Lesefest «Vielsprachige Schweiz»

Das Literaturhaus Zürich lud am 21./22. April 2023 zu einem grossen Lesefest ein. Im Herbst 2022 riefen wir zur Einreichung von Texten auf. Eine Jury wählte aus den über 120 eingereichten Texten in 23 Sprachen die überzeugendsten aus. Die Autor*innen der prämierten Texte hatten einen Auftritt auf der Bühne vom Literaturhaus. 

Das Programm

Freitag, 21. April, 18 Uhr
Lesungen von Jyoti Guptara (Englisch), Lara Torbay (Französisch, Arabisch, Englisch), Blas Ulibarri (Englisch), Auftakt: Aufnahmeklasse Schanzengraben (Ukrainisch)
Moderation: Etrit Hasler
Deutsche Lesung: Oriana Schrage
Samstag, 22. April, ab 11 Uhr
Lesungen von Eugenia Senik (Ukrainisch), Azizullah Ima (Farsi), Salam Ahmad (Arabisch)
Moderation: Ana Sobral mit Lubna Abou Kheir
Deutsche Lesung: Isabelle Menke
Vom Text zum Buch: Ursi Aeschbacher (Verlag die Brotsuppe), Reina Gehrig (Pro Helvetia), Nicole Pfister Fetz (A*dS), Zorka Ciklaminy (Übersetzerin/Übersetzerhaus Looren)
Moderation: Jennifer Khakshouri
Lesungen von Irfan Yildiz (Kurmandschi), María Ruiz Martínez (Spanisch)
Moderation: Yusuf Yesilöz, Monica Subietas
Deutsche Lesung: Chantal Dubs
Lesungen von Mićo M. Savanović (Serbisch), Arbër Ahmetaj (Albanisch)
Moderation: Dragica Rajčić, Arzije Asani
Deutsche Lesung: Dagny Gioulami
Im Debattierzimmer im 3. Stock ist der A*dS ( Verband der Autorinnen und Autoren der Schweiz) mit einem Informationstisch präsent und führt für Autor*innen und Übersetzer*innen Sprechstunden durch – um 10:00, 14:30 und 19:00 Uhr. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
 
NACHKLANG
Sonntag, 23. April, 18 Uhr
Lesungen von Dalit Arnold, Gundula Schiffer, Rafaël Newman und Ella Ronen (Hebräisch, Deutsch, Englisch)
Auf Einladung des Vereins Omanut präsentieren vier Kulturschaffende ihr Werk, bei dem Interkulturalität und Multilingualität eine zentrale Rolle spielen.
Ort: Bistro «Salon», Weststrasse
 
Samstag, 24. Juni, 16 Uhr
Gartenlesungen von Jelena Angelovski (Serbisch), Karolina Duszka (Polnisch), Mariana Villas-Boas (Englisch/Portugiesisch)
Drei weitere Gewinner*innen der Ausschreibung lesen aus ihren Texten.
Moderation: Isabelle Vonlanthen, Gunda Zeeb
Deutsche Lesung: Mariananda Schempp
Ort: Quartiergarten Albisrieden, in Kooperation mit dem transkulturellen Festival «About Us».

Die Ausschreibung

Albanisch, Finnisch, Kurdisch, Spanisch, Ukrainisch… Literatur entsteht in der Schweiz in vielen Sprachen.

Viele Menschen, die in der Schweiz leben und schreiben, tun dies in einer anderen als den vier Landessprachen oder schreiben in mehreren Sprachen (davon eine Landes- sowie eine weitere Sprache).

Die Ausschreibung fand bis zum 30. November 2022 statt. Es wurden über 120 Texte in 23 Sprachen – darunter u. a.  Persisch, Holländisch, Griechisch, Rumänisch, Albanisch, Portugiesisch, Ukrainisch, Bosnisch, Tamilisch, Türkisch –  eingereicht.

