August 2012

Alles ist gut!

von Horst-Werner Klöckner
Jahresthema: Familie
Monatsthema: ---

Es hatte lange gedauert, bis ich unser Spiel verstand. Mein Überleben war eine Frage des Timings: Ich musste selbst das Tempo vorgeben und im richtigen Moment aufhören, mich zu bewegen und dagegen anzukämpfen. Wie lang auch immer unser Tanz anhalten mochte, immer hatte am Ende das Ersticken zu stehen. Und auf keinen Fall durfte ich vorher auf den ausgiebigen Krampfanfall verzichten, den er so liebte.

Die mit Geduld auf der einen und erstickter Panik auf der anderen Seite gefüllten Monate hatten seit ein paar Tagen ein Ende. Beinahe lächelnd suchte ich jetzt abends das Bett auf, nur ein Rest Verzweiflung klebte noch unter meiner Brust, vorsichtig versteckt. Ich zog die Decke bis über den Kopf, um dann in der Höhle unter dem Betttuch wach zu bleiben und zu lauschen, bis er kam, mein grosser Bruder. Es gab auch glückliche Tage, an denen er mich in Ruhe liess, für die Schule üben musste und danach zu müde war, um mich wahrzunehmen. Wenn sein Atem dann Töne bekam und regelmässig wurde, begann ich zu glauben, dass ich in dieser Nacht unbehelligt davon kommen könnte. Aber vor ein paar Tagen hatte er bemerkt, dass ich auf sein Schnarchen hoffte und angefangen, es vorzutäuschen. Und dann kam er doch: „Das Dunkel kommt!“ sagte er flüsternd und mit hohler Stimme.

Auch gestern war so ein Tag. Ich wollte schon aufatmen, da riss er mir die Bettdecke vom Kopf und lächelte mich fast freundlich schon an, „du kannst dich nicht verstecken. Sei nicht albern.“ Ich wusste, es machte keinen Sinn, mich zu wehren, um mich zu schlagen, doppelt so alt, doppelt so gross, und je kräftiger ich kämpfte, um so mehr Spass hatte er und um so stärker wurde sein Schweissgeruch, und je länger dauerte unser Spiel. Das war die erste Lektion, ich habe sie schnell gelernt: Es bereitete ihm viel Spass, wenn ich mich wehrte. Wenn ich mich aber tot stellte, gefiel ihm das überhaupt nicht. Das war die zweite Lektion!

Verweigerte ich den Kampf, würde seine Wut die Phantasie beflügeln. Er würde mich dann anspucken, oder meine Brustwarzen kneifen, oder seine Nasenpopel mir in den Mund oder in die Ohren drücken. Und dann, wenn er mich denn genügend durchgerüttelt hatte, würde er trotzdem das Kissen unter mir wegreissen. Besser also mitspielen. Deswegen hiess es, entsetzt schauen und erbärmlich: “Nein, nein, nein!“ wimmern.

Und die Hände zum Widerstand heben. Und so begann unser gemeinsamer Tanz. “Halt ja die Klappe“, zischte er. Er drückte meine Arme wie beiläufig fest zusammen, stieg aufs Bett hoch, erst setzte er das rechte Knie auf die Bettkante, dann drückte er das linke Knie in meine Leber, schliesslich richtete er sich mit seinem Hinterteil auf meinem Bauch ein. Und dann zog er das Kissen unter meinem Kopf hervor, mit einem Ruck.

Einmal, da hatte ich mich erfolgreich an das Kissen geklammert, es triumphierend behauptet, um dann anstelle dessen eine gebrauchte Unterhose auf den Mund gedrückt zu bekommen. Dann lieber das Kissen, an dem nur mein Speichel zu schmecken war, – also zunächst festklammern und später ihn im richtigen Moment gewinnen lassen.

Er presste dann das Kissen mit langsam stärker werdendem Druck auf mein Gesicht. Früher hatte ich darunter geschrien, „Hilfe“ oder „nein“, „lass das“. Und hatte mich so völlig verausgabt.

Aber nun hatte ich meine Lektionen gelernt, und darauf war ich stolz:

Jetzt machte ich nur noch Töne. Meinen Gaumen drückte ich eng zusammen und liess so wenig Luft wie nur möglich dazwischen hochsteigen, modulierte dabei eine Wortmelodie, und so gelang es mir, möglichst viel kostbaren Atem für später zu sparen. Kontrolliert wehren, nicht zu viel, nicht zu wenig. Nicht den Kopf verlieren. Gut war es, wenn ich meine Töne und mein Toben heftig und panisch anschwellend klingen liess. Er sass das dann mit Genuss und lässig auf mir aus und wartete, bis ich erst zittriger und schwächer, schliesslich still wurde und kurz davor stand zu krampfen. Ich hörte unter dem Kissen seine Atmung, die in seiner Kehle kratzte, seine Erregung. Heimlich suchte ich noch Restluft zu ziehen. Die Kunst war nun, meine Reaktionen zu zeigen, kurz bevor sie sich von selber einstellen wollten. Also die Verzweiflung ein klein wenig übertreiben und den Kollaps ein paar Sekunden früher simulieren, bevor er mit Macht eintrat.

Echt wirkte es, wenn ich wartete, bis der Geschmack der Panik schon auf meiner Zungenspitze zu spüren war. Nur nicht verfrüht die Ohnmacht mimen; er würde es merken und mir ein Bündel an Gemeinheiten schenken wollen.

