Mai 2008

Bistro-Journal

von Luzius Lenherr
Jahresthema: Tagebuch
Monatsthema: ---

1
Jeder spricht von sich, und in den Pausen, beim Atemholen, spricht der andere von sich und so geht es munter hin und her und eigentlich ist gar nichts mehr zu sagen, aber man scheint die Stille zwischen den Redepausen nicht mehr zu ertragen.

2
Ich wundere mich, dass schreien und schreiben sich nur durch einen kleinen Buchstaben unterscheidet und weiss noch nicht, wozu und weshalb ich mich für dieses kleine b entschlossen habe. Criér und écrire haben eine ähnlich nahe Beziehung zueinander.

3
Ihr Blick sucht, scheint mir, verloren die Ferne vergangener Gespräche mit Freunden – und verpasst damit den neuen Gesprächspartner.

4
Erst nach einer Weile sehe ich, dass sie um das rechte Handgelenk einen Verband trägt. Auf der weissen Gaze ist kein Blut auszumachen.

5
Wenn ich von Nebentischen her höre, wie schallendes Gelächter mit peinlicher Stille wechselt, bin ich noch immer versucht, rüberzuschauen. Möchte verstehen. Unterlasse es. Kann man verstehen wollen unterlas-sen?

6
Im Grossen Bären, lese ich, hat sich eine gewaltige Explosion ereignet. Gestern beobachteten die Astronomen das Ereignis, das vor 12 Milliarden Lichtjahren stattfand, für hundert Sekunden.

7
Während der Zeit, in der seine Partnerin auf der Toilette ist, explodiert seine Gestik im Gespräch mit den Freunden und sinkt nach ihrer Rückkehr genauso schnell in sich zusammen.

8
Er bläst eine Rauchwolke aus, um die Wand, die er zwischen ihr und sich aufzurichten wünscht, sichtbar zu machen.

9
Während sie eintritt, erinnere ich mich plötzlich an den gestrigen Traum: Ich hatte mich auf einem freien Feld verirrt – sah lange um mich, wusste nicht mehr aus welcher Richtung ich gekommen war, noch in welche ich gehen sollte, als plötzlich die drei Grazien aus der Antike mich umgaben. – Meine Wahl fiel in die Richtung, in der keine stand.

10
All meine Worte scheinen mir unnützer Ballast zu sein. Vorgeschoben, nachgereicht, umkreisend. Eigentlich bringe ich seit Jahren nur den kleinen Satz, «Ich ….. Dich» nicht mehr unter meinem Schnauz durch.

11
Ich sehe ihn des Öfteren: Er zeichnet Leute in Restaurants. Die Gäste kommen und gehen, auch die, die er mit schnellem, sicherem Strich porträtiert. Aber meist, bevor er zu Ende ist, sitzt dort, wo er von Zeit zu Zeit mit sicherem Auge hinblickt, bereits ein anderer, Mann nach Frau, junge oder ältere Menschen und er zeichnet verbissen und immer schneller an derselben Skizze weiter, die Konturen beginnen, sich zu überlagern, die Schattierungen fliessen ineinander, Nasen und Münder beginnen zu tanzen, und aus den vieläugig gewordenen Gesichtern flimmert am Ende plötzlich dunkel der Greuel Mensch.

12
Das junge Paar sieht schlecht. Beide tragen dicke Brillen. Sie sucht ihn schon längere Zeit, geht im Mittelgang des Restaurants auf und ab und bemerkt nicht – wie auch ich erst später feststelle -, dass ihr Partner neben mir die Zeitung liest. Natürlich hat er seine Augen ganz nah am Blatt. Nach einer Viertelstunde dann das glückliche Wiederfinden, Küsschen versus Küsschen. «Du bist spät», bemerkt er leise, nicht unfreundlich. Sie war es nicht, hatte nur schlechte Sicht auf ihre grosse Liebe.

13
Er ist ein freundlicher Mensch. Schon ein paar Mal hat er sich meine Streichhölzer erbeten, mit ausgesuchter Höflichkeit, um seiner Freundin die Zigarette anzuzünden. Beim Aufstehen bedankt er sich nochmals, lächelt zuvorkommend, schiebt artig den Stuhl an den Tisch und schnauzt den älteren Mann, der ihm an der Türe nicht gleich Platz macht, unflätig an.