Die Jurierung

Eine Jury (bestehend aus Vertreter*innen der Partnerinstitutionen, Autor*innen und Literaturvermittler*innen sowie – je nach Sprache – externen Expert*innen) wählte die besten Texte aus, die anonymisiert an die Jury versandt wurden. 
Der Jury gehören an:
  • Arzije Asani (Redakteurin, freischaffende Journalistin, Filmemacherin)
  • Lubna Abou Kheir (Weiter Schreiben Schweiz, Autorin)
  • Dragica Rajčić (Alit – Verein Literaturstiftung, Autorin)
  • Karen Roth (Omanut Forum für jüdische Kunst und Kultur)
  • Mónica Subietas (Journalistin, Autorin)
  • Isabelle Vonlanthen (Literaturhaus Zürich)
  • Yusuf Yesilöz (Autor, Filmemacher)

Die Partner

Ein Projekt von Literaturhaus Zürich, in Kooperation mit Übersetzerhaus Looren, Weltenliteratur/Alit – Verein Literaturstiftung, Weiter Schreiben Schweiz, A*dS Autorinnen und Autoren der Schweiz, Omanut Forum für jüdische Kunst und Kultur, Junges Literaturlabor JULL, mit freundlicher Unterstützung der Georg und Bertha Schwyzer-Winiker Stiftung, der Fachstelle Kultur des Kantons Zürich und der Schweizer Kulturstiftung pro Helvetia.

Das Buch

Die Reihe «essais agités. Edition zu Fragen der Zeit» pflegt den kritischen Essay. Es ist eine grosse Freude, dass mit den prämierten Texten «Vielsprachige Schweiz» ein Band in dieser Reihe als Taschenbuch im Verlag Der gesunde Menschenversand herausgegeben wurde.
Das vorliegende Lesebuch versammelt die auf Albanisch, Arabisch, Englisch, Farsi, Kurmandschi, Polnisch, Serbisch, Spanisch, Ukrainisch entstandenen Texte in deutscher Übersetzung sowie die Lebensläufe der ausgezeichneten Autor*innen: Gemeinsam erzählen sie so von der vielsprachigen Literaturlandschaft in der Schweiz und zugleich weit darüber hinaus.
Das Buch kann bei der Aufsicht im Lesesaal oder im Literaturhaus-Büro für 15 Franken gekauft werden.

Salam Ahmad

*1970 in Syrien, wohnt in Olten. Er hat Kunstwissenschaften, Philosophie und Psychologie an der Universität in Aleppo studiert. Danach war er Mitglied der «Syrian Arab Artists Union» und unterrichtete Philosophie an der Aleppo Ibnsina High School. 2004 veröffentlichte er den Gedichtband «Bed of darkness» auf Kurdisch. Er war Restaurierer und Konservator im Kunstmuseum Aleppo. Seit seiner Flucht aus Syrien lebt er mit seiner Familie in der Schweiz und arbeitet als Dichter und Kunstmaler.

Arbër Ahmetaj

*1965 in Tropoj (Albanien), wohnt in Sion. Er studierte Pharmazie in Tirana, schrieb als Journalist für literarische und politische Zeitungen, arbeitete für das albanische Staatsfernsehen und als Diplomat, bis er Ende der 1990er Jahre in die Schweiz zog. Heute arbeitet er als Apotheker in Monthey im Wallis. Er veröffentlichte mehrere Werke auf Albanisch, 2007 war er Co-Autor der Erzählsammlung «Le chameau dans la neige et autres récits de migrations» (Editions d’En Bas). 2010 erschien ein Gedichtband auf Albanisch mit französischer Übersetzung (Verlag Mërgimi A&B).

Jelena Angelovski

*1980 in Serbien, promovierte in serbischer Literatur, arbeitete als Bibliothekarin und als Lehrerin für serbische Sprache. Als Autorin wirkte sie an zwei Büchern mit, die vom Zentrum für Jugendkreativität in Belgrad veröffentlicht wurden. Mehrere Jahre lang war sie eine der Herausgeberinnen von «Rukopisi», einer Sammlung von Lyrik und Prosa junger Menschen aus der Region Ex-Jugoslawiens. Seit 2018 lebt sie in Zürich. 2022 veröffentlichte sie «Mika», ihren ersten Roman für junge Erwachsene.

