Zürcher Reden
Eine neue, lose Reihe, die sich den politischen, gesellschaftlichen, sozialen Umbrüchen unserer Zeit widmet und in der sich Autor*innen zu Wort melden. Viele Menschen fühlen sich verloren und orientierungslos. Das Literaturhaus Zürich versteht sich als Ort des Austauschs und des zugewandten Gesprächs. Deshalb sollen bei uns regelmässig Autor*innen zu Wort kommen, die uns ihre Analysen und Perspektiven auf unsere Zeit und Gesellschaft vermitteln und damit ein Zeichen setzen für Verständigung und ernsthafte, differenzierte Reflexion. In einer ca. 30-minütigen Rede geben sie uns ihre persönlichen Gedanken zu einem Thema mit, das ihnen am Herzen liegt und auf der Seele brennt.
Die weltweite Heuchelei
Zürcher Rede von Péter Nádas
gehalten im Literaturhaus Zürich am 12. September 2024
Lang ist die Liste dessen, worüber ich nicht reden will. Das gemeinsame Schweigen wird mehr Gewicht bekommen.
Schweigen wir.
Vielleicht wird in der Zwischenzeit jemandem etwas einfallen.
Bestimmt keine Lösung.
So wie die Stangenbohne klammert sich die Lösung an die Hoffnung, dass sie morgen Besseres und mehr zu bieten hat, und so weiter.
Auch von lauernden Gefahren für die Demokratie will ich nicht reden. Von den periodisch wiederkehrenden Gefährdungen der Demokratie. Von den weltweiten Zwangsvorstellungen.
Selbst die Stangenbohne reicht nicht bis zum Himmel.
Auch vom Schicksal meiner Heimat, vom Aderlass der ungarischen Demokratie kein Wort, Null. Dreissig Jahre lang habe ich geredet und geschrieben und weiss seither kein bisschen mehr.
Jetzt im Juni, da ich diese Zeilen schreibe, ist es bei uns 37 Grad im Schatten, auch davon kein Wort.
In Athen sind es 40 Grad, endlich hat man die Akropolis geschlossen. In Delhi fährt der Rikschafahrer bei 49,9 Grad, er muss davon leben. In Mekka erleben die Pilger 52 Grad. Die Zunahme der Oberflächentemperatur betrug zwischen 2013 und 2022 1,17 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau. Global. Als gäbe es etwas wie nicht global. Auf dem europäischen Kontinent betrug sie einen ganzen Grad mehr, 2,1 Celsius. 2023 erfolgte dann noch ein Sprung, nun haben wir die kritische Grenze überschritten. Die Verwendung des Pronomens wir ist begründet. Wir haben die Grenze überschritten. Früher konnte man in den Alpen gar nicht bemerken, was der Permafrost alles bewirkte. Er verhinderte, dass die Berge in die Täler stürzten. In Sibirien stabilisierte er die Strassen, liess kein Methan entweichen. Was kann ich über das Methan sagen: es ist gasförmiger Kohlenwasserstoff, steigt auf, weil es leichter ist als Luft. Es verursacht Explosionen, die Grubenarbeiter nennen es Schlagwetter, es ist brennbar. Ich fantasiere lieber von den Windtürmen der persischen Lehmarchitektur. Man findet kaum noch Bauleute dafür. Die letzten sind Methusalems wie ich selbst.
Die Lehmtürme müssen mindestens sieben Meter hoch sein. Wie sollte ich ein Gerüst besteigen. Es lohnt nicht, darüber Worte zu verlieren.
Auch nicht über die sogenannten Probleme. Zum Beispiel über meine Altersprobleme. Besser wäre es, den Begriff Sorgen statt Probleme zu verwenden. Probleme lassen sich immer lösen, wir wollen sie lösen, weshalb sie sich dann anhäufen. Aber wir sollten uns nicht überflüssigerweise belasten. Für mich stellt es eine Belastung dar, als müsste ich ein sieben Meter hohes Gerüst besteigen, wenn siebzig Nationalökonomen sich in einem Aufruf an die Weltöffentlichkeit wenden, um das Vertrauen der Völker zurückzugewinnen. Regagner la confiance des peuples. Winning back the people. Als wäre dieser Wunsch nicht schon in der griechischen und später römischen Antike bekannt gewesen. Wenn absehbar wird, dass es nicht gelingt, dieses Vertrauen zu gewinnen oder zurückzugewinnen, weil das Volk etwas anderes will, kommt der gute Diktator oder der blendende Kaiser, der – im Besitz von jedermanns Vertrauen – die Lösung bringt.
Demokraten haben ihm das Lager bereitet, Wein und Abendessen hingestellt, haben jede Falte seines Lakens glattgestrichen, damit er selig träumen kann.
