Januar 2018

Brüche

von Gabriela Cheng-Voser
Jahresthema: Bilder
Monatsthema:

Adalbert zerlegt das Radio von Grossvater, ich sollte Strafaufgaben machen, weil ich dem Mäxe eine reingehauen habe. Ich bereue nichts, denn Mäxe hat meiner Schwester Anna seine Dromedarzunge in den Mund gestopft, sodass sie sich seit zwei Tagen übergibt. Fräulein Ruder, meiner Lehrerin, durfte ich das mit der Zunge nicht erzählen, Mutter hat es mir verboten, weil Mäxes Vater der Chef von meinem Vater ist. Es muss in der Familie bleiben, hat Mutter zu Anna und mir gesagt. Wir haben viele Familiengeheimnisse, die in uns drinbleiben müssen, auch wenn sie raus wollen. Das füllt meinen Kopf, sodass ich in der Schule nicht richtig denken kann. Brüche zum Beispiel, ich habe keine Ahnung was ein Bruch ist und das weiss Fräulein Ruder ganz genau, darum hat sie mir wahrscheinlich Brüche als Strafaufgabe gegeben. Meistens, wenn wir eine Matheprüfung haben, schreibe ich eine Null, es reicht nicht einmal für die Mindestnote Eins. Fräulein Ruder hat früher ein paar Mal von mir verlangt, dass ich vor die Schulklasse stehen und sagen musste, dass ich eine Null sei. Einmal machte ich mir in die Hosen, vor der ganzen Klasse machte ich mir in die Hosen und ich bin aus dem Schulzimmer gerannt. Seither muss ich nicht mehr vor die Klasse stehen. Wir leben in einer modernen Zeit, hat Grossvater immer gesagt. Fräulein Ruder ist eine Lehrerin aus der alten Zeit. Ich weiss, dass sie nicht mehr lange arbeiten muss und eine zugezogene Lehrerin ist. Ich glaube nicht, dass es ihr hier im Dorf gefällt, weil sie immer böse auf uns Schüler ist. Wenn sie nahe vor einem steht und schreit, hat man nachher ein nasses Gesicht und sie hat einen Dschungelatem, uralt und modrig. In unserem Dorf gibt es nur Fräulein Ruder als Lehrerin und da muss man durch, hat Mutter gesagt, da gäbe es nichts zu diskutieren und wenn sie dieses komische Wort sagt, muss man aufpassen, weil sie sonst die Nerven verliert und das tut ihr sehr weh, denn sie schreit, aber anders als die Lehrerin, es ist eher ein Heulen und tönt fast wie die Sirenen, die sie im Dorf jedes Jahr testen, einmal hat Mutter sogar Geschirr an die Wand geschmissen, nachher ist sie auf dem Fussboden gelegen, auf dem Fussboden in der Küche, wo es nicht einmal einen Teppich hat. Wenn Mutter ihre Nerven verliert, kann es mehrere Tage dauern, bis sie diese wieder gefunden hat und wir müssen selber schauen, dass wir etwas zu Essen haben. Anna kriegt von den Familiengeheimnissen oft Kopfschmerzen, liegt im verdunkelten Zimmer und mag nicht einmal mich in ihrer Nähe leiden, obschon alle Leute sagen, dass meine Schwester und ich ein Herz und eine Seele seien und ich habe lange gedacht, dass das stimmt, aber ich kann das nicht mehr glauben, weil ich Anna schon ein paar Mal gesagt habe, dass sie mir doch erzählen solle, was sie in ihrem Kopf plagt. Aber sie will nicht. Wenn wir ein Herz und eine Seele wären, hätte Anna doch keine Angst davor, mit mir zu reden. Sie wüsste, dass ich alles aushalten kann und nie jemand erfahren würde, was sie mir erzählt hat. Seit Mäxe vor zwei Tagen das mit der Zunge gemacht hat, liegt Anna wieder in ihrem Zimmer, das eigentlich auch Hannahs Zimmer ist, aber sie muss im Wohnzimmer schlafen, wenn Anna ihre Kopfschmerzen hat, doch das macht Hannah nichts aus und heute Morgen, als ich zu Anna ans Bett sitzen wollte, sagte sie zu mir, Phillip lass mich in Ruhe. Etwas Schlimmeres hat Anna noch nie zu mir gesagt, ich durfte nicht einmal ihre Hand halten. In der Schule gibt es nur ein Fach, in dem ich gute Noten habe und das ist Deutsch, natürlich habe ich es mit der Grammatik nicht so, aber mir hilft, ehrlich gesagt, ein kleiner Trick beim Aufsatz schreiben, weil