Juni 2020

Abgespielt

von Nina Maria Metzger
Jahresthema: Klima- und andere Katastrophen
Monatsthema: Wintersonnenwende

Wenn ich mich unwohl fühle, dann beginne ich zu zählen. Ich zähle Gläser in der Bar, Holzdielen am Boden, die Streifen auf meinem T-Shirt, zuerst die roten, dann die weissen, dann beide. Das Zählen soll mich beruhigen. Ich zähle die Sekunden, wie lange ich dich ansehen kann, bis mir die Luft wegbleibt. Eins, zwei, sieben, Aus. Nicht lange.

Du schaust mich aus deinen schönen Augen an und weisst genau, dass du mir damit Pfeffer aufs Herz streust. Eins, zwei, Aus.

Ich schaue dich an, dich und deine Brusthaare. Eins, Aus. Und finde dich so unbeschreiblich schön. Du stehst vor mir auf der Probebühne und grinst, aber ich kann dich nicht ansehen. Ich starre auf die Tischplatte und denke an dich, an dich, wie du mir warst.

Und an Melonencremetorte.

Wenn das Zählen nicht mehr hilft, dann kralle ich meine Fingernägel in meine Unterarme, so lange, bis die Haut aufreisst, ratsch, ratsch. Da bist du, im selben Raum wie ich, aber so weit weg, ich kann dich gar nicht berühren, nichts von mir erwischt etwas von dir. Die blonden Härchen auf meinen Armen richten sich auf und es ist, als ob an meinem inneren Bahnsteig ein Zug vorbeifährt, andauernd durchfährt und nie stehen bleibt.

Dann zähle ich die kleinen Kratzer zwischen den aufgerichteten Härchen und du schaust mich an, mir ist das unangenehm.

Ich sehe uns an Silvester, zwischen all den Menschen an der Donau, uns an Neujahr, wie wir Johnny Cash hören und ich Senf auf meine Hose spritze, uns in unserer Lieblingsbar, wie wir versuchen unsere Gefühlswelten auszubreiten, uns Whisky trinkend bei mir im Badezimmer, uns in jedem Probenraum, küssend, uns auf der Strasse, tanzend und singend, uns auf dem Hauptplatz, wie ich dir sage, dass ich dich liebe, uns auf der Parkbank vor dem Theater in der Sonne, uns im Zug sitzend und du hältst meine Hand.

Ich sehe uns, dabei gibt es uns gar nicht.

Unser Bühnenmeister umarmt mich immer auf die gleiche Weise: er steht rechts neben mir, legt seinen linken Arm um meine Schulter und zieht mich zu sich, bis ich meinen Kopf auf seine Brust lege und meine Arme um ihn schlinge. Für eine Sekunde mache ich dann meine Augen zu, es fühlt sich gut an, so als ob mein Vater mich umarmen würde. Du siehst unglücklich aus, sagt er, und: komm. Im Aufenthaltsraum der Techniker macht er ein Bier auf und stellt es vor mich hin, legt mir eine Scheibe Brot auf einen Teller, ein Stück Speck, Senf und Paprika. Iss, sagt er und schaut mir zu, wie ich versuche den Speck zu schneiden, bis er mir das Messer aus der Hand nimmt.

Ich spüre wie sich die Tränenflüssigkeit in meinen Augen sammelt und kneife meine Lippen zusammen. Du arbeitest zu viel, sagt der Bühnenmeister und schiebt den Teller mit dem aufgeschnittenen Speck zu mir.

Das Herz ist ein Muskel in der Grösse einer Faust. Wenn ich eine meiner Hände zu einer Faust balle, dann sehe ich trotzdem noch die unzähligen Fältchen auf meinen Handflächen und all die Hohlräume zwischen meinen Fingern. Mein Herz ist manchmal mehr Hohlraum als Hand. Und wenn ich an dich denke, dann höre ich es ganz laut, mein Hohlraumherz.

Was ich an dir mochte, noch vor unserem ersten Kuss: Dass man alle deine Zähne sieht, wenn du lachst und wie du riechst, wenn du mich nach der Vorstellung umarmst.

Und danach noch zusätzlich: Deine Küsse, die schönen Filmküsse und die leidenschaftllichen, die, bei denen mein Herz mit Klopfen gar nicht mehr nachkommt. Die Art, wie du die Welt erklärst. Deine Stimme, wenn du vorliest. Diese eine Haarlocke, die immer unter deiner Mütze hervorschaut. Den Moment, wenn ich die Tür aufmache und du davorstehst und wie du dann Hallo sagst. Dein Gesichtsausdruck, wenn du mir Kuchen bringst.

Ich sitze auf der Fensterbank von meinem Badezimmer und schau zu, wie auf der anderen Seite von der Brücke aus Raketen in die Luft geschossen werden, ein Feuerwerk. Wie das zerbirst im Nachthimmel. So wie damals an Silvester, als wir, mein Bruder, du und ich auf der menschenvollen Brücke standen. Du warst so glücklich. Zumindest hat es so ausgesehen.