Soll ich nun davon sprechen, dass die Demokraten schon kurzfristig ihrerseits eine immense Gefahr für die Demokratie sind – nein, auch davon will ich nicht sprechen. Sie wissen es selbst. Sollten sie es aber über all die Jahre nicht gemerkt haben, was soll ich dann tun. Die Feinde der Demokratie wissen es jedenfalls gründlich, wie die Schwächen der Demokratie ausgenützt werden können.
Die vereinten Nationalökonomen verkünden mit einem Vertrauen, das angesichts der universalen Gesetze kaum zu begründen ist, es gelte, neben der Aufrechterhaltung des Wachstumspotenzials die Reichen zu besteuern. Vielleicht würde es nicht schaden, brumme ich vor mich hin, zu definieren, welche Reichen gemeint sind. Die Reichen der industriellen Produktion, des Handels, der Popmusik, vielleicht sogar der Poesie. Wer ist reich, was bedeutet es, reich zu sein. Vielleicht denken sie an die Reichen der Finanzwirtschaft, die ihre Arbeit unabhängig vom Überwachungsapparat der parlamentarischen Welt, notabene von den physischen Gesetzen verrichten. Ohne sie gibt es keinen Kredit.
Nicht ich, sondern Helmut Schmidt wetterte zehn Jahre vergeblich gegen ihre Finanzprodukte, bis ihr Luftschiff endlich die Seile zur Realwirtschaft und den Steuerbehörden zerschnitt. Parlamente, schafft Gesetze! Dann verstummte er unerwartet. Warum kam mir das nicht früher in den Sinn, sagte er zu sich, wie konnte ich in meinem Alter so töricht sein. Ein Nationalstaat schafft vergeblich Gesetze. Selbst Europa wäre dazu nicht in der Lage. Schmidt war nun wirklich kein Fantast. Auch ich würde die Utopie einer Weltregierung ungern in meinen Gemüsegarten pflanzen. Selbst Enzyklopädisten konnten nicht voraussehen, dass der Begriff der Universalität zu einer so grossartigen Kopie käme. Französisch ist er noch schöner: mondialisation. Wobei die universalen Gesetze bestehen bleiben und wirken. Wir stimmen nicht über sie ab.
Das durch die Besteuerung der Reichen erworbene Geld, sagen siebzig empfindsame und geistreiche Nationalökonomen einhellig, müsse man unter den Armen und jenen Industriezweigen aufteilen, die global eine nachhaltige Entwicklung fördern. Wir wissen ja nicht einmal genau, was unter einer nachhaltigen Entwicklung zu verstehen ist. Nachhaltigkeit ist vielmehr ein Produkt weltweiter Zwangsvorstellungen. Wo sollen wir zum Beispiel die Kosten für die Kriege um den Lithiumabbau verbuchen. Oder wo die chemische Wasserverschmutzung durch die Herstellung von Akkumulatoren. Das Soll bedeutet an sich Zerstörung, obwohl es einst eine grosse zivilisatorische Erfindung war. Es klammerte sich an die Idee des Fortschritts, trotzdem verstellt ihm das Haben den Weg. Zu jedem Soll gehören mindestens tausendundein Haben. Doch siebzig Nationalökonomen gemäss muss das Geld so aufgeteilt werden, und zwar unbedingt, dass keine Konzessionen an den Protektionismus gemacht werden. Eine Forderung, an die es sich zu halten gilt. Auch ich halte mich daran. Auch du sollst dich daran halten. Freilich müsste man, damit keiner auf einen gegenteiligen Gedanken kommt, die Quadratur des Kreises erfinden.
Auch die angesehenen Senatoren haben damals, als es wieder grosse Probleme gab, als um sie herum in der berühmten Demokratie alles mit Getöse zusammenkrachte, nicht zugegeben, womit sie so danebenlagen, was sie in wessen Interesse verbockt hatten, warum sie zum höchsten Grad des Populismus wechselten, und warum sie ihre Reden von Sophisten schreiben liessen. Wenn sich auch die Sophisten nicht mehr beim Volk durchsetzen können, dann können wir nur noch mit einem Diktator oder Kaiser eine klare Rechenschaft über unsere Tätigkeit vermeiden.
