Blaue Tage
Blaue Tage
Der Schnee fiel in dicken Flocken auf den weissen Grund. Lea blieb in der Jacke am Fenster stehen und drückte ihre Nase an die kalte Scheibe. Die Berge leuchteten bläulich im Dämmerungslicht, der Farbunterschied zwischen Himmel und Horizontlinie wurde langsam schwächer. Sie hauchte die Scheibe an und zeichnete ein Strichgesicht in die beschlagene Fläche. Um das Gesicht herum zeichnete sie Haare in dicken, langen Wellenlinien. Hinter dem Gesicht fiel der Schnee und schimmerte weiss und matt durch das Strichgesicht.
Lea hob ihre Tasche vom Boden auf und trug sie an den Fuss der Holztreppe. Auf Augenhöhe lächelte ihr ein Mädchen aus einem blauen Holzrahmen entgegen. Es sass am Spinnrad und webte, die Pinselstriche seines blonden Haares waren in der dicken Farbe deutlich sichtbar. Sie wusste, dass irgendwo ein Pinselhaar klebte, aber sie suchte nicht danach. In ihrer Kehle setzte sich ein dicker Klumpen fest. Sie zog die Rauchklappe auf und setzte sich an den Tisch. Im Kerzenlicht versuchte sie sich die Spiessen aus den Fingerbeeren zu ziehen. Dann knickte sie den Rand der Kerze ein und tauchte ihre Fingerkuppen in das heisse Wachs. Sie wiederholte den Vorgang, bis ihre Fingerspitzen von dicken, harten Klumpen ummantelt waren. Das Trommeln ihrer Finger auf der Tischfläche hörte sich dumpf an.
Anna, die Hütte riecht noch genau gleich wie immer, wenn man sie betritt. Ein warmer und zugleich leicht modriger Geruch, etwa so schön wie ein nasses Hundefell.
Auf dem Boden liegt eine dicke Staubschicht, ich bin die erste, die zurückkehrt. Ich habe Mutter und Vater nichts davon gesagt. Sie wollten die Hütte verkaufen, haben’s dann aber doch nicht gemacht.
Es schneit in dicken Flocken draussen, Anna, gehen wir hinaus und sperren unsere Münder auf, und wer am meisten Flocken erwischt, der hat gewonnen.
Die Kerze riss leicht ein am Rand und das rote Wachs floss in eine elipsenförmige Lache aus. Lea starrte auf den Wachsfleck und wartete, bis das Rot und das Braun des Tisches sich langsam vermischten. Der Fleck wurde grösser, während er verschwamm.
Leas Knochen waren steif und kalt, als sie erwachte. Ihre linke Schulter schmerzte leicht, vorsichtig rollte sie sich auf der Holzbank auf und streckte ihre Hände aus der schwarzen Daunenjacke. Auf dem Tisch klebte die Lache aus getrocknetem Wachs. Sie fuhr mit dem Fingernagel darunter und hob das ganze Stück auf einmal weg. Auf der Tischfläche blieb eine dünne Fettschicht zurück. Lea legte Holz nach und setzte Wasser auf. Im Schrank waren noch zwei Beutel Pfefferminztee und eine fast volle Packung Roibuschtee.
Der Schnee auf dem Fenstersims war um zirka zehn Zentimeter angewachsen, an der Scheibe hatten sich Eiskristalle gebildet.
Lea trank den Tee heiss, die Wärme lief ihr die Kehle hinunter. Sie holte sich Wollsocken aus dem Schrank und wickelte sich in eine Decke ein. Die Jacke lag gekrümmt wie ein krankes Tier auf dem Boden, die Innenseite nach aussen gekehrt. Lea presste ihre Wange an die Scheibe, um sie zu kühlen. Lea schulterte ihre Tasche am Fuss der Treppe und stieg langsam die Stufen hoch. Die Treppe fühlte sich leicht rutschig an. Sie platzierte einen Fuss sorgfältig vor den andern und versuchte, ihr Gewicht gleichmässig hochzustemmen.
Das karierte Kissen roch nach frischem Waschmittel und noch etwas anderem. Leas Bett war das untere. Leas Bett war das untere und Annas Bett war das obere. Lea legte sich aufs Bett und starrte die Holzlatten über ihrem Kopf an. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie nie mehr aufstehen könnte. Diese Holzlatten würden ihre Aussicht für die nächsten fünfzig Jahre sein. Sie hielt die Luft an und zählte bis hundert. Ihr Herz schlug regelmässig gegen ihre Brust.
Anna, der Morgen ist die beste Tageszeit. Katzenfüssig leicht hinterlässt er kaum Spuren auf dem Schnee, und erst allmählich mit dem erwachenden Bewusstsein und der zurückkehrenden Erinnerung gewinnt der Tag an Gewicht und bricht ein im Schnee. Ich habe heute barfuss Holz geholt. Der Schnee reicht mir bis zur Mitte der Waden. Als ich die Hütte betrat, brannten meine Füsse. Aber kein Schmerz. Ein schönes Brennen, ein Brennen, das meine Füsse wach werden lässt.
Lea tauchte die Feder in die Tinte und setzte die Spitze vorsichtig auf ihrer Haut auf. Sie sah der Tinte zu, wie sie sich langsam ausbreitete und sich ihren Weg durch die Ritzen und Falten ihrer Haut suchte.