ich ganz genau weiss, wie und was ich schreiben muss, damit es Fräulein Ruder gefällt. Sie fand es in meinem letzten Aufsatz ziemlich gut, dass ich einen Apfel als rotwangig beschrieb. Es ist sehr anstrengend, das machen zu müssen, was andere gut finden. Vor lauter Anstrengung habe ich keine Ahnung, was ich selber gut finde und wahrscheinlich wird das mein Leben lang so bleiben, weil ich nicht gescheit genug bin, um anderen zu sagen, was sie machen müssen, damit es mir gefällt. Seit Anna mir gesagt hat, ich solle sie in Ruhe lassen, schreibe und schreibe und schreibe ich alles auf, was mir einfällt und das gibt etwas Luft in mir drin, so etwas habe ich noch nie gespürt wie das, was mit mir passiert, wenn ich einfach schreiben kann und nicht darüber nachdenken muss, was Fräulein Ruder lesen will. Einige unserer Familiengeheimnisse nennen wir persönliche Familiengeheimnisse, die sind so geheim, dass sie nicht einmal in der Familie bleiben dürfen und es ist selbst uns, den Geschwistern, strengstens verboten, miteinander darüber zu sprechen, das haben uns Mutter und Vater eingebläut, meistens ist es ja nur die Mutter, die mit uns spricht, wenn der Vater etwas sagt, ist es ein Machtwort, sagt Anna, man muss sich daran halten, denn das ist das Mindeste, was wir für unseren schwer schuftenden Vater tun können, sagt Mutter. Wahrscheinlich ist das Machtwort der Grund, warum Anna nicht mit mir reden will und weshalb wir nicht ein Herz und eine Seele sein können. In unserer Familie muss jeder das Schweigen lernen und jeder muss seinen Weg finden, damit klar zu kommen und es auszuhalten, in sich drin zu behalten, was raus will. Als sich Adalbert letztes Jahr einen Backenzahn ausbiss, habe ich ihn gefragt, ob das vom Schweigen käme. Er sagte nur, dass ich Blödsinn verzapfen würde und ich traute mich nicht mehr, über den Backenzahn zu reden. Manchmal habe ich nur ein wenig Angst, dass sich Adalbert noch mehr Zähne ausbeissen könnte, denn ich sehe ganz genau, wie er seine Kiefermuskeln anspannt, stundenlang, tagelang, wochenlang, immer.

Ich fröstle ein wenig vom Durchzug. Grossmutter nestelt bei geöffneter Haustüre im Wandschrank. Das macht sie täglich mehrmals. Meistens läuft Grossmutter mit nackten Füssen durch das Haus, nur wenn es kalt ist, rollt sie ihre dicken hautfarbenen Strümpfe bis unter die Knie hoch, manchmal muss ich ihr dabei helfen, weil die Strümpfe so eng sind, aber auch mit Strümpfen zieht sie nicht so gerne Schuhe an. Wenn überhaupt, trägt sie ihre Gummistiefel, um die Blumen vor dem Haus zu schneiden, die sie in eine Vase stellt oder sie macht sich hinter dem Haus im Gemüsegarten zu schaffen. Mit ihren kleinen faltigen Händen streicht sie über das Grünzeug und berührt es mit einer Zärtlichkeit, die mir weh tut, so schön ist meine Grossmutter dabei anzuschauen. Sie leuchtet aus sich heraus, ich weiss auch nicht, wie das funktioniert, und sie lächelt, was selten geschieht. Grossmutter hat Katzenaugen, die sind himmelblau. Himmelblau wäre ein Wort, das Fräulein Ruder mag. Manchmal ziehen sich Grossmutters Pupillen zusammen und sie kriegt den himmelblauscharfen Blick, aber manchmal werden sie auch ganz gross, sodass vom Himmelblau nur noch ein schmaler Rand zu sehen ist, so gross werden ihre Pupillen, dass man meinen könnte, ihre Katzenaugen seien Kirschenblau. Das Haus, in dem wir wohnen, hat ein Ausländer gebaut. Der Ausländer war ein Mann, der etwas mit Grossmutter zu tun hatte. Als sie noch ganz jung war, ging sie über den grossen Kanal, ich weiss nicht, wo der grosse Kanal ist, und der Ausländer kam mit ihr zurück in unser Dorf und hat das Haus gebaut. Irgendwie passt unser Haus genauso wenig in das Dorf wie unsere Familie. Vielleicht liegt es daran, dass