In Europa gibt es zurzeit keine nichtpopulistische Regierung. Ein interessantes Phänomen. Ich werfe es den Senatoren nicht vor. Im Zeichen von Fortschritt, Entwicklung und Wachstum schuften sie an der Wiedergewinnung der Gunst des Volkes und an der Abwendung offensichtlicher physischer Schäden. Sie können tatsächlich nicht gegen die utopischen Wünsche ihrer Wähler arbeiten: dass alles täglich, ja stündlich mehr und besser wird. Es gibt niemanden, der das nicht wünschte. Wobei die Wahlperioden von vornherein eine verlässliche langfristige Planung verunmöglichen. Man verspricht, kann die Versprechen aber nicht einhalten. Dann verspricht man es von neuem. Vielleicht treibt das Schicksal so sein Spiel. Die guten armen europäischen Regierungen sehen sich gezwungen, auf Erfahrung, Wissen und jede einzelne Wissenschaft zu spucken. Womit sie wiederum ihren Wählern schmeicheln. Sie wollen Meinungen, sie untersuchen, wer welche Meinung von ihnen hat. Wer eine deskriptive Philosophie für sich wünscht. Oder eine Wissenschaft, die nicht alles weiss und darum mehr Fragen aufwirft als Antworten bereit hält. Die Volksversammlung kann es nicht dulden, dass keine definitiven Lösungen versprochen werden. Gratis Bier und ein ewiges Leben.
Doch ist die menschliche Sehnsucht nach Besitz und Akkumulation beileibe kein Spass. Fortschritt, Prosperität, Optimierung heisst ihr Zauberwort. Wie schön wäre es, wenn die Schöpfung sich an unsere Gegebenheiten anpassen würde. Nur sollten wir aufhören, immer mehr zu akkumulieren. Sofern wir Kants ethischen Imperativ ernst nehmen. Wir sollten aufhören, durch Diebstahl, Betrug, Korruption, Raub, Schmuggel, Schwarzmarkt und organisiertes Verbrechen wesentlich mehr anzuhäufen, als wir mit zwei Händen, verzeih Herr, durch Geistesarbeit verdienen können.
Ich habe nichts gegen spontanen Selbstbetrug, gegen Ignoranz, Lüge, Mimikry oder Heuchelei, auch nicht gegen Hypochondrie. Das sind mentale Schutzmechanismen, sie resultieren aus einem unverstandenen Kampf gegen das Unbeherrschbare und Asymmetrische der Schöpfung: von Einzelnen und Gesellschaften, von Kulturen und Sprachen.
Doch wie immer wir auch beschaffen sein mögen: Wahrnehmung, Begreifen und Erkenntnis sind auch dann drei aufeinanderfolgende Operationen, wenn das Soll die volle Macht beansprucht. Die Reihenfolge der Operationen ist bindend. Eine Gegebenheit, so wie der Zwang zur Akkumulation.
Was wir nicht wahrgenommen und begriffen haben, können wir nicht zur Erkenntnis verarbeiten.
Auch Tänzer können die Schwerkraft nicht überwinden, aber sie zeigen, wie sie funktioniert. Damit wir anderen, wir alle, uns keine Illusionen über unsere Möglichkeiten machen.
Der Mensch ist ein schutzbedürftiges, auf Sicherheit angewiesenes Geschöpf, nach Pascal zerbrechlich wie ein Schilfrohr, gewiss, doch seine geistigen Fähigkeiten gehorchen leider nicht in allen Teilen den Bedingungen der Schöpfung. Es gibt keinen Körper ausserhalb der Natur. Und keinen Menschen, der nicht den physiologischen Gesetzen der Wahrnehmung und des Begreifens unterworfen wäre. Selbst in der Schweiz kann keine Volksabstimmung darüber befinden. Das Herz fragt nicht, ob es vierzigtausendmal am Tag schlagen soll. Tut es das nicht, ist es im Blutkreislauf zu einem Hindernis gekommen. Trotzdem strebt der Mensch nach Symmetrie, zu Recht, damit es nicht zu einem Hindernis kommt; selbst Berge räumt er aus dem Weg, womit er unvermeidlich für seine Lieben und sich selbst asymmetrische Verhältnisse schafft. Nicht, weil er bösartig und verantwortungslos wäre, vielmehr ist die Schöpfung selber nicht symmetrisch, sie orientiert sich nicht an menschlichen Ordnungskonzepten. Und wenn sich der Mensch doch einmal Symmetrie vorlügt und glaubt, er hätte eine Welt der Gleichberechtigung und Freiheit geschaffen, überlegt er doch im nächsten Moment, wie er seine Mitmenschen im eigenen elementaren Interesse an der Nase herumführen kann. Er lebt in einer ständigen Diskrepanz zwischen seinem erklärten Willen und seinem Handeln. Und er überdeckt diese Kluft mit dem, was wir Hoffnung nennen.
Darum ist der Senat eine gefährliche Einrichtung, auch für einen selbst. Seine starken Sicherheitssysteme, die dafür sorgen, dass der Status quo erhalten und die grosse Transformation ausbleibt, beschädigen nicht nur das Denken der Allgemeinheit, sondern auch die Wahrnehmung des Einzelnen. Nur schweigt man darüber. Es gehört sich nicht, davon zu reden. Gehört sich nicht, es zu bemerken. Die allgemeinen Schutzmechanismen zwingen jeden, es nicht zu bemerken, ja wegzusehen.
Nach einer Weile verdummt dann jeder.