Du zerbirst auch langsam, aber Stückchen von dir bleiben stecken in mir, die meisten im Kopf. Das ist kein Problem für dich, du erfindest einfach neue Stückchen von dir.

So war das also, endlich wieder in der Stadt aufzuwachen, die ich liebe. Und neben dir aufzuwachen. Mich von dir küssen zu lassen und dich zu küssen und ein Schinkenbrot zu essen. Eine Ahnung davon haben, wie es sein könnte, wenn du mich sehen würdest, vielleicht sogar uns sehen würdest. Glücklich sein, möglicherweise.

Dann: mit dir unter der Dusche stehen, kichern, schwarzen Kaffee trinken, dir zusehen, wie du dein Notizbuch vor mir versteckst, dir im Museum in den Po zwicken und beim Italiener meine Hand auf deinen Schwanz legen.

Dich andauernd anfassen müssen, weil mich deine Haut magnetisch anzieht und zwischen all den Menschen sitzen, die wir kennen und noch viel mehr, die wir nicht kennen und deine Hand halten. So als wäre es die Bestimmung deiner Hand: meine zu halten, damit ich mich sicher fühle.

Die Maskenbildnerin umarmt mich und sagt leise: Wir haben’s alle schon gehört. So sorry. Aber wir machen jetzt ein Codewort aus, ja?  Und wenn es unerträglich wird, dann sagst du es und wir machen ihm das Leben zur Hölle. Da gibt es dann kein Zurück mehr, das muss dir klar sein. Wir stehen alle hinter dir. Kein Beleuchter, kein Garderobier, keine Putzfrau, kein Portier, keine Requisiteurin wird mehr mit ihm reden. Melonencremetorte.

Du sagst und machst Sachen, weil du dir vorstellst, ja so müsste es sein, so wäre es eine gute Geschichte. Bis du selbst nicht mehr weisst, was du spielst und was du bist, wo du anfängst und wo deine Rolle aufhört. Da gibt es keine Grenze mehr.

Ich bin ein Buch, das du ins Regal stellst, zwischen all deine anderen Bücher. Ob ich dir eine Widmung in den Ringelnatz-Gedichtband schreibe, hast du mich gefragt und ich hab es getan und dir einen Text geschrieben, den du schön finden sollst, dabei habe ich schon gewusst, was da falsch läuft mit dir. Bei dir muss immer alles jetzt sein und echt, meinst du, rein, aber nur in diesem einen Moment. Du willst heisse und innige Liebesgeschichten, dabei ist dir die Geschichte wichtiger als die Liebe. Das mit uns, das war auch so etwas – eine Liebesgeschichte ohne Happy End, die du dir ausgedacht hast, weil du dir eben gerne Geschichten ausdenkst.

Bleib noch, sage ich am Ende der Probe zu dir. Nur du und ich und meine Topfpflanze Heinrich sind noch da und wir legen uns auf die Probebühne. Heinrich nicht, Heinrich stelle ich dort ab wo das wenige Sonnenlicht hinfällt, bevor ich mich hinlege. Bald ist kein Licht mehr da, denke ich, die Tage sind so kurz, so schrecklich kurz geworden. Du hast deinen beigen Korkgürtel an, den du immer trägst und du lässt dir einen ziemlich eigensinnigen Bart stehen. Ich liege so nahe neben dir, dass ich an dir riechen kann. Du riechst nicht an mir, du schaust mich an und dann schaust du weg und ich beginne zu weinen und kann erst aufhören, nachdem ich bemerkt habe, dass du auch weinen willst. Du bemühst dich sehr, ich seh es dir an. Aber da kommt keine Träne, nur ein erzwungenes Geräusch und ein wenig Kinnbeben. Vielleicht lag da im Schauspielstudium nicht so ein grosser Fokus drauf. Du weisst eben nicht mehr so ganz, wie normale Menschen das machen.

Eine Tänzerin, eine wunderschöne, unschuldige Tanzstudentin hast du geküsst. Einmal, zweimal, dreimal, viermal, ich weiss nicht wie oft. Ob wir trotzdem weitervögeln hast du gefragt und mir sind die Oberschenkel ganz kribbelig geworden und meinen Blick habe ich auf den Fussboden geklebt wie flüssiges Karamell. Ich hab daran gedacht, wie wir uns im Garderobentrakt voneinander verabschiedet haben, grinsend und du hast mir gewunken während des Weggehens und bist über einen Mistkübel gefallen. Ich hielt das für eine Auswirkung unseres Verliebtseins, aber so war es nicht, so ist es nicht gewesen. Du fällst einfach ab und zu über Mistkübel.

Du bist mir ein Geheimnis, in dir drin, ein gesamtes Universum und ich kann nur die Milchstrasse sehen, nicht mehr.

Wummwummwumm. Da klopft es laut, fast schon schmerzhaft, mein Hohlraumherz.