wir Hinterwäldler sind, weil Grossmutter hat einen Hinterwäldler geheiratet und nicht den Ausländer, der Hinterwäldler war Grossvater. Ich würde gerne mehr wissen über den Ausländer, der aber das persönliche Familiengeheimnis von Grossmutter ist. Es macht mir nichts aus, dass ich ein Hinterwäldler bin. Mäxe sagt, Hinterwäldler seien Leute mit einer langen Leitung, das bedeutet, dass sie langsam sind. So pressant wie die Leute in der Stadt, die keine Hinterwäldler sind, möchte ich es sowieso nicht haben. Man kommt ja nicht zum Denken, wenn man ständig von einem Ort zum nächsten springen muss. Denken, sagt Anna, sei wichtig für meine Entwicklung, so ist es doch grad gut, dass ich ein Hinterwäldler bin und viel Zeit zum Üben habe. Es ist schade, dass Mäxe meine Schwester geplagt hat, denn jetzt sind wir keine Freunde mehr, ausser, habe ich mir überlegt, er entschuldigt sich bei Anna und sie wäre damit einverstanden, dass Mäxe wieder mein Freund sein kann. Adalbert und ich teilen uns ein Zimmer. Wenn er am Tüfteln ist, darf ich ihn nichts fragen. Aber nachher, wenn er fertig ist, wird er mir mit den Brüchen helfen, Adalbert ist der gescheiteste Mensch, den ich kenne. Sobald er die Matura hat, zieht er in die Stadt, er will studieren. Irgendwas mit Elektronik, er hat es mir schon ein paar Mal erklärt, aber ich begreife es nicht. Es gibt vieles, das ich nicht verstehen kann, Anna sagt, ich verstünde vielleicht nicht so viel von dem, was die meisten verstehen können, dafür aber hätte ich einen Zugang zu anderem. Als ich Anna fragte, was ein Zugang zu anderem sei, sagte sie, dass sei eine Türe in meinem Hirn, die ich geöffnet hätte, während andere keine Zeit dafür hätten, solche Türen zu entdecken. Wenn das stimmt, was Anna sagt, muss ich keine Angst mehr vor mir selber haben. Nur, aber darüber denke ich selten nach, wenn es nicht stimmt und ich dumm bin, also davor fürchte ich mich, ein dummer Mensch, sagt Mutter, muss immer tun, was ihm die anderen sagen. In der Schule hat Fräulein Ruder von einigen Geschichten erzählt, in denen viele Menschen das taten, was ihnen befohlen worden ist. Diese vielen Menschen waren nicht nur dumme Menschen. Auch die Intelligenten haben gemacht, was ihnen von jemand anderem gesagt worden ist. Obschon alle, die Dummen und die Gescheiten wussten, dass es falsch war, was sie taten, haben sie es trotzdem gemacht. Als ich fragte, warum das so gewesen sei, hat Fräulein Ruder geantwortet, das hätte an den schlechten Zeiten gelegen. Seither fürchte ich mich davor, dass ich tue, was nicht richtig ist und weiss, dass es nicht richtig ist und schuld daran ist die schlechte Zeit, aber der schlechten Zeit die Schuld zu geben, würde bei mir nichts nützen, weil in mir drin passiert etwas, wenn ich etwas Schlechtes mache. Das macht meinen Kopf noch schwerer und es drückt etwas im Herz. Anna sagt, es seien die Gewissensbisse, die einem den Kopf schwerer machen und das im Herz sei meine Seele, die sich vor Schreck zusammenziehe, wenn ich etwas Schlechtes tue. Das habe ich kontrolliert, ob das stimmt und ich finde, es stimmt. Es zieht sich wirklich etwas zusammen, dort, wo mein Herz ist, wenn ich Mist baue. Und im Kopf zwicken einen die Gedanken an das Schlechte, das man gemacht hat, eben lügen, klauen oder so. Anna hat mir erklärt, dass es zur Gewohnheit werden könne, zu lügen und Schlechtes zu tun und dass man die Gewissensbisse und das Zucken im Herz plötzlich nicht mehr spüre. Hoffentlich mache ich mir das Lügen nicht zur Gewohnheit, bei den kleinen Lügen ist es leider bereits soweit. Letzthin habe ich Äpfel vom Baum hinter dem Haus gepflückt, Mutter fragte mich, ob ich die Äpfel vom Boden genommen hätte, sie will, dass wir die noch essbaren Äpfel