Bloss kein Misstrauen und keine Schwarzmalerei. Stattdessen Zuversicht, was die Zukunft anbelangt. Sollen sie mich mit den zwei sträflichen Begriffen der Moderne verschonen, die, die an den Fortschritt, an die Zivilisation glauben, weil sie die Entfaltung des Menschen befürworten. Optimisten. Allerdings nehmen sie sich Dinge vor, die existieren könnten, aber nicht wirklich existieren. Was ihre innigen Diskurse nicht nachvollziehbarer macht. Die weltweite Heuchelei und Hypochondrie wirkt sich dauerhaft auf die Wahrnehmung des Einzelnen aus. Der Sinn oszilliert qualvoll zwischen Meinung und Fakt, zwischen Realität und Wunsch. Kollektive Bewusstseinsinhalte grosser Sprachfamilien geraten ins Wanken. Ich nenne ein sehr grobes Beispiel. Es hat drei Jahrzehnte gebraucht, bis einige Bürger Westdeutschlands erkannten, dass die Bewohner der neuen Bundesländer im Osten eine andere Biografie hatten und haben würden. In einer deutschen Gruppe wurde Gewalt durch freie Entscheidung ausgelöst, und nicht etwa, weil deren Mitglieder von vornherein so intelligent waren, dass sie die Freiheit der Knechtschaft vorgezogen hätten, sondern weil die Siegermächte es so wollten. Sie waren streng. Den Bürgern aber blieb infolge der grossen Zerstörung nichts. Dies war das Soll. Während in der anderen Gruppe geistige und physische Gewalt konstant aufrechterhalten wurden. Die Kontinuität von Diktaturen kann man vernünftigerweise weder ertragen noch im Zeichen mentaler Gesundheit abwehren oder durch einen Trick ausschalten. Und so gestalteten sich die Biografien dieser Menschen nicht darum so, weil sie ungeschickt im Tricksen gewesen wären. Vielmehr taten sie, als gäben die fortwährende Knechtschaft ihnen Freiheit, wobei wir angesichts dieser Lüge Ursache und Wirkung nicht verwechseln dürfen. Churchill und Roosevelt haben im Interesse des gemeinsamen militärischen Erfolgs Stalin in Jalta die ganze riesige Region als Beute überlassen. Da, nimm. Auf einem einzigen Blatt Papier. Manchmal entscheidet so etwas über die komplette Biografie eines Menschen.
Um zu überleben, duldet der Mensch nicht nur Gewalt, er übt sie auch aus. Das ist seine einzige Genugtuung in der Diktatur. Ich werfe es ihm nicht vor. Wenn er nicht genug niederträchtig wird, treten ihn gleich die Anderen nieder. In solchen Situationen sagen manche zu ihrem Überlebensinstinkt: lieber will ich sterben. Es waren schon immer wenige, werden immer wenige bleiben, die unter Umständen nicht überleben möchten. Die sind auch keine Helden, doch sie unterscheiden sich von den unglücklichen Opportunisten der jeweiligen Mächte.
In der einen Gruppe befindet sich der seinem Schicksal ausgelieferte Mensch, versunken im Bewusstsein seines Opportunismus, in der anderen Gruppe der sein Schicksal gestaltende Mensch mit seinem eigenen Opportunismus. Der eine versucht zu ertragen und zu überleben, was der andere einzurichten und ausschliesslich nach seiner Vorstellung zu gestalten versucht.
Man kann sie nicht voneinander trennen. Noch haben das viele nicht begriffen, doch einige wenige schon.
Ein schwerwiegendes Wort, aber wir müssten wirklich mit unterschiedlichen Biografien gemeinsam regieren, zumindest in Europa.
Indes ist die Masseinheit der hochentwickelten, frei über sich verfügenden und von sich eingenommenen aufgeklärten Gesellschaften schon seit langem weder das Überleben noch der Meter. Auch nicht das Volumen, der Aggregatzustand, der Wärmegrad oder das spezifische Gewicht. Erfolg versprechen sie vielmehr sich und jedem sonst, der nicht herummisst, sondern beherzt in den vollen Topf greift. Seinen Erfolg kann er sofort am Gewinn ablesen. Unter dem Zwang des Erfolgs wählt er die Zwangsdissimulation. Seinen eigenen Willen drückt er sogar der Natur auf. Schneller, weiter, höher. Trotzdem können auch die aufgeklärtesten Nationalökonomen und populistischen Regierungen der aufgeklärten Welt nur noch von einem Erfolg berichten: dass sie zwischen Hayek und Keynes nicht mehr erfolgreich zu wählen wissen. Den einen wählen sie, den andern wollen sie.
