Oktober 2005

Abschied

von Ivna Žic
Jahresthema: Brief
Monatsthema:

Schwesterchen,

Ich ging gestern zum Bus, denn es regnete, und Mama weinte und ich hielt es im Haus nicht mehr aus.
Da stand sie, mitten im Regen, und ihre grellen gelben Strümpfe schauten unter ihrem schwarzen Mantel hervor. Ihr Gesicht mochte ich nicht, schon seit dem Moment, als ich es zum ersten Mal erblickte. Die Schminke verschmiert, tropfend, die Nase so gross. Nur die Augen, wunderschön. So klar und blau, tief blau; du hättest sie gemocht.
Das Gesicht habe ich aber nur kurz gesehen, danach stand sie mit dem Rücken zu mir und der Regen tropfte langsam und schwer ihren roten Regenschirm hinunter. Alle anderen waren schon weg.
Gekommen und gegangen.
Zuerst kamen der Hund und die Frau; er war klein, rund und dick, etwas braun, und grau; sie auch, nur hässlich. Er hatte sie gezerrt, und sie ihn, und sie zerrten und zogen sich gegenseitig, und bellten und kamen nicht vom Fleck; fast nicht. Sie blieben nicht lange, nahmen den erstbesten Bus und verschwanden. Das war auch gut so. Sie stanken.
Dann kam der Junge. Er hatte ein blaues Spielzeugauto und seine Mutter nannte ihn Jan; ich mag den Namen nicht, das weisst du ja. Sie nahmen drei Busse nach dem Hund und der Frau.
Der alte Mann kam auch vorbei. Er sagte, er sei allein, aber das störe ihn nicht. Im Gegenteil. Das sei gut, sehr gut sogar. Allein sein ist immer gut.
Und einsam, doch das sagte er erst nach einer Weile, kurz bevor er einstieg, einen Fuss schon auf der Treppe. Ja, das sei er, einsam, murmelte er und verschwand im halb leeren Bus.
Und dann kam niemand mehr.
Und ich blickte auf die grosse weisse Uhr über mir, blickte auf den Sekundenzeiger und ertappte mich dabei, wie ich mitzählte, sinnlos, denn die Zeit stand ja doch still; und ich wartete, ebenfalls sinnlos, denn ohne Zeit bringt Warten nichts.

Der Sommer ist vorbei, Schwesterchen, und der Regen kommt nun häufiger. Dann fühlt sich Mama nicht so allein, wenn sie weint. Auch weht der Wind öfters, weht Papa ganz weit weg.
Schwesterchen, weißt du wie das ist, wenn der ganze Körper taub wird, wenn der Atem zu rasseln beginnt, ohne Grund eigentlich, denn du liegst nur da, auf deinem Bett, starrst auf die weisse Decke, starrst durch sie hindurch, an ihr vorbei – siehst sie gar nicht, denn du würdest viel lieber in den blauen Himmel blicken und die frische Luft einatmen, doch du hast nicht einmal die Kraft aufzustehen und das Fenster zu öffnen, ja kaum Kraft, die Hand zu heben und die Tränen wegzuwischen.
Warum eigentlich Tränen? Ich bin doch wütend, ich bin doch noch gar nicht traurig. Ich will schreien, nicht weinen. Weinen bringt nichts. Nichts. Was kann ich mit Weinen schon bewirken, ausser, dass meine Schminke verschmiert und ich nachher das Gesicht waschen muss. Muss ich sowieso, sonst sehen alle, dass ich trotzdem weine, und trösten mich. Ihr Trost, der ist doch nutzlos, der Trost, sie verstehen es doch alle gar nicht, es sind einfach Worte, die abprallen, zum Abprallen verurteilt sind, Mitleid, das ich nicht brauche, dummes Mitleid, mit dem sie gar nichts verändern können ? gar nichts.
Und dann sehe ich mir die Fotos an, sehe dich lachen und schreien, umarmen, am Strand, in der Stadt, im Zimmer, und es ist alles so falsch, so stumm, so leer. Ich sammle die Gedanken, versuche sie nicht zu verlieren und doch entschwinden sie mir und ich suche sie, grabe sie aus, halte sie fest an mir, verzweifelt, doch je deutlicher ich sie versuche zu sehen desto verschwommener erscheinen sie mir. Was war deine Augenfarbe? Blau oder doch eher ein wenig grau? Ich weiss es nicht mehr. Ich weiss es nicht mehr.
Da gehe ich lieber nach Draussen und sehe mir nachts die Sterne an. Vielleicht bist du ja dort.
Aber langsam wird es kalt.

Ich weiss, du wirst nicht kommen. Nie mehr. Und trotzdem stehe ich da. Und warte. Warte.
Denn irgendetwas muss ich tun.
Das tat ich also gestern. Und heute? Ich weiss es nicht.

Gestern war der erste Herbsttag.
Ich ging gestern zum Bus, denn es regnete und Mama weinte und ich hielt es im Haus nicht mehr aus.
Vielleicht war es aber vorgestern. Ich weiss es nicht.
Ich weiss nicht, was ich dir erzählen soll, was ich schreiben, denken oder sagen soll. Was ich verstehen soll.
Ich weiss nur, dass ich zu oft die Gelegenheit hatte, dir zu sagen, wie viel du redest – zu viel, wie laut du lachst – zu laut und wie falsch du singst – schrecklich.
Und auch, dass ich sie nie nutzte, um dir zu sagen, dass du mir fehlen wirst – sehr, und dass ich dich liebe – für immer.