14
Die Gespräche am Tisch nebenan drehen sich ausschliesslich um Waren, Geld und Preise. Eine der Frauen beginnt, für alle unvorbereitet, zu wei-nen. Da sagt ihr einer der Begleiter eine grössere Zahl. Ihr Gesicht heitert sich sogleich auf und strahlend wischt sie sich die letzten Tränentropfen vom Kinn.

15
Entgegen jeder Gewohnheit setze ich mich in die Mitte des Lokals. Ohne Deckung und mit dem Rücken zur Tür, was mir sonst unangenehm ist. Nicht wissend, wer oder was mir plötzlich den Mut dazu gibt.

16
Ich bin kein entschiedener Rechtshänder und ein nur leicht ausgeprägter Linkshänder. So verhalte ich mich oft unschlüssig, immer erst im Nachhinein wissend, was ich hätte tun sollen. Immer mit zuviel Verständnis für die andere Seite, die, die ich gerade nicht gewählt hatte, die aber dann plötzlich entschieden auftritt, und die ich ebenso gut hätte wählen können.

17
Ich sehe ihn zahlen. Er wirft der Serviertochter ein kleines Stück Münzgeld in den überquellend offenen Geldbeutel. Eine wegwerfende Geste. Sie dankt, obwohl sie trotz der Schnelligkeit des Wurfes bemerkt hat, dass es nur zwanzig Rappen gewesen sind.

18
Am Nebentisch ein Mann in einem naturbaumwollenen Kittel, braunge-brannt mit Altersflecken. Seine grossen Hände ruhen still auf den Knien. Er strahlt edle Ermattung aus. Nur die Augen gehen noch flink hin und her, wenn Frauenschuhe vorbeitrippeln. Er denkt mit Gesten und spricht hie und da leise zu jemandem, der über ihm, in der grossen Baumkrone, zu wachen scheint. Altersfreuden gibt es nur, wenn man nicht ans Alter denkt, denke ich, sondern höchstens an den Tod. – Er schaut öfters auf die Uhr und hat ein kleines Geschenk neben sich.

19
Sobald im Restaurant eine schöne Frau den Platz freigibt, setzt er sich, seinen Tisch wechselnd, auf jenen Stuhl und atmet mit seinem Hintern die verbliebene Wärme ihrer Schenkel und ihres Pos ein.

20
Erst mit der Zeit bemerke ich, was mich an diesem Lokal so anzieht. Es ist das dumpf rollende Geräusch der Lüftung. Es untermalt die Gespräche wie der nie endende Wellenschlag am Strand.

21
Von Elisabethen schlägt es eins. Es klingt wie auf dem Lande. Dem Matriarchatsforscher Johann Xaver W. trete ich – und ich habe meine guten Gründe dafür – kräftig in die Eier. Er wird sehr schnell zum Patriarchen, holt aus – und hält inne. Ich bin ihm dankbar.

22
Eine wahre Tragikomödie. Er wollte der Serviertochter eigentlich nur kurz an die Hüfte greifen, erwischte aber, da sie sich gleichzeitig flink umdrehte, das dicke Portemonnaie in der Lederhaltung, das dort hing, wo er hinlangen wollte. Sie schmierte ihm sofort eine runter, nannte ihn Dieb und Schurke und drückte das Portemonnaie fest an ihre Brust.

23
Wie um nicht so allein zu sein, rückt er den leeren Nachbartisch etwas näher zu sich heran.

24
Er scheint zu überlegen, ob er, falls er das gleiche Getränk bestellen würde, wohl eher einen Anknüpfungspunkt für ein Gespräch mit ihr haben würde, während der Kellner immer ungeduldiger mit den Fingern auf den Tisch trommelt. Er bestellt schnell etwas aus der Karte, das er nicht aussprechen kann. Es scheint zwischen den Zeilen zweier Normalgetränke zu stehen. Er zeigt mit dem Finger immer wieder und deutlich auf diese Zwischenstelle, aber der Kellner reagiert nicht.

25
Da ich mich schon an den gleichen Tisch gesetzt hatte, bevor sie einge-troffen waren, kam ihnen nicht im Entferntesten in den Sinn, dass ich als Privatdetektiv, der ich war, ihre Gespräche belauschen könnte.

26
Auf dem Nachhauseweg schaue ich mich um. Niemand sieht mir nach. Das hätte ich wissen können. Dennoch spüre ich Blicke in meinem Rücken.