Ich denke, wir alle sind durch Simulation und Dissimulation überlastet. Einerseits müssen wir so tun, als wären wir alle in Sorge, denn unsere Wunschlisten und Klagelieder sind endlos, andererseits müssen wir zwecks Aufrechterhaltung der Kontinuität so tun, als wäre alles in denkbar bester Ordnung und unsere Zufriedenheit perfekt. Die Kredite muss man zurückzahlen. Selbstmörderisch wollte man die Bedingungen des Wachstums nicht sichern. Wir werden also zahlen. Wir glauben an die Zukunft. Auch wenn unsere Kreditgeber wissen, dass die Zahlenreihe so lang ist, dass man sie mit der Elle nicht messen kann. Wozu eine Elle. Zum Glück sind wir gleichzeitig unsere eigenen Gläubiger und Schuldner. Wir haben nichts weggenommen, nirgends fehlt etwas. Was so allerdings nicht stimmt, denn ständig nehmen wir den Ärmsten und dem sogenannten Globalen Süden etwas weg. Nestlé hat sogar eine Minimalverpackung und Mindestpreise für uns erfunden. Und damit alles so bleibt und weitergeht, haben wir durch die Disziplin von Teilzahlungen die Haushaltsdisziplin unserer populistischen Regierungen herbeigeführt. Die im nationalstaatlichen Rahmen angehäuften Staatsschulden und die Summe individueller Schulden garantieren, dass die Wachstumsgrenzen der globalen Finanzmärkte nicht einsehbar und kontrollierbar sind. Die Erfolgsgarantie stimmt in den hochentwickelten und aufgeklärten Gesellschaften mit den Versprechen überein. Ein Triumphieren über jeden, um jeden Preis. Mindestens noch in dieser Woche. Nur durch das Tempo des ungebremsten Wachstums der Geldwirtschaft kannst du die Realwirtschaft aufrechterhalten. So funktioniert es. Die Reihenfolge hat sich verkehrt: nicht der Senat kontrolliert die Volkswirtschaft, sondern das Wachstumstempo der wirtschaftlichen Indizes den Senat. Nicht aus Arbeit wird Geld, sondern aus virtueller Geldvermehrung Arbeit. Arbeitsplatz ist das Zauberwort. Wir zahlen nicht, wie beim Händler, wir bewirtschaften unsere Schulden. Fantastisch. Die einzige Deckung ist die Zunahme der Zahlenreihen. Ich bin bezaubert. Wobei die Zahlenreihe nicht Wünschen folgt, sondern mathematischen Voraussetzungen. Damit reicht dieses geldwirtschaftliche Soll ans Universelle. Die alle vier Jahre stattfindenden freien Wahlen spielen dabei keine Rolle. Was von der Bevölkerung leider bemerkt wird, sie wittert Gefahr, man hat ihr das einzige Instrument genommen, nun protestiert sie, obwohl sie nicht annähernd kapiert, worin ihre Gefährdung wirklich besteht. Sie nimmt höchstens zur Kenntnis, dass es viel Zulauf gibt. Auf ihr Geld und Haus haben es jene abgesehen, die am beispiellosen Fiasko des beispiellosen globalen Erfolgs in dem Masse partizipieren, in dem der Ausstoss von Kohlendioxid und die Temperatur zunehmen. Oder es sind jene, die am Erfolg partizipierten, mit ihrem grossen Erfolg aber nicht Bankrott gehen wollen.
Wie soll ich in dieser dramatischen Situation, da jedes kleine Fiasko sich zum grossen Erfolg bekehrt, verstummen. Zumal die Kapazität meines Gehirns nachweislich grösser ist als die Gesamtheit der Informationen, die ich ihm zuführe. Ausserdem habe ich eine ausgelagerte Intelligenz mit einem ausgelagerten Gedächtnis. Das Sicherheitssystem meines Computers signalisiert mir, es hätte 137 unzulässige Versuche eines Zugriffs abgewehrt. Es ist auf wöchentliche Erfolgsmeldungen programmiert. So beobachten sich die auf Erfolg eingestellten ausgelagerten Intelligenzen mit ihren ausgelagerten Gedächtnissen. Ob es in dieser Woche dennoch jemandem gelungen ist, die Firewall zu durchbrechen, verrät mir mein Sicherheitssystem nicht. Das erfährt es sehr viel später. Aus verschiedenen Richtungen, von verschiedenen Absichten geleitet arbeiten wir uns gleichzeitig aneinander und an der einzigen Realität ab, sei es als pathologische Simulanten, auf Klage und Anklage geeicht, oder als zwanghafte Dissimulanten, auf ewigen Erfolg programmiert. Sei es, dass wir damit unsere Isolation vorantreiben oder unsere Separation.
