigt sind, können sie jederzeit des Landes verwiesen werden. Ihr entrechteter Status macht das Einstehen für die eigene Stimme und das Gehörtwerden in der Schweizer Gesellschaft extra schwer. Viele beherrschen noch dazu die Landessprache nur bedingt, weil ihnen weder Zeit noch Geld zum Lernen bleibt. Die Sans-Papiers-Kollektive Basel haben letztes Jahr ein Buch herausgegeben, das neben Lebensgeschichten auch politische und literarische Texte enthält («Von der Kraft des Durchhaltens», edition 8, 2023).
Juliana Lähns ist Mitglied der Sans-Papiers-Kollektive Basel und dort Koordinationsperson der Grupo Latino. Die Sans-Papiers-Kollektive organisieren gemeinsame Aktivitäten, unterstützen sich gegenseitig und setzen sich öffentlich für Verbesserungen ihres Status ein.
Fany Flores S. ist seit Jahren im Colectivo Sin Papeles Zürich aktiv. Gemeinsam mit anderen Sans-Papiers stärken sie sich im Colectivo gegenseitig im herausfordernden Alltag. An regelmässigen Treffen tauschen sie sich über ihre Situationen aus und veröffentlichen immer wieder ihre Sichtweisen im Bulletin der Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich.
André Hebeisen arbeitete jahrelang als Disponent bei einer grossen Baufirma. Die Beförderung zum Abteilungsleiter brachte mehr Verantwortung und Druck mit sich. Hebeisen versuchte, den Stress mit Alkohol in den Griff zu bekommen. 2010 ging auf einmal nichts mehr. Diagnose: Burnout. André Hebeisen verlor seinen Job. Klinikaufenthalte, Arbeitsintegrationsprogramme und Alkoholabstürze folgten. Erst als er 2014 in einem betreuten Wohnheim kurz vor dem Rausschmiss stand, machte es bei ihm auf einmal «klick»: Seither trinkt Hebeisen keinen Tropfen Alkohol mehr. Auf seinen Sozialen Stadtrundgängen erzählt er, wie es für ihn war, plötzlich am «Rande der Gesellschaft» zu stehen.
Urs Habegger musste nach einer missglückten Augenoperation vor sechzehn Jahren seinen Beruf in der Grafikbranche aufgeben. Er ist gelernter Schriftsetzer, Autor, Liedermacher und Verkäufer des Strassenmagazins Surprise in Rapperswil. Zum Schreiben kam er im Jahr 2019/20 über die Textwerkstatt von Surprise. Habeggers Veröffentlichungen im Strassenmagazin Surprise stiessen auf Interesse an Lesungen – und bei einem Verlag: «Am Rande mittendrin» erschien 2024 bei elfundzehn.
Sara Winter Sayılır ist Co-Redaktionsleiterin des Strassenmagazins Surprise. Sie studierte Turkologie, Islamwissenschaft und Politik in Berlin und Baku. Seit 2009 lebt sie in der Schweiz, seit 2015 ist sie Teil der Surprise-Redaktion.
Moderation: Sara Winter Sayılır
Lesung: Miriananda Schempp
Büchertisch: mille et deux feuilles – Buchhandlung zum Mittelmeer und mehr
Das gesamte Programm auf einen Blick finden Sie im Flyer zum Festival.