Im Gästebuch klebt ein Foto, das du gemacht hast. Erinnerst du dich daran? Es zeigt den Weg, der zu unserer Hütte führt, da, wo er leicht geschwungen zwischen den beiden Tannen hindurch zielt. Es muss ein kalter Tag gewesen sein, der Himmel ist von einer harten, stählernen Bläue und der letzte Nebel über den Bergen beinahe gebannt. Wie immer, wenn du fotografierst, ist das Bild unscharf, ich glaube, du hast es sogar im Fahren gemacht. Daneben schreibst du: «Mit Nico hier, schön diesmal, schwebend fast und leicht. Hoffentlich erinnere ich mich daran, dass es auch diese Tage gab, alles in blaues Licht getaucht, endlos sind sie, der Morgen geht nahtlos in den Abend über, und noch in der Nacht scheint alles hell.»
Lea sah Annas Lächeln, ihr so helles und doch immer leicht listiges Lächeln und sie wollte Annas Haar verwuscheln. Sie wollte Annas Haut berühren, die warm gewesen war, immer, und milchweiss dünn.
Die Tage sind nicht blau, Anna, sie sind weiss und ohne Grenzen, und dieser Mangel an Schärfe, dieser fehlende Kontrast, ich weiss nicht, wie du ihn schön finden kannst. Es schneit noch immer, bald ist alles weiss, der Schnee ist weiss und der Himmel ist weiss, meine Blicke sind weiss und mein Hunger ist weiss, ich hungere und finde kein Essen.
Sie fuhr ohne Mütze, der Wind fegte ihr um den Kopf und blies ihr das Haar aus dem Gesicht. Der Schnee war frisch und ohne jede Spur, Lea zog die erste Bahn, sie fuhr grosszügig und weich, in weiten, ausladenden Bögen. Im Steilhang hielt Lea ihr Brett nicht zurück, sie liess es fahren, und das leichte Schwindelgefühl stieg ihr vom Bauch in den Kopf. Sie fuhr ohne Ziel, und der Wind belebte ihre Wangen, wenn es steil wurde und die Fahrt schnell.
Lea legte sich auf den Rücken und schabte mit Armen und Beinen die Engelform in den Schnee. Der Schnee fiel jetzt in kleinen, hauchzarten Pünktchen, und sie nahm sich vor, erst aufzustehen, wenn ihr Hintern bis in die Knochen hinein nass und kalt wäre. Die Sonne schien vermutlich noch, aber die Berge hatten sie längst verschluckt, und weit oben war der Himmel schon dunkel, und nur hinter den Bergen leuchtete er noch hell und leicht silbern.
Anna. Anna war jetzt Nichtanna. Das ging nicht. Das geht nicht, wie kann das sein. Lea da und Anna nicht. Anna liebt Nico und Anna weiss nicht, ob sie Nico liebt, Anna wäscht das Geschirr unsauber ab, und Anna mag Johny Cash nicht, Anna strickt Pullis und Mützen während ihrer blöden Biophase, und Anna kann wunderbar singen, Anna leiht Leas Kleider, und Anna kleckert noch immer beim Essen.
Sie stopfte sich Schnee in den Mund und wartete, bis er ihr in kalten Rinnsälen den Hals hinunterlief. Lea würde sich nicht mehr bewegen, bis ihr Gesicht zugeschneit war. Bis zum Frühling würden ihr vielleicht Flügel gewachsen sein.
Anna hatte immer gerne Paradoxon gesagt, ein Palindrom war Anna, schon immer gewesen, aber das war Anna egal. Anna, warum machst du immer so verschwommene Bilder. Weil das schön ist, hätte Anna gesagt. Lea spürte Nadeln der Kälte. Der Mond zeichnete sich schon als weisse Sichel auf dem Himmel ab, obwohl es noch nicht dunkel war.
Lea stellte den Zuber in die Mitte des Raumes und goss das heisse Wasser ein. Sie zog langsam ein Kleidungsstück um das andere aus und verstreute sie auf dem Boden. Nackt stand sie da und sah sich als weissen Fleck in der Scheibe, vom Kerzenschein matt beleuchtet. Langsam schob Lea einen Zeh in das heisse Wasser, einen halben Fuss, einen ganzen Fuss. Sie stand im Zuber und fühlte, wie die Wärme von unten in ihren Körper strömte.
Anna, schrieb sie in das Buch, ich habe eine Musik entdeckt, die würde dir gefallen. Sie ist sehr leicht und verspielt und träumerisch, mit Glocken, und da ist eine Stimme, als hätte man sie aus dem tiefen Winterschlaf geweckt.
Es hört nicht auf zu schneien. Vielleicht ist morgen das ganze Fenster weiss, und irgendwann muss man graben, um die Hütte wieder zu finden. Hast du mit mir diesen Experimentalfilm gesehen? Jeder Buchstabe wird ersetzt durch ein Bild, und am Schluss der schwarze Bildschirm, der ganz langsam, Flocke um Flocke, zu einer weissen Fläche wird. Zugeschneit.
Regelmässig fiel der Schnee auf den weichen Grund. Das Schneepolster auf dem Fensterbrett verdickte sich allmählich. Vor der Tanne hinterliess der Mond einen gelblichen Schimmer auf dem weissen Teppich.