Früher, vor meinem Training, presste er mich solange nieder, bis mir ein faustgrosser Schleimpropfen die Kehle hochkroch und mit Überdruck schwarzen Beton ins Gehirn spritzte. Hals, Rachen, Kotzen, Angst, Würgen, Schreien; alles hätte ich für ein bisschen Luft gegeben, selbst kochendes Öl geatmet. Für eine unendliche Sekunde zerbarst mein Schädel wie Porzellan. Die gepresste Panik platzte wie ein metallenes Geschwulst.

Und dann, dann wachte ich erst ein paar Minuten später auf und der Kopf platzte immer noch. Das Bett nass in Schweiss und Pisse.

Meine Mutter war deswegen schon mit mir beim Psychiater, weil ich einnässen würde, meinte sie. Ich wäre ein Bettnässer, sagte sie. Mein Bruder sagte das auch, aber betonte es anders. „Er ist ein braver Junge“, beschied der Arzt meiner Mutter, „machen Sie sich keine Sorgen.“ Und zu mir gewandt „du brauchst dich nicht zu schämen!“, dieser Armleuchter.

Das ist mir danach nur noch ein Mal passiert, dann war damit Schluss.

Lieber verrecken als noch mal ins Bett pinkeln.

Ein paar Sekunden habe ich also gelernt rauszuholen, durch gutes Timing und Rhythmusgefühl. So hatte ich unter dem Kissen noch genügend Restluft erzwungen und konnte mich zum Krampfen retten. Darin war ich wirklich gut: Ich überstreckte mich so, dass ich nur noch mit Hinterkopf und Fersen das Bett berührte; es war gar nicht so einfach, noch dabei zu zittern und den Speichel im Mund hin- und her zu kneten, damit er wie Schaum aussah. Dann erschlaffte ich plötzlich. Die nächsten Sekunden, die er dann noch wartete, bis er das Kissen endlich wegnahm, waren die Hölle. Aber ohnmächtig wurde ich nicht mehr. Zwei Minuten durfte ich mich nicht rühren, nur noch mit meiner Haut atmen, auch wenn die Knochen und die Lungen schrien vor Schmerz. Zwei Minuten lauschte er mir noch nach.

„Na du Saftsack“, meldete er sich dann, und ich antwortete mit unterdrücktem Weinen, „nicht mehr wehtun“. Mein Ton musste stimmig zwischen weinerlich und verzweifelt liegen, sonst liess er mich nicht in Ruhe. „Das Dunkel kommt“, sagt er noch, lachend.

Und immer wieder erzählte er dann seine blöden Gespenstergeschichten, in denen Geister in Seidenblusen und Strumpfhosen Leute erschreckten. Ich musste so tun, als ob es mich gruselte. Sich immer wieder gruseln müssen, ist ätzend. Aber es ist immer noch besser, als ihn wie einen Alptraum auf der Brust sitzen zu haben.

Manchmal hörte ich ihn unter der Bettdecke rubbeln; er hatte in der Matratze Bilder von Frauen mit dicken Brüsten versteckt. Wenn er das tat, war Ruhe. Das waren gute Nächte.

Seine Drohung, mich abzuschlachten, wenn ich auch nur einen Mucks vom nächtlichen Geschehen erzählen würde, musste ich ernstnehmen. Im letzten Urlaub hatte er vor meinen Augen den Kopf eines lebenden Huhnes abgebissen. Er hatte nicht mit den heftigen Flugbewegungen der kopflosen Henne gerechnet, die noch einige Sekunden zappelte, und er verschluckte sich an der Menge Blut, die aus der Schlagader spritzte, seine Kleidung war versaut. Er wurde so sauer, dass seine Stimme sich überschlug und er beim Fluchen stotterte. Ich bin schnell weggerannt, damit er mich nicht lachen hörte. Seine Kleidung hatte er dann auf einer Baustelle vergraben. Die Ohrfeige meiner Mutter hatte mir nichts ausgemacht. Ich hätte ihm seine Klamotten geklaut und im Klo versenkt, hatte er ihr erzählt.

Heute Morgen nun passte er mich auf dem Weg zur Schule ab, er wäre nicht blöd, meinte er, ich würde gar nicht mehr blau im Gesicht, er müsse wohl länger drücken, oder noch besser, er würde mich anpinkeln, um zu sehen, ob ich wirklich weg wäre. Unsere Eltern wüssten ja, dass ich ein elender Bettnässer wäre, lästerte er. Ich heulte vor Wut, rannte weg, war mir egal, dass er mich auslachte. Habe dann einen kleinen spitzen Schraubenzieher aus dem Werkzeugkasten geklaut – hoffentlich kriegt mein Vater das nicht mit, ich lege ihn morgen wieder zurück, am besten noch vorm Frühstück. Wenn er den Schrauber vermisst, dann haut mein Vater mich tot. Noch ist mein Bruder nicht zu Hause, hat heute Messdienerunterricht! Wenn er diese Nacht kommt, dann werde ich zustechen. Mit ein bisschen Glück erwische ich seine Kehle oder sein Auge. Ich leg den Schraubenzieher am besten gar nicht mehr aus der Hand.

Ich ertrinke im Schweiss; aber meine Hände bleiben trocken, sie glühen.

Die Bettdecke trägt sich wie Blei.