Januar 2010

Abgekartet

von Dominik Busch
Jahresthema: Im Jahr 2050
Monatsthema: ---

Für J. L. B.

Lautlos glitt die Obahn über das flimmernde Meer der Solardächer. Linus Borg sah mit dem linken Auge aus dem Fenster, während auf dem implanted eye monitor seines rechten Auges die Nachrichten liefen. Die Sprecherin berichtete von den erneuten schweren Dammbrüchen an der Nordsee, den Flüchtlingsströmen aus Norddeutschland und der Benelux Staaten. Der Waffenstillstand zwischen der Northafrican Liberation Army (NLA) und dem Androidenheer der Eurasian Union (EAU) halte noch immer an. Beide Heere stünden sich nach wie vor in der Iberischen und in der Italischen Wüste gegenüber. Die Friedensverhandlungen seien in vollem Gange. Alles spreche dafür, dass friedlichere Zeiten anbrechen würden.

«Suchen Sie die Adresse auf, die jetzt auf ihrem HRM erscheint!», hatte Trout gestern Abend zu ihm gesagt.

«Henrik Lund, eremitierter Professor für Neuronomie? Und wer soll das sein?», fragte Linus und blickte auf seinen Handrückenmonitor.

«Aus zuverlässiger Quelle habe ich erfahren, dass es dem schrulligen Alten gelungen ist, einen Apparat zu bauen, mit dem man Gedanken lesen kann.»

«Ach, was?»

«Gehen Sie hin und prüfen sie die Sache! Danach wissen wir alle mehr», sagte Trout. «Ich brauche ihnen nicht zu sagen, was dies für ihr persönliches Fortkommen in der Politik bedeuten würde, wenn sie diese Gabe besässen. Und denken Sie auch mal an die Partei.»

«Und woher wissen Sie…?»

«Sein Sohn ist einer von uns.»

«In unserer Partei? Kenne ich gar nicht.»

«Er heisst Nils. Vielleicht ja ein Argument mehr für seinen Alten. Sie verstehen mich?»

Linus schaute sich im Innern der Obahn um. Auf einem Plakator gegenüber liefen Werbespots: ein Reiseunternehmen pries Tauchkurse im Korallenriff «Shanghai» und Kamelreisen durch die Pekinger Wüste an. Per Fernbedienung veränderte Linus den Knoten seiner Krawatte, passte das Grau seiner Augen dem Jackett an und kämmte dann seine frisch implantierten Haare.
Mit einem sanften Ruck hielt die Obahn. Linus stieg aus. In kurzer Zeit brachte ihn einer der öffentlichen Solo-Gleiter von der Haltestelle zum Haus des Professors. Ein schmiedeisernes Tor führte ihn in einen kleinen Park. Wie eine Schlange wand sich ein Pfad aus Kies durch den grünen Garten; einige Obstbäume säumten den Weg. Bald stand Linus vor einem mit Efeu umrankten Schlösschen. Da eine Klingel fehlte, pochte er an die schwere Tür.

«Mosca mein Name. Wen darf ich dem Professor melden?»

«Borg, Linus Borg.»
Der Lakai in Livree führte ihn in einen dunkel getäfelten Salon. Linus glaubte sich in einem Museum: Boden, Wände und einige eigenartige Gegenstände waren aus einem dunkelbraunen, ihm unbekannten Material. Der Sinn der vielen herumstehenden Gegenstände war ihm nicht klar. Er vermutete, dass Professor Lund offenbar noch immer avirtuelle Objekte in seiner Wohnung aufbewahrte. Die Funktion der sperrigen und klobigen Gegenstände musste somit im Tragen oder Umschliessen dieser avirtuellen Sachen bestehen. Linus glaubte, mal gehört zu haben, dass man diese Gegenstände in früheren Zeiten (als Hab und Gut noch eine Frage der Haptik war) ‹Möbel› genannt hatte. Der Anachronismus erregte sein Zwerchfell. Erheitert trat er auf eine Art Gestell zu. Dicht aneinandergereiht lagerten dort etwa handgrosse Objekte, auf denen Personennamen und eine kurze Notiz zu lesen waren. Linus erinnerte sich dunkel daran, dass er als Teenager hinter der Lichtvitrine des Museums für Kommunikation ein Buch gesehen hatte. Diese Dinge hatten damit Ähnlichkeit. Waren dies also Bücher? Linus war sich nicht sicher. E. T. A. Hoffmann, Adelbert von Chamisso, E. A. Poe, Franz Kafka, H. G. Wells, Philip K. Dick, Stanislaw Lem, Kurt Vonnegut, Ray Bradbury… Keiner der aufgeführten Namen kam ihm bekannt vor. Obwohl er sich für längst veraltete Formen von Medialität nie interessiert hatte, ärgerte ihn sein Unwissen. Linus wusste, dass man immer ein Opfer dessen ist, was man nicht kennt, und so griff er wahllos nach einem Band mit Erzählungen eines gewissen J. L. Borges, als eine warme Stimme hinter seinem Rücken fragte:

