Juni 2005

An Joggi im Holzerhimmel

von Kurt Haberstich
Jahresthema: Brief
Monatsthema:

Lieber Joggi

Das erste Mal sah ich dich an einem späten Novembermorgen. Dunkle Wolkenfetzen trieben über die Felder. Die Luft roch nach Schnee. Im Wald war es noch einigermassen windstill. Deine Axtschläge hatten mich von der Strasse weg durchs kahle Unterholz in die Nähe deines Arbeitsplatzes gelockt. Geraume Zeit sah ich dir und deinem Tun zu. Vielleicht hast du mich bemerkt, deine Arbeit deswegen aber nicht unterbrochen. Emsig wie eine Ameise hast du Ast um Ast zu einem Haufen zusammengetragen.

In deiner Nähe brannte ein Feuer. Zum Hände wärmen. Solange du nicht an die Finger frorst, war dir nicht kalt. Aber Handschuhe trugst du trotzdem keine. «Da hat man kein Gschpüri beim Schaffen», war alles, was du mir damals auf meine Frage geantwortet hast. Eigentlich heisst du Jakob. Aber wer hielt sich denn an einen solchen Namen? Keiner! Du warst um die sechzig, bandest die Äste der gefällten Bäume zu Wellen zusammen und hieltest mit Aufräumarbeiten den Gemeindewald sauber. Seit über dreissig Jahren, nehme ich an. Tagein, tagaus hast du die Arbeiten verrichtet, die dir der Förster zuteilte. Ohne Murren. Nur ab und zu gabst du ein paar unverständliche Laute von dir. Geredet hast du nur, wenn es unbedingt notwendig war, oder nicht?

Nach Feierabend sassest du jeweils im Wirtshaus. Meistens bis zur Polizeistunde. Allein an einem Tisch. In deinen Arbeitskleidern. Eingehüllt in Harz- und Tannengeruch. Trankst dein Bier, wenn von deinem bisschen Taschengeld etwas übrig blieb. Ab und zu spendierte dir ein Stammgast einen Becher. Dann bist du aufgestanden, hast dein Glas in die Hand genommen und dem Spender am Stammtisch zugeprostet. Mühsam hast du ein Danke hervorgewürgt und dich danach wieder an deinen Platz gesetzt. Und hast weiterhin mit zusammengekniffenen Augen das Beizengeschehen verfolgt. Oft hast du zwischendurch laut aufgelacht oder mit den Armen in der Luft herumgefuchtelt. Und manchmal hast du mit der Faust auf den Tisch geschlagen, dass der Aschenbecher hüpfte und dein Glas umkippte. Wenn dich danach der Wirt zu etwas mehr Ruhe ermahnte, erkannte man deine List hinter dem schelmischen Grinsen. Wer weiss, was du dir dann dabei gedacht hast? Vielleicht wusstest du um deine Narrenfreiheit. Die vom Stammtisch verteidigten dich, wenn dir jemand schlecht wollte. Du warst einer von ihnen, gehörtest dazu. Sonst aber nahm niemand gross Notiz von dir. Für viele war deine Wenigkeit zu viel. Deine Lebensweise passe nicht in die Gesellschaft, hiess es da und dort.

Die Alten erzählen, dass du früher einer der intelligentesten Burschen im Dorf warst. Dir habe nicht schnell einer das Wasser reichen können. Auch später während deines Studiums nicht. Doch dann kam das mit deiner Liebschaft dazwischen. Eine ernsthafte Sache, für dich jedenfalls. Was genau passiert war, wusste niemand genau. Es kursierte lediglich das Gerücht, dass dir die Braut mit einem anderen durchgebrannt sei. Das konntest du als sensibler junger Mann nicht verkraften. An einen Morgen haben sie dich bewusstlos im Bett gefunden. Auf dem Nachttischchen eine leere Schachtel Schlaftabletten. Mit knapper Not konnten die Ärzte dein Leben retten. Durften deinem Willen natürlich nicht freien Lauf lassen. Den Nebel um deinen Verstand vermochten sie allerdings nicht mehr zu lichten. Ja, und danach verlief dein Weg in anderen Bahnen. Trotz deiner Hinfälligkeit bist du aber niemandem zur Last gefallen. Bliebst grösstenteils selbständig. Tatest niemandem etwas zu Leide. Kamst nie mit dem Gesetz in Konflikt. Auch die Kinder hatten keine Angst vor dir. Und etwas hast du dabei erreicht: Du bist ein Dorforiginal geworden.

Als ich an einem Montag wieder auf meinem morgendlichen Waldspaziergang war, war es im Wald still. Der Wellenbock stand verlassen auf der Lichtung. Im Dorf haben sie mir später erzählt, du seist gestorben. Am Sonntag Nachmittag in der nahe gelegenen Stadt verunglückt. Wild gestikulierend seist du plötzlich auf die Hauptstrasse gerannt. Direkt vor ein Auto. Du musstest für einen Augenblick vergessen haben, wo du warst.

Jetzt, da du keiner Hilfe mehr bedurftest, warst du plötzlich der Mittelpunkt. Blaulicht und Sirenen wurden eingeschaltet; Polizisten riegelten das Quartier ab; ein Heer von Ärzten bemühte sich vergebens, dich wieder unter die Lebenden zu bringen; im Sozialamt spuckten programmierte Drucker die wenigen Daten deiner farbigen Identität auf blütenweisses Papier.

Doch du warst schon so weit weg.

Tags darauf waren die Zeitungen um eine Schlagzeile reicher. Das Dorf um einen Kauz ärmer.

Seitdem ist der Wald nicht mehr aufgeräumt – und mein Morgenspaziergang eintönig. Aber irgendeinmal werde ich deine Axtschläge wieder hören. Dann werde ich an dein Feuer kommen und mir die Hände wärmen.

Bis dann

dein trauriger Zuschauer