Januar 2005

Cédric

von Maurice Codourey
Jahresthema: Brief
Monatsthema:

Ich bin in Trauer, ich bin wütend, verzweifelt, mitten in einem Bildersturm von früher. Wir zwei in der Schule, nach der Schule bei Dir zu Hause. Wie immer viel Vollrahm, wenig Schokoladepulver, alles in einer Untertasse zu einer kalorienberstenden Matratze geklopft, dann der Genuss. Einmalig. Ich höre das Lachen Deiner Mutter, auch einmalig. Das war immer unverkennbar sie, die Trudi. Eure dicke Tigerkatze dazu, sie überlebte einen dämlichen Selbstsprung vom neunten Stock. Unglaublich.

Dieser verdammte Infekt, neben dem Herz, im Herz, ich weiss es nicht genau. Ich habe bei der Abdankung nicht mehr alles mitbekommen. Ich habe den zittrigen Ausführungen Deines älteren Bruders zugehört. Durch seine Erzählung total intensiv den letzten Sommer, die Aktivitäten von Trudi miterlebt. Letzte Freundschaften, Gespräche, irrsinnig schöne Momente in einer Badi am Zürichsee. Ich habe gemerkt, dass mir etwa 20, ach was, 25 Jahre Kontakt fehlten. Sie fehlten mir plötzlich extrem unter all diesen Leuten. Ein Loch tat sich vor mir auf. Dann hörte ich von diesem verdammten Infekt, scheinbar einfach aus dem Nichts gekommen, hat sich in Trudi festgesetzt, ausgebreitet, unaufhaltsam. Ab in den Spital. Ich war gestern Nachmittag fertig. Ihr habt dann Musik gemacht, wie Ihr immer als Familie Musik gemacht habt, Freunde haben gesungen, mir stockte der Atem, ein Riesenklumpen verhinderte mein Hinausschreien. Lange nicht mehr hatte ich den intensiven Fluss von salzigen Tränen auf meinem Gesicht gespürt. Lange nicht mehr hatte ich jede Faser meines Körpers gespürt, meine Sinne rasten, meine Brust schmerzte.

Wir waren nicht Kollegen, wir waren die besten Freunde. Sind es heute noch. Wir haben nicht viel voneinander mitbekommen in den letzten 25 Jahren. Diese ganze unkonventionelle Abdankung ohne Pfarrer, aber mit lauter Musik, mit all den Lieblingsliedern von Trudi, die ihr total packend gespielt und gesungen habt – genau so habe ich sie in Erinnerung, werde sie so in Erinnerung behalten. Ich möchte dem Schicksal mitten in die Schnauze hauen, ich pfeife auf Konventionen, ich lache auf Traditionen. Ich nahm diesen Moment der aussergewöhnlichen Nähe zu Trudi, zu Euch, zu all den Leuten da mit auf den Gang zum Grab. Ich habe mich persönlich verabschiedet, meine Wut danach war zum Bäume ausreissen. Verdammter Infekt. So was Kleines, unfassbares. So ein grosser Mensch. Trudi – das steht für mich für menschliche Grösse. Eine Trauerwalze hat mich dann im Akkord immer wieder überfahren. Eine Wieso-Lawine rollte durch meinen Kopf. Ich konnte Dir nur noch zwischen all den Leuten zuflüstern: «So eine Scheisse!» Wir kennen uns, du wusstest genau, wie ich es meine.

Ich werde meinem Sohn, der jetzt bald 16 Monate alt wird, ein Vermächtnis machen, das von Trudi. Ich werde ihm das Lachen Deiner Mutter mitgeben, alter Freund. Improvisieren, den eigenen Weg gehen, nicht verzagen, den Nachbarn saftig zurückgeben, wenn sie sich wieder einmal über Eure Musikübungen auf Klavier und Gitarre und dem kleinen Schlagzeug beschwert haben. Ein Miteinander ja, aber sollen doch alle selber auch etwas tun, etwas wagen, etwas erleben. Goodbye to the Bünzli-Charakter. Oder sollen sie einfach in ihren speckigen Sofas verrotten. Ich bewundere Trudi, verneige mich von ihr. Ich werde meinem Sohn Maurycy diese Sachen mitteilen, ihn lernen, das Unbequeme bequem zu machen. Die Beharrlichkeit als Qualität zu sehen. Das explosive Lachen wie als Medizin täglich zu geniessen.

Gestern habe ich ganz stark gespürt, was es heisst, wenn eine echte Persönlichkeit nicht mehr da ist. Unscheinbar für Aussenstehende, herzhaft und kraftvoll für Familie, Freunde und Bekannte. Die Lücke tut mir unendlich weh. Und wie muss sie Dir, deinen Brüdern, Euren Freundinnen und Frauen, der Familie überhaupt allen von gestern wehtun. Ich will einfach mit diesen Zeilen Anteil nehmen. Ich musste sie ganz einfach schreiben, unkontrolliert und ziemlich forte. Eine Zeitlang zählte ich zu Eurem direkten Freundeskreis. Cédric, alter Freund, lach weiter. Lachen wir gemeinsam dem Leben mitten ins Gesicht. Ich bin da. Anrufen, wir essen wieder Pulver mit Vollrahm aus der Untertasse. Je ungesünder, je besser. Die Kalorien-Kalkulations-Scheisse kann uns den Buckel runterrutschen. Lachen wir einfach alles laut heraus, so ist Trudi immer wieder bei uns. Und ich sehe dieses Lachen gerade jetzt als einziges Mittel, die aufgequollenen Augen zu übertrumpfen, die Gesichtskrämpfe zu entspannen, die verkniffenen Kieferstellungen zu lösen, die Tatsache zu akzeptieren, dass Trudi nicht mehr da ist. Du kennst mich, ich kenne Dich, Cédric. Ruf an. Komm einfach vorbei. Es ist mir egal, was die blöde Uhr für eine Zeit zeigt. Es ist dann immer die richtige Zeit. Ich kenne keine Müdigkeit, ich werde lachen. Wir schreien zusammen, schlagen mit den Fäusten in die Küchenschränke, saufen Hochprozentiges, pissen in die Blumenkisten, lachen, dass die Schwarten krachen. Egal, wann und wo. Die Ruhe wird sich wieder einstellen, ich weiss, aber dafür habe ich grad jetzt keine Zeit. Ich wünsch Dir einfach Kraft.

Bis plötzlich, Maurice