«Oh, der junge Herr interessiert sich für Literatur? Dabei ist er zu jung, um diese Kunstform selbst noch miterlebt zu haben!»

«Guten Tag Herr Lund! Ich heisse Linus Borg.»

«Wie kann ich ihnen helfen junger Mann?»

«Ich…» Mit flammenden Worten erklärte Linus Borg, dass er begierig sei, die Kunst des Gedankenlesens zu erlernen; dass er, der trotz seiner jungen Jahre bereits Sprecher der Koalition sei, eine viel versprechende politische Karriere vor sich habe; und dass er (hier machte er eine Bemerkung über Lunds Sohn) sich in jedem Falle erkenntlich zeigen werde.
Professor Lund, der sich für dieses Angebot ausserordentlich zu interessieren schien, erging sich in einigen Ausführungen über Loyalität und die Verführung der Macht, kam dann seinerseits auf seinen Sohn Nils zu sprechen, der Mitglied derselben politischen Partei sei, und meinte, wenn Linus Borg verspreche, bei seinem Aufstieg stets an Nils zu denken, dann sei die Sache hiermit abgemacht. Linus reichte dem Professor die Hand und versicherte ihm, dass er diese Gunst nie vergessen und ihm stets zu Diensten sein werde.
Professor Lund klingelte hierauf seinem Diener, forderte ihn auf, Wasser für den Tee aufzusetzen und liess verlauten, dass er sich in der Zwischenzeit mit dem jungen Gast ins nebenan liegende Laboratorium verfügen wolle. Durch eine verborgene Tür gelangten sie in einen fensterlosen Raum, in dem allerlei seltsame Apparate herumstanden. Der Wissenschaftler setzte sich hinter ein Pult und hiess seinen Gast auf einer metallenen Liege gegenüber Platz zu nehmen. Nachdem der Professor eine Weile konzentriert auf ein dreidimensionales Hologramm geblickt, und immer wieder in schneller Folge mit beiden Händen verschiedenfarbig aufscheinende Ebenen und Elemente miteinander verknüpft hatte, zog er seinem Probanden einen eigentümlichen Helm über den Kopf, schnallte ihn auf der Liege fest und führte ihm dann mit geübtem Handgriff einen haarfeinen Infusionsschlauch in seinen Unterarm ein. Linus fühlte noch, wie sein Arm warm und schwer wurde, dann verlor er das Bewusstsein.

Als er wieder zu sich kam, blickte er geradewegs in Henrik Lunds Augen. Die Frage, ob alles gut gegangen sei, erübrigte sich, denn er wusste sogleich die Antwort: Transparent wie ein Holo-Monitor lagen die Gedanken des Professors vor ihm. Hatte Trout also Recht gehabt? Hatte es tatsächlich funktioniert? Ein leichtes Vibrieren in seinem Handgelenk zeigte Linus an, dass ihn jemand anrief. Er schnippte mit den Fingern, um den Anruf entgegen zu nehmen. Den Daumen seiner rechten Hand drückte er unterhalb des Ohres sanft gegen den Schädelknochen: Im Innern seiner Armknochen befand sich sein bone phone, die Schallwellen seiner Gesprächspartnerin wurden durch den Knochen seines Daumens auf seinen Schädelknochen, und so indirekt an seine Gehörknöchel übertragen; ein winziges Klebe-Mikro befand sich im Fingernagel seines kleinen Fingers. Kurz nachdem er seine Sekretärin an der Stimme erkannt hatte, wusste er bereits, was sie ihm mitteilen wollte: Der amtierende Vorsitzende seiner Partei hatte vor wenigen Minuten seinen sofortigen Rücktritt erklärt und ihn, Linus Borg, zum Nachfolger ernannt!