Karolina Duszka

ist in Polen aufgewachsen und hat dort internationale Beziehungen und schwedische Philologie studiert, 2015 ist sie in die Schweiz gezogen und lebt in Zürich. 2017 wurden zwei ihrer Kurzgeschichten als Teil der Erzählungssammlung «Świat według Polki» (Die Welt aus Sicht einer Polin) auf Polnisch veröffentlicht. Sie ist Mitglied des Klubs «Polki na Obczyźnie» (Polinnen in der Fremde), für den sie Feuilletons schreibt.

Jyoti Guptara

*1988 in England, brach im Alter von 15 Jahren die Schule ab, um sich ganz dem Schreiben zu widmen, und ist heute international bekannter Autor von u. a. Fantasy-Romanen. 2015 war er Fellow des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik. Als Berater hilft er Organisationen und einzelnen Führungskräften beim Geschichtenerzählen. 2020 veröffentlichte er sein erstes Sachbuch «Business Storytelling from Hype to Hack». Sein sechstes Buch und erster Thriller «Fortune’s Favor» (November 2022) spielt in Indien, den USA und der Karibik.

Azizullah Ima

wurde in Afghanistan geboren und erlangte 1987 sein Lizenziat von der Pädagogischen Universität Kabul. Zu seinen ersten Tätigkeiten zählen das Unterrichten, die Redaktion einer Kulturzeitschrift und der Tageszeitung «Dariz». Mehrere Gedichtbände, ein Roman und eine Sammlung von Kurzgeschichten wurden in Afghanistan und in Europa auf Persisch gedruckt und veröffentlicht. 2011 wurde sein Roman «Die neunundneunzigste Frau» durch die PEN Organisation in Kabul gedruckt.

María Ruiz Martínez

*1988 in Valencia, lebt seit 2017 im Kanton Aargau. Als Kind zeigte sie Interesse an Delfinen, Pferden, Gürteltierkäfern und allgemein allen Lebewesen auf diesem Planeten. Schon früh schrieb sie erste Märchen und Erzählungen. Später beschloss sie, die Biologie zu ihrem Beruf zu machen und promovierte 2016 in Molekularbiologie an der Universität Potsdam. 2009 gewann sie den ersten Preis beim IX. Literaturwettbewerb für Kurzgeschichten vom Verband der Absolventen der Philosophie und Linguistik, Valencia.

Mićo M. Savanović

*1958 in Lokvari in Zmijanju, in der Nähe von Banja Luka. Er beendete die Grundschule in Lokvari und Stričići und in Ruma (Srem/Serbien) das Gymnasium. Ab 1977 lebte er in Novi Sad, wo er seinen Abschluss an der Fakultät für Technische Wissenschaften machte. Seit 1989 lebt er in der Schweiz. Er hat zahlreiche Texte auf Serbisch veröffentlicht. Neben dem Schreiben und Malen macht er auch gerne Skulpturen.

Eugenia Senik

*1986 in der Ostukraine, wohnt in Basel. Sie hat ukrainische Philologie und allgemeine Literaturwissenschaft in Luhansk studiert und ist Autorin von vier Prosabüchern. Ende 2022 erschien ihr neuer Roman «Es schmerzt» in der Ukraine, an dem sie während zehn Jahren gearbeitet hat. Ihr dritter Roman «Das Streichholzhaus» (auf Deutsch im Zytglogge Verlag erschienen) wurde vom PEN Ukraine in die Liste der besten ukrainischen Bücher 2019 aufgenommen. Nach dem 24. Februar 2022 führte sie in der Online-Zeitschrift Bajour ihr persönliches Tagebuch über den Krieg.

Lara Torbay

aufgewachsen in Genf und wohnhaft in Fribourg – ist eine schweizerisch-libanesische Aktivistin, Künstlerin und Jurastudentin. Der Schwerpunkt ihrer Arbeiten liegt auf den Erfahrungen der Diaspora im Nahen Osten und der Verflechtung verschiedener Identitäten. Sie schreibt auf Französisch und Englisch, auch Arabisch und Deutsch fliessen in ihre Gedichte ein. Im Februar 2022 präsentierte sie anlässlich des Festivals La St Valentin du Q (Genf) eine Lesung ihrer eigenen Gedichte, die sich aus einer queer-feministischen Perspektive um Begehren und Liebe drehen.