Während ich im Schutz meines Sicherheitssystems an diesem Satz arbeite, verfolgen die Hacker ihren Weg, entfernen Steine, graben, umgehen Firewalls. Doch wozu darüber reden, das wissen alle. Die Hacker werden mal von Steuergeldern über die nationalstaatlichen Geheimdienste finanziert, mal global, mal bekommen sie ihr Geld durch Geldwäsche aus den Schatullen von Unternehmen, die über den Kopf der Nationalstaaten hinweg agieren. Ihre Arbeit wird dringend gebraucht. Ob von einzelnen Staaten oder privat. Der nationale Geldmarkt anerkennt, dass die wachsende Zahlenreihe zusammen mit den gewaschenen Geldern real ist, obwohl sie virtueller nicht sein könnte. Manchmal drückt er auf den Knopf der Druckerpresse, manchmal raubt er dir deine Ersparnisse. Er schafft solche Vermögen, dass niemand im nationalen Rahmen seine Netze danach auswerfen kann und nicht einmal die lokalen Diktatoren mit ihren dreckigen Pfoten hinlangen können, was kurzfristig im Interesse von uns allen liegt. Wenn wir jedoch weiter so beständig in zwei Richtungen arbeiten, wenn zwischen staatlich und privat, zwischen nationalstaatlich und global, zwischen legal und illegal kein Unterschied mehr besteht, aber auch kein erkennbarer Zusammenhang, weil der Zwang zum Erfolg ihn verdeckt und das Registriersystem so weder durchschaubar noch kontrollierbar wird, dann sind wir in grosser Bredouille.
Weil im Chaos zu befürchten ist, dass jeder gegen jeden Krieg führt.
Vielleicht brauche ich nicht zu sagen, dass im Abwasser der europäischen Haushalte die Verschmutzung durch Kokain zunimmt. Das deutet nicht nur auf wachsenden illegalen Handel hin, sondern auch darauf, dass der vermehrte Bedarf an Rauschmitteln auch die vermögenderen Gesellschaftsschichten erreicht hat. Unser Urin weiss mehr über uns, als wir von uns preisgeben. Gross ist das Angebot, noch grösser die Nachfrage und die Produktion, wodurch Landwirtschaft und Chemie wirklich prosperieren, was die staatlichen Institutionen, die mit Waffen und Geheimdiensten gegen Anbau und Handel kämpfen, mit ihren eigenen Vernichtungsmitteln nur teilweise hinkriegen. Uns, ob reich oder arm, kommt ihre Hilflosigkeit zugute, allerdings reduziert sie wesentlich unsere Überlebenschancen. Nun behaupten die Archäologen aufgrund von Proben, schon der Vormensch habe Rauschmittel genommen. Sogar die Tiere, fügen Zoologen hinzu. Sie suchten Orte auf, wo sie rauschgifthaltige Pflanzen finden. Das sei gefährlich, doch folgten sie einem Instinkt. Im Krieg, den jeder gegen sich selbst und gegen alle führt, wäre es schon aus diesem Grund lohnenswert, die Begriffe Individuum und Gemeinschaft neu zu definieren.
Es gab kein Zeitalter, das grundsätzlich über ein so grosses Wissen aus so vielen Wissensbereichen verfügte wie das unsrige. Verfügen setzt freilich voraus, dass wenigstens einige die Zusammenhänge zwischen den Erkenntnissen erfassen. Und zwar durch ein holistisches Wissen, innerhalb der Koordinaten von Raum und Zeit. Solange bleibt es lokal. Nicht nur dicht aufeinanderfolgende Diktaturen, auch aufeinanderfolgende Utopien haben das Selbstbild des Menschen umgeformt. Ein falsches Selbstbild aber versperrt den Weg für das Begreifen.
Mit seinen Vernetzungen bewegt sich das menschliche Bewusstsein aller Wahrscheinlichkeit nach in einem vierdimensionalen oder gar mehrdimensionalen Raum, während die Kosmologen nur drei kennen. Sie haben Annahmen, nämlich die Berechnungen der Mathematiker. Auch haben sie einiges mit Raumteleskopen fotografiert, wissen aber nicht, was es ist. Am ehesten gleicht es dem Abfluss einer Badewanne, wenn man den Stöpsel entfernt. Warum sollte ich also ständig von einem Ganzen sprechen, wenn ich die Position seiner Teile nicht kenne. Lieber gehe ich hinaus und hacke ein wenig Brennholz.
Ich gehöre zu den Menschen, die in der Hitze viel mehr Holz für den Winter hacken, als sie verheizen können. Es soll kein Mangel herrschen. Doch was zum Teufel soll ich verbrennen, frage ich mich, um den Ausstoss von Kohlendioxid in der Erdatmosphäre nicht zu steigern. Und müsste ich jetzt davon reden, dass ich nicht zu Fuss nach Zürich gekommen bin? Auch den Kühen können wir das Furzen nicht verbieten. Warum sollte ich im Gefühl eigener Unzulänglichkeit nicht die Grenzen des Wachstums sofort und persönlich ausdehnen wollen? Obwohl die geistreicheren Naturwissenschaftler im Club of Rome schon vor einem halben Jahrhundert ihr Wort erhoben, dass es so nicht weiter gehen könne. Seither reisen sie von einer Konferenz zur andern, während die Fluggesellschaften die Gewinne einstreichen und nicht im Traum daran denken, sie so zu verteilen, wie es die siebzig aus Berlin in alle Welt fliegenden Nationalökonomen vorschlagen.