«Das gibt es doch nicht! Haben sie gehört Professor, ich neuer Vorsitzender der Rotliberalen! Und dann noch ihr verrücktes Gedankenlesen obendrein»,  rief er begeistert und umarmte den Professor. Dieser sagte: «Ich gratuliere! Vergessen Sie unsere Abmachung nicht!» Linus gestand, dass er den Posten des Koalitionssprechers einem alten Kameraden vorbehalten habe, doch er sei entschlossen, sein Versprechen zu erfüllen.
Bereits am nächsten Tag wurde Linus Borg als neuer Vorsitzender und Nils Lund als der neue Sprecher der Koalition in der Parteizentrale (das Gebäude hatte die symbolträchtige Form eines Raumgleiters) der Rotliberalen feierlich empfangen. Mithilfe seiner aussergewöhnlichen Begabung gelang es Linus Borg in kurzer Zeit, die politisch Gleichgesinnten hinter sich zu scharen und seine Feinde durch geschicktes Taktieren unschädlich zu machen.

Fünf Jahre waren vergangen, als man ihm aufgrund seiner aussergewöhnlichen Verdienste den Posten des Justizministers anbot und die Ernennung eines Nachfolgers in seine Hände legte. Als Professor Lund davon erfuhr, gratulierte er Linus von ganzem Herzen, erinnerte ihn an sein Versprechen und erbat für seinen Sohn Nils den frei werdenden Posten des Vorsitzenden. Linus sagte, er habe diesen Posten seiner engsten Mitarbeiterin vorbehalten, doch beabsichtige er sein Wort zu halten.

Eine Woche später wurde Linus Borg als neuer Minister unter dem Jubel seiner Parteigenossen ins Amt gesetzt. Die Laudatio hielt (immer wieder unterbrochen von Bravorufen) sein Nachfolger Nils Lund.

Vier Jahre waren vergangen, als der amtierende Vizepräsident über eine Affäre stolperte und seinen Rücktritt bekannt geben musste. Obwohl viele die Innenministerin favorisierten, fiel die Wahl des Präsidenten auf den bei der Aufdeckung der Affäre nicht unbeteiligten Justizminister Linus Borg. Als Professor Lund davon erfuhr, gratulierte er Linus von ganzem Herzen, erinnerte ihn an ihren heimlichen Kontrakt und erbat für seinen Sohn Nils den Posten des Justizministers. Der neu ernannte Vizepräsident Borg sagte, er habe diesen Posten seinem fähigsten Mitstreiter angeboten, doch sei er entschlossen,sein Versprechen zu halten.
Vierzehn Tage später wurde Linus Borg, begleitet vom Applaus der geladenen Gäste, in sein Amt gehoben. Die wenigsten waren überrascht, als er während der Ansprache Nils Lund als seinen Nachfolger verkündete.

Linus Borg erwies sich als ein mit allen Wassern gewaschener Aussenpolitiker, der die Interessen seines Landes geschickt zu verfolgen wusste. Von seinen Reden ging eine schwer erklärbare Faszination aus. Wo er sprach, da schien er den Leuten aus der Seele zu sprechen. Die Begeisterung war gross, als er nach drei Jahren seine Kandidatur für das Amt des Präsidenten verkündete. Borg for President! hallte es durch die Strassen der Hauptstadt.
Die Begeisterung war noch grösser als er sechs Monate später die Wahl gewann. Unter den E-Gratulanten war auch Professor Lund. Von ganzem Herzen wünschte er ihm alles Gute, gemahnte ihn an ihre Abmachung und erbat für seinen Sohn Nils den Posten des Vizepräsidenten. Präsident Borg sagte, er habe diesen Posten seinem besten Freund vorbehalten, doch würde er sein Wort halten.