Es ist Nachmittag, aber schon dunkel draussen, vor dem Bühneneingang, wo ich mit der Garderobiere stehe, die den Zigarettenrauch links an mir vorbei bläst und ziemlich streng und bestimmt sagt: Du musst da drüber stehen.  Dann tätschelt sie meine Schulter.

Ich bin ein Schmetterling und fliege über unseren Köpfen, ganz hoch über ihr und dir und mir, kann mein verletztes Ego sehen und scheisse dir trotzdem auf die Schulter. Vielleicht sogar ins Gesicht, ist doch nur Schmetterlingskacke.

Ich hab dich angeschaut, verzweifelt, und hab dich gefragt, warum du glaubst, dass alles gut wird. Weil wir verliebt sind, hast du gesagt, weil es schön ist mit uns, weil ich glaube, dass das etwas Grosses werden kann.

Aber immer wieder hast du auch gesagt: Ich will dir nichts versprechen, ich kann dir nichts versprechen. So als hättest du Angst davor, dass es auch einmal schön sein könnte. Als wüsstest du nicht, ob du es ertragen könntest, wenn es einmal nicht kompliziert zwischen uns wäre. Wenn unsere Tage miteinander länger wären, als die Nächte.

Die Leiterin vom Künstlerischen Betriebsbüro googelt den Namen der Tänzerin, in die du vielleicht, vielleicht aber auch nicht verliebt bist, du weisst es – natürlich – selbst nicht so genau. Wir starren in den Bildschirm und die Assistentin des Schauspieldirektors sagt: so schön ist sie gar nicht.

Unzählige Ichs kenne ich mittlerweile von dir. Und weil ich dich jeden Tag ansehen muss und nie wissen kann, welcher von dir du gerade bist, lege ich mir meine Krokodilhaut zu.

Die Krokodilhaut macht, dass du fast unsichtbar wirst, dass ich durch dich hindurchsehen kann, wie durch ein schmutziges Fenster. Egal welches deiner Ichs vor mir steht, ich kann sie alle nicht sehen, sie sind eine einzige dreckige Glasscheibe, nicht mehr.

Ich muss das tun. In mir ist ziemlich viel Liebe für dich, ich weiss nicht wo sie herkommt und sie ist so eigensinnig. Eigensinnig wie du und sie geht nicht weg, also behalte ich sie eben. Sie krallt sich um mein Hohlraumherz, drückt es fest zusammen, so dass es ganz klein wird und die Luft ausweichen muss. Pfffffffffft, macht es. Um das Herz herum, die drei Zentimeter dicke Krokodilhaut, an der alles abprallt, sogar du, jeder von dir.

Alle aus dem Ensemble sollen drei Sätze oder Verse aus dem Stück aufschreiben und an den grossen, stets abgeschlossenen Schrank im dritten Stock kleben. Nachts, wenn alle schon fort sind und nur noch ein Feuerwehrmann durch das leere Haus schleicht, stehe ich ganz lange vor den bunten Post-Its und suche deine Handschrift, die mir Liebesgedichte geschenkt hat.

Ich lese: Der meinen Platz einnimmt, der mir die Braut wegnehmen will. Und: Und sie begehrten sich etwa drei bis vier Mal am Tag. Und: Bevor du mich umbringst, bringe ich dich um. Perfekte Wahl.

In meinem Kopf rotiert eine kleine 2-Cent-Münze und fällt wie in Zeitlupe auf den Boden meines Innersten. Der dürfte zirka da sein wo mein Magen ist, denn da liegt sie nun schwer, viel schwerer als eine 2-Cent-Münze eigentlich sein sollte. In deinem Gesicht ist auch etwas, das da nicht sein sollte.

Einen Moment bin ich unachtsam. Ich hebe in der Requisitenkammer eine Schachtel mit der Aufschrift ABGESPIELT aus dem obersten Regalfach und gleichzeitig mit der Kartonbox fliegen viele quadratische, schwarze Krepppapier-Schnitzel auf mich zu. Sie segeln langsam auf den grauen Linoleum-Boden und in mich hinein, als wäre die Krokodilhaut gar nicht da. Es ist Winter, wir stehen im alten Ballettsaal und halten einander an der Hand. Vor uns eine sechs Meter hohe schwarze Wand und ein Meer aus diesen schwarzen Krepppapier-Schnitzeln und ich höre mich selbst, wie ich zu dir sage: Ich möchte mich ewig an diesen Moment erinnern, mein ganzes Leben.

Nein, das möchte ich nicht. Die Erinnerungen, die Finsternis, das Traurigsein. Aber wie fängt man damit an, etwas abzuschütteln, von dem man sich nicht lösen kann? Langsam gehe ich die Treppe hinunter, am Pausenraum vorbei, will zur Tür hinaus, aber es ist bereits schwarz draussen. Warum ist es schon wieder dunkel, frage ich mich und nehme die Hand von der Klinke. Der Portier hinter mir lacht, ich drehe mich zu ihm um, er sagt: Heute ist Wintersonnenwende. Morgen werden die Tage wieder länger, langsam, aber sicher, du wirst schon sehen.