Über Gemeininteressen würde ich erst dann sprechen, wenn ich wüsste, was Gemeinschaft ist. Was nicht. Was ich selbst bin. Wenn ich überhaupt ich bin, und nicht meistens wir. Eine Enzyklopädie kann niemand allein schreiben. Wenn ich zuverlässige Angaben brauche, greife ich auf ein Lexikon zurück, dessen Verfasser wiederum griffen auf die Enzyklopädisten zurück, diese aber auf die Bibliotheken der Geistlichen und auf mündliche Überlieferungen. Denselben Schatz qualifiziert die Künstliche Intelligenz nach Vorkommen und Häufigkeit. Zwangsdissimulanten haben sie auf Erfolg geeicht. Es ist in Ordnung, dass der Mensch am Morgen mit seiner Stimme die Stille zerschlägt und bis am Abend seinen Beitrag zur täglichen Lärmverschmutzung sichert, doch wer spricht eigentlich und worüber, wann und wie wurde das, was er zu sagen hat, durch das Opportunitätsdenken der Epoche verzerrt? Wie soll ich verstehen, wen ich da auf welche Art im allgemeinen Lärmgetöse vernehme?
In Tokio ist es gerade still geworden, in Pfäffikon lauter. Doch mit wem soll ich in Pfäffikon über Gemeinsames sprechen. Über individuelles oder kollektives Bewusstsein. Vielleicht mit protestierenden konservativen Eltern über Gemeinsamkeiten, wozu ich wissen müsste, welche Gemeinsamkeiten sie miteinander teilen. Zum Beispiel in Bezug auf Homophobie. Oder ein andermal über dies und jenes. Vielleicht sollte ich mit dem entlassenen Lehrer sprechen, der gerade aus der Gemeinsamkeit ausgestossen wurde. Da geht es doch auch um Gemeinschaftlichkeit. Oder über Gemeinsamkeiten in einer Strasse von Damaskus, was auf Tokio oder Pfäffikon übertragen werden kann. Ständig begegne ich einem Gruppendenken, das sich gegenseitig ausschliesst, überschneidet oder bestätigt. Vielleicht wäre Blase der treffendste Kategorisierungsbegriff für eine neue Enzyklopädie. Wer spricht gerade in der Blase. Wer hält sich gerade wann in welcher Blase auf.
Ich weiss nicht, was in Pfäffikon öffentliche Meinung bedeutet, wenn sogenannte konservative Eltern gegen einen sogenannt schwulen Lehrer zu Felde ziehen. Was ist das für eine Auffassung von Gemeinwohl, wenn man im Namen einer christlich oder islamisch fundamentalistischen homophoben Gesellschaftsgruppe jemanden ausschliesst. Ausserdem sind konservativ und schwul keine dualen Begriffe. Weder Pendant noch Gegensatz. Wozu sollten sie gegeneinander zu Felde zu ziehen. Selbst im erotischen oder affektiven Sinn des Wortes sind sie keine Gegensätze. Es gibt kein Säugetier auf Erden, das beim Geschlechtsverkehr ohne Friktion auskäme, um zu einer Ejakulation zu gelangen. In diesem Sinne ist jedes Lebewesen total konservativ. Wenn ich Steuern zahle, muss mein Status a priori im Zeichen der Gleichheit stehen. Warum geben die Demokraten jenen nach, die die Demokratie en bloc aus der Schöpfung ausschliessen. Diese Frage hängt ebenfalls seit Jahrtausenden in der Luft. Wenn ich katholisch bin, und wieso sollte ich es nicht sein, und vom Oberhaupt der Katholiken, Papst Benedikt, erfahre, dass nur die Katholiken selig, alle andern aber verdammt werden, dann habe ich als Calvinist umsonst im Bewusstsein der Prädestination gelebt.
Mit Blick auf ihre Religions- und Kolonialkriege können auch die feinsten Europäer, mögen sie noch so sehr mit ihren Sèvres-Tassen klimpern, nicht so tun, als verstünden sie diese Sprache nicht. Sie verstehen sie nicht nur, sie sprechen sie mit ihren verschiedenen Idiomen fliessend. Ich zumindest habe in meinem langen Leben kaum jemanden getroffen, der nicht Rassist gewesen wäre. Dagegen vermochten selbst die rassistischen Bewegungen der Antirassisten nichts auszurichten.