Blas Ulibarri

*1973 in Kalifornien, wohnt in Zürich. Er ist Absolvent von The Open University und hat einen Bachelor of Arts (Honors) in Literatur. Er hat Belletristik und publizistische Texte in Literaturzeitschriften und Zeitungen veröffentlicht. Seine Romane wurden bei den Glimmer Train Fiction Awards ausgezeichnet. 2007 erhielt er den Schweizer Literaturpreis «Die Goldene Geranie», 2010 wurde er zum Präsidenten des Zürcher Schriftstellerkollektivs index gewählt, 2011 war er Mitherausgeber der Kurzgeschichten-Anthologie «Das hab ich mir grösser vorgestellt».

Mariana Villas-Boas

wurde in Lissabon geboren, ist in den USA aufgewachsen und lebt seit 2017 in Zürich. 2014 gewann sie den FNAC New Talent Award (Portugal) für Kurzgeschichten in portugiesischer Sprache. Ihre englischsprachige Belletristik wurde seitdem in «AGNI» (2022), «American Chordata» (2022) und «Apple Valley Review» (2021) veröffentlicht. Zurzeit arbeitet sie an einem Roman, in dem die Geschichte eines beliebten architektonischen Wahrzeichens in Zürich neu erfunden wird.

Irfan Yildiz

ist ein kurdischer Schriftsteller, der seit drei Jahren als politischer Flüchtling in Zürich lebt. Er hat sieben Jahre seines Lebens aus politischen Gründen im Gefängnis verbracht: Dort lernte er, in seiner Muttersprache Kurmandschi, einer in der Türkei verbotenen Sprache, richtig zu schreiben, und schrieb drei Romane, die derzeit digitalisiert werden. Im Jahr 2022 wurde sein erster Roman vom Verlag Ronya veröffentlicht: Siya Mirinê, aus dem Kurmandschi «Der Schatten des Todes».

«Malen mit Worten» heisst eine berühmte Gedichtsammlung des syrischen Dichters Nizar Qabbani. Dasselbe trifft auf die Poesie von Salam Ahmad zu: Dieser ist Kunstmaler und hat seine Werke schon in vielen Ausstellungen gezeigt. Aber auch in seinen Gedichten malt er mit Worten. Die Texte sind dicht gewoben und spiegeln authentisches Erleben wieder, fernab aller Metaphern. Salam Ahmad schafft poetische Bilder, die die Seele berühren, wie zum Beispiel in dem Gedicht: «Der Baum / Er schluckte den Wind / Zwischen den Strähnen seiner Zweige / Hat ihn geflochten / Dann ihn nach hinten geworfen.“ Und er tut dies in einer poetischen Struktur, die in wenigen Zeilen viele Charaktere und Geschichten in sich trägt.

«Jacqueline D.» So heisst der Text von Arbër Ahmetaj. Diese Geschichte muss man nicht zwei Mal lesen, um zu verstehen, dass diese auf der Bühne erzählt werden muss. Arbërs Worte verursachen rote Köpfe und grinsende Gesichter, rühren aber auch zu Tränen. Der Text berührt, überrascht und bietet grossen Unterhaltungswert. Überraschend ist auch der Fakt, dass «Jacqueline D.» aus der Perspektive einer Frau geschrieben wird, der Verfasser jedoch ein Mann ist. Bei keiner einzigen Stelle im Text fällt dies jedoch auf. Arbër Ahmetaj schafft es, Jacqueline D. auf eine sehr intime und respektvolle Art lebendig werden zu lassen. 