auflesen. Ich habe ja gesagt und sie fragte mich, ob sie mir für jeden Apfel, den ich frisch gepflückt hätte, eine Ohrfeige geben dürfe. Ich sagte ja, denn ich hätte nie gedacht, dass sie die Wahrheit herausfindet. Sie nahm mir die drei Äpfel aus den Händen, schaute sich die Stiele an und meine Wangen brannten wie noch selten zuvor. Nach den Ohrfeigen zeigte sie mir die grünen, leicht saftenden Enden der Stiele. Das Schlimme war, dass ich mich nicht wegen meiner Lüge geschämt habe, sondern die Mutter dafür hasste, dass sie mich erwischt hatte. Es ist nicht schön zu wissen, dass man verdorben ist und ich fragte Anna, was ich machen solle. Sie sagte, jeder mache Fehler, ich solle auf mein Gewissen hören und auf mein Herz und eine bessere Antwort hätte sie leider auch nicht. Das Blöde ist, dass ich immer ganz viele verschiedene Stimmen höre und ich weiss nicht, welcher ich folgen muss. Ich denke oft darüber nach, warum man so viele Stimmen in sich hört und ob das normal ist. Einmal fragte ich Fräulein Ruder, ob es nur gute Stimmen im Herzen gibt oder auch schlechte und ob es nur schlechte Stimmen im Kopf gibt, oder auch gute, aber sie schaute mich nur ganz komisch an und sagte, ich solle mich auf das Rechnen konzentrieren, dadurch habe ich das Wort Konzentration kennengelernt, mich zu konzentrieren finde ich schwierig wegen dem Lärm in mir. Manchmal weiss ich nicht, ob ich gern lebe oder doch nicht so gern, weil es so schwierig ist, ein guter Mensch zu sein, wenn es geht, suche ich mir später einen Beruf, wo ich das Mensch sein üben kann. Hoffentlich bin ich nicht zu dumm dafür. Balduin, der älteste Bruder, trainiert jeden Tag, weil er unbedingt Bergsteiger werden will. Das passt gut zu ihm, er will mit fast niemandem etwas zu tun haben und verzieht sich immer in die hintersten Ecken. Zuhause kommt er vorbei, um seine Wäsche zu wechseln und manchmal isst er mit uns zusammen, dann muss Mutter zwei Portionen mehr kochen, weil Balduin viele Kalorien braucht. Hannah, die sich das Zimmer mit Anna teilt, ausser wenn Anna Kopfschmerzen hat, ist unsere Jüngste und vernarrt in Balduins Körpergeruch. Wenn er daheim ist, schnuppert sie in seiner Achselhöhle und kräht Duföumchen, weil Balduin nach grünem Apfel riecht und Hannah an das Duftbäumchen in Grossvaters Auto erinnert, Grossvater ist letztes Jahr gestorben, er ist einfach hinübergeschlafen, sagt Grossmutter, aber sein alter VW und das Duftbäumchen stehen noch in der Garage unseres Nachbars, weil wir nur eine Garage haben und die braucht der Vater. Mutter besteht darauf, den Wucherzins für Grossvaters Garage weiterhin zu bezahlen, was wir begreifen müssen, aber nicht verstehen können, ganz ähnlich, wie es mit den Familiengeheimnissen ist, die nicht raus dürfen und ins uns drinbleiben müssen, sodass Anna Kopfschmerzen kriegt, Adalbert seine Zähne ruiniert, Balduin nirgends sein will ausser in den Bergen und mein Kopf so voll ist, dass ich nicht denken kann, Hannah ist noch zu klein für Familiengeheimnisse.

Einmal habe ich Grossmutter gefragt, ob sie nicht an den Füssen friert und warum sie immer die Haustüre öffnet, wenn sie im Schrank nestelt und wonach sie sucht. Sie sagte, sie spüre ihre Füsse nicht, sie hätte ihre Füsse noch nie gespürt, sie öffne die Haustüre, um zu lüften und im Schrank würde sie nesteln um zu finden, wonach sie suche. Wonach sie suche, wisse sie erst, wenn sie das Gesuchte in ihren Händen halte. Bei mir ist es irgendwie auch so. Jeder will, dass ich den Antworten folge, die er auf seine Fragen gefunden hat, aber ich möchte meine eigenen Fragen finden, die mir Antworten geben zu dem, was ich noch nicht erkennen kann, aber unbedingt erreichen will.

Adalbert ist fertig und hat jetzt Zeit für meine Brüche.