Leider gibt es keine Privatangelegenheit, die nicht in das kollektive Wissen eingebunden wäre. In Biologie, Geografie, Ethnologie, Religion, Geschichte, Linguistik, Kultur. Auch wenn ich, eingeschlossen in mein Ich, unverwechselbar ich bleibe. C’est lui, kann mein Freund zu Recht von mir sagen. Die Identität und Selbstbestimmung der Uiguren und Jesiden beeinflussen die weltweite Kalkulation ebenso wie die der Katalanen. Mondialisation und Globalisierung, wie immer sie sich gegenüber den Universalien verhalten, haben die Grenzen so passierbar gemacht, dass jeder eines jeden Nachbar ist. Leider. Wie viel einfacher war es zu Zeiten meines Grossvaters, eines Grossgrundbesitzers, in den Salons von Karlsbad, Biarritz oder Brighton. Als Page diente ein hübscher kleiner Schwarzer. Hätten bloss die englischen und französischen Herren nicht gleichzeitig wieder einmal die halbe Welt mit dem Lineal aufgeteilt. Und zur höheren Ehre des Christentums ihnen nicht genehme «primitive Stämme» niedergemetzelt. Hätten die Konquistadoren bloss nicht zufällig Amerika entdeckt, überall Gold und Kunstschätze geraubt und die Urbevölkerung im Namen der höher entwickelten europäischen Kultur und Zivilisation durch Infektionen und Schusswaffen ausgerottet. Hätte man bloss nicht halb Afrika zur Sklaverei gezwungen und im Zeichen von Fortschritt und Wachstum Gastarbeiter in die Schweiz geholt, damit sie den Abort reinigen. Gastarbeiter, von denen sich dann, mit Max Frisch gesprochen, anderntags herausstellte, dass sie leider Menschen sind, wenn auch mit einer anderen Religion und seltsamerweise mit anderen Biografien.
Meine Teilhabe am Kollektiven ist schon darum grösser als die des Kollektiven am Individuellen, weil die Geschichte des Einzelnen einsehbar ist, die kollektiver menschlicher Existenz jedoch nicht. Das Einzelne ist immer konkret, das Kollektive immer abstrakt. Eine grosse Frage bleibt, ob dessen Gruppen und künstliche Intelligenzen zu abstraktem Denken fähig sind. Wahrscheinlich nicht, behaupte ich. Das Dorf kann nicht denken, weil es keine Person ist. Auch eine Stadt, eine Nation, ein Volk denkt nicht, warum sollte also eine Maschine es können. Sie wird von Menschen, Personen programmiert, und zwar mit der grössten Selbstverständlichkeit auf Erfolg. Die Sprache jedoch denkt, an unserer statt resümiert sie ihre ganze Geschichte. Die Denker haften mit ihrem Eigennamen, doch ihr Denken leitet sich nicht von ihrem Eigennamen ab. Dörfer und Städte haben gleichwohl Meinungen und Urteile, vollstrecken diese auch. Mit Schwertern, Guillotinen, Stromschlägen, mit dem falschen Dualismus von Pessimismus und Optimismus, wenn es denn sein muss.
Es gibt keinen Glauben, in dessen Namen sie ihre Urteile nicht vollstrecken würden. Von anderen wissen sie, wie es geht. Jahrhundertelang haben sie Katzen verfolgt, weil diese angeblich vom Teufel besessen waren. Das Denken Einzelner – das von Kant oder das meine – vergeht in kurzer Zeit, die Meinung des Dorfs aber hält sich, zusammen mit der Verfolgung der Katzen, sie bildet Schichten, häuft und türmt sich auf, ist zeit- und klimabeständig und bleibt mit allem Seienden in Beziehung. Womit ich nicht sagen will, jedes noch so kleine Individuum mit seinem Bewusstsein, seinem Selbstbestimmungsrecht und seinen persönlichen Spuren wäre nicht wichtig. Der in genetischen Codes und Sequenzen feststellbare Unterschied zwischen Frauen und Männern beträgt nur zwei bis drei Prozent, doch unsere individuellen Leben und Geschichten unterscheiden sich erheblich. Viel Gemeinsames lässt sich leugnen, nicht aber die Tatsache, dass wir alle einen Vater und eine Mutter und an beide Anteil haben. Und nun soll ich mit einem solchen Gemeinplatz in Pfäffikon hausieren. Über differenzierte Dinge soll man nicht undifferenziert sprechen.
Höchstens lässt sich mit Sokrates sagen, dass Vermutung und Wissen, Meinung und Wahrheit zweierlei sind. Es gibt doch Erkenntnisse, die gleichrangig mit Naturgesetzen sind. Die Quellen des Wissens versiegen zum Glück nicht. Die Quellen des Wissens überflüssiger Dinge aber sind geradezu unerschöpflich.
Aus dem Ungarischen von Ilma Rakusa