Die Geschichte von Jyoti Guptara ist exotisch und bekannt zugleich. Sie erzählt von einem indischen Jungen, welcher als erster seiner Familie in die Schule geht. Es ist sozialer Realismus pur und erinnert  uns an  Honoré  de Balzacs Figuren, die versuchen, Elend und Gewalt zu entkommen. Die Bilder kommen uns sehr bekannt vor, so war es zwei, drei Generationen früher und ist es heute immer noch in vielen Teilen der Welt. Eine der Ursachen, dass die Geschichte ein besseres Ende nimmt, zeigt uns der Autor so: «Kallu-der-zur-Schule-ging war in seiner Vorstellung eine eigene und überragende Person: ein unbeugsamer Charakter, ein Befreier, eine Legendenfigur; der Sohn Pehlus, der seine eigene Familie und sich selbst töten würde, wenn die Kallu-Legende nicht zur Schule gehen dürfte. Dieses Selbstbild gab Kallu solch grosse Zuversicht. Die Macht einer Geschichte lag darin, ihr Ende zu kennen, und die eine Geschichte, die er kannte, war jene von Kallu-der-zur-Schule- ging.» So vermischen sich der Mythos und die Identifikation mit ihm, um die eigene Befreiung zu erreichen. Literatur tut dasselbe.

«Von Kabul bis Teheran, nieder mit den Taliban»: Azizullah Imas Gedichte handeln von aktuellen gesellschaftlichen Themen und sind ganz frisch und kämpferisch, zugleich holen sie (zum Beispiel in dem Gedicht «Ewiges Flüstern») weit aus und verhandeln grosse philosophische und menschliche Fragen. Es sind kritische Gedichte, die die Dummheit und Dürre des Verstands, die Angst der Bevölkerung, Diktatur und Religion, Rechts und Links, Gott und Satan zum Thema machen. Wir hören eine mutige Dichterstimme, kritisch und säkular geprägt. Jemanden, der die Bosheit der Fundamentalisten, die Schäden der Religion und der Gewalt nah aus erster Hand erlebt hat. Die Sprache ist modern und gehoben, und beruht auf der Tradition der modernen Poesie im persischsprachigen Raum.

María Ruiz Martínez hat eine Geschichte über lokale Bräuche gewoben, ein Stück historisches Gedächtnis der valencianischen Huerta, das von Generation zu Generation weitergegeben werden sollte, damit es nicht in Vergessenheit gerät. Auf eine intime Art geschrieben, ist «Der Obstgarten von Corbera» eine einfache, suggestive, fast poetische Kurzgeschichte, die dem Leser einen heimlichen Blick in eine Familienszene erlaubt – als ob er sie hinter den Orangenbäumen in jenem Obstgarten beobachten würde, in dem die Grosseltern ihren Enkeln die Essenz des Lebens zeigen. Ein Ort, wo Kinder spielen, Hunde herumlaufen und jeder am Ende kleine Schätze versteckt, um sie an einem anderen Tag zu finden, oder damit andere sie eines Tages finden.

Die Gedichte von Eugenia Senik sind sehr persönlich – ein lyrisches Ich ist überall äusserst präsent – und doch anschliessbar an grosse und wichtige Diskurse. Ihr Inhalt ist relevant und drängend, sie handeln von der «condition humaine» im Allgemeinen, besonders aber im Angesicht des Kriegs (auch wenn dieser nicht in jedem Text explizit benannt wird). So zum Beispiel in dem wunderbaren Gedicht «Baum des Lebens», das bedauert, dass Menschen nicht wie Bäume sein können. Die Texte sind von einer grossen Körperlichkeit geprägt, von einer engen Verbindung von Sprache, lyrischer Empfindung und den Auswirkungen der Umgebung, der Wirklichkeit, der «grossen» und «kleinen» Geschehnisse auf den Körper des lyrischen Ich.