Noch am selben Abend landete ein schwarzer Citroën in Henrik Lunds Garten. Vier Männer in grauen Mänteln holten ihn ab. Sie führten ihn in eine fensterlose Zelle, wo er die nächsten zwanzig Stunden verhört wurde. Man beschuldigte ihn, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein, was er reinen Gewissens bestritt. Als er nach seinem Sohn Nils, dem Vize-Präsidenten, verlangte, teilte man ihm mit, dass nicht zu erwarten sei, dass sein Sprössling dieses Amt antrete. Gegen Nils Lund würden dieselben Vorwürfe vorliegen, wie gegen den Professor. Auch sein Sohn befände sich gegenwärtig in Untersuchungshaft und würde verhört.

Als man dem Professor Bilder der Spektralwaffen und Nukleinbomben vorlegte, die man in einem geheimen Zimmer hinter dem Salon seiner Villa gefunden hatte, wurde ihm klar, dass er Opfer einer Intrige geworden sein musste. Da er die Anschuldigungen trotz der erdrückenden Beweise noch immer leugnete, beschloss man, ihn der Folter zu unterziehen. Professor Lund versicherte, er sei ein alter Bekannter von Präsident Borg und flehte darum, man solle ihn benachrichtigen. Man sagte ihm, dass man sehen wolle, was man für ihn tun könne und begann mit der ersten leidvollen Befragung.

Man war erstaunt über die Standhaftigkeit des alten Mannes. Auch am dritten Tag beteuerte der Professor unter Schmerzen noch immer seine Unschuld. Stattdessen hörte er nicht auf, nach dem Präsidenten zu verlangen. Am fünften Tag war die verabreichte Dosis schon so hoch, dass der anwesende Arzt sich gezwungen sah, einzuschreiten und die Befragung zu stoppen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Professor bereits einen Viertel seines Gewichts verloren. Sein Leib wurde von unkontrollierten Zuckungen heimgesucht. Mit dem Blick eines verängstigten Tiers starrte er zu Boden und sein Haar war komplett ergraut. Nach einer Woche wurde ihm mitgeteilt, dass sein Sohn Nils bei einer Befragung gestorben sei.
Als man ihn am nächsten Tag wie gewohnt auf die metallene Liege schnallte, ging man davon aus, dass der gebrochene alte Mann die folgende Tortur nicht überleben würde. Die Überraschung war umso grösser, als plötzlich Präsident Borg in Begleitung eines Vorgesetzten eintrat und darum bat, mit dem Terroristen allein gelassen zu werden. Unter Schmerzen richtete sich der Professor auf, um seinen Retter besser sehen zu können; doch als er diesem in die Augen sah, wurde ihm klar, dass niemand anderer als Linus selbst hinter all dem steckte. Wer sonst hätte die Macht gehabt, ihm eine solche Falle zu stellen? Und wer sonst hatte von dem geheimen Labor hinter dem Salon gewusst?
Mit letzter Kraft ergriff der Totgeweihte den Arm seines Henkers und bat um etwas zu trinken. Als Präsident Borg ihm diesen letzten Wunsch verwehrte, sagte der Professor, dessen Gesicht sich mit einem Schlag verjüngt hatte: «Wenn das so ist, werde ich mir wohl drüben im Salon eine Tasse Tee genehmigen!» Mit einem Ruck zog er Linus den Schlauch aus dem Arm, entfernte den Helm und schnallte ihn los. Benommen erhob sich der junge Politiker von der Liege und folgte seinem Gastgeber zurück in den Salon. Dort stellte der Diener gerade eine alte Porzellankanne mit dampfendem Tee auf ein rundes Tischchen. Auf einem Sessel, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen gekniffen, sass Trout.

«Mosca!»

«Zu Diensten, Herr Professor?»

«Mein alter Freund Igor und ich würden nun gerne unseren Tee einnehmen. Der junge Herr Borg verlässt uns. Bitte seien Sie so freundlich und begleiten Sie ihn zur Tür.»

«Sehr wohl, Herr Professor.»

Wie betäubt folgte Linus dem Lakai. Hinter sich hörte er das heisere Lachen der beiden Alten. Dumpf und schwer fiel die Tür hinter ihm ins Schloss; dumpf schlich er über die Kiesserpentine. Nach einigen Schritten kam die Sonne hinter einer Wolke hervor; die Obstbäume warfen lange Schatten. Niedergeschlagen senkte Linus seinen Kopf und blickte auf den Boden, doch nirgends konnte er seinen eigenen Schatten entdecken. Er heulte auf und rannte fluchend aus dem Garten.