«Du opferst die falsche Lebensseite / Fernst die Nähe und beschwörst die Ferne.» Diese Zeilen aus Mićo M. Savanovićs Gedicht wirken reif, durchdacht, vom überflüssigen Zaun der  Ausschweifungen befreit fast wie Aphorismen. Solche Gedichte hat schon Friedrich Gottlieb Klopstock im neunzehnten Jahrhundert  definiert in seiner Rede «Was kann Poesie»: «Das Wesen der Poesie besteht darin, dass sie durch die Hülfe der Sprache eine gewisse Anzahl von Gegenständen, die wir kennen oder deren Dasein wir vermuten, von einer Seite zeigt, welche die vornehmsten Kräfte unsrer Seele in einem so hohen Grade beschäftigt, dass eine auf die andre wirkt und dadurch die ganze Seele in Bewegung setzt.» So  stehen diese Gedichte in  der besten Tradition gedanklicher Poesie nach der Aufklärung.

Alle Texte von Lara Torbay bergen eine innere Zerrissenheit, aus der alles hervorbrechen kann: Trauer, Gewalt, Hilflosigkeit und Widerstand. Die beiden auf Französisch geschriebenen «poèmes en prose» finden starke Bilder für dieses Dazwischen-Sein: Der Vater, der Olivenöl in sich hineingiesst, um seinem Heimatland Libanon näher zu sein, das tief vergrabene Gefühl des Verlustes, das die Nachgeborenen empfinden, aber auch deren Überforderung, eine Brücke zwischen dem Hier und dem Dort zu schlagen. Doch grausam ist nicht nur die Wirklichkeit des Nahen Ostens, auch die Liebe – in den englischen Gedichten – kann «gruesome» sein und das lyrische Ich sinnt auf Rache. Doch diese wird mit der rhetorischen Frage, ob nicht am Ende immer jemand bezahlen muss, humorvoll unterlaufen und so zwinkert das Auge des Talisman schliesslich doch noch.

Die tagebuchartigen Notizen eines Amerikaners in Zürich aus dem September 2014, die Beobachtungen, Reflexionen und Flashbacks kunstvoll verknüpfen, sind von einer bestechenden Klarheit. Motive wie Krieg und Gewalt, aber auch (seelische) Krankheit und sexuelle Anziehung durchziehen den dichten Text von Blas Ulibarri. In wenigen Worten vermag der Autor vielschichtige Bilder zu erschaffen: Als ein amerikanischer Tourist dem Erzähler kurz die Schulter drückt, löst dies bei diesem gleichzeitig ein Gefühl der Nähe wie der Fremdheit aus. Oder der Moment, als der Erzähler mit einer Todgeweihten in zärtlicher Verbundenheit im Kirchenschiff sitzt, ruft unterschiedliche Emotionen hervor. Ein Text voller Melancholie, Poesie und Geschichte und einem «leisen Versprechen für die Zukunft».

Der Begriff «Sifre» bezeichnet den Ort, an dem eine Mahlzeit stattfindet. Die Stimme der Erzählung «Das Tischtuch» von Irfan Yildiz ist die einer Frau, die uns beim Abendessen durch das tägliche Leben des Dorfes führt. Die Frau ist allein: Sie ist Witwe und Mutter von zwei kleinen Kindern. Der Tod ihres Mannes ist für die Erzählerin auch der Beginn eines unausweichlichen Überlebenskampfes. Der Autor ist nicht anklägerisch. Mit seiner ruhigen Erzählsprache bringt Irfan Yildiz die Situation einer Frau, die mit ihren zwei Kindern allein gelassen wurde, einfühlsam vor Augen. Sein Text hallt noch lange nach dem Lesen nach.

Laudatio von Yusuf Yesilöz, Autor und Jurymitglied

Die von der Jury prämierten Texte wurden von Übersetzer*innen ins Deutsche übertragen:

  • Florian Bissig (Englisch)
  • Hartmut Fähndrich (Arabisch)
  • Harald Fleischmann (Ukrainisch)
  • Niklas Fischer (Englisch)
  • Andreas Jandl (Englisch)
  • Cord Pagenstecher (Albanisch)
  • Jelica Popović (Serbisch)
  • Yves Raeber (Englisch, Französisch)
  • Sarah Rauchfuss (Farsi)
  • Karl Rühmann (Spanisch)
  • Barbara Sträuli (Kurmandschi)
  • Andreas Volk (Polnisch)