Consuela
Consuela wusste nicht viel über Rotwein. Eigentlich nur, wie sich seine Flecken aus Teppichböden, Polstermöbeln oder Bettwäsche entfernen liessen. Überhaupt gab es kaum einen Fleck, der vor Consuela sicher war. Ihre Mutter hatte sie gelehrt, wozu Zahnpasta, Natron oder Kokosöl fähig waren. Kind, das ist das einzige, was ich dir mitgeben kann, hatte die Mutter vor der Hochzeit zu ihr gesagt. Und dabei so traurig geguckt, dass Consuela sich fragte, ob es nicht auch ein Mittel gegen verbitterte Augen gab.
Dabei sollte sich diese Form der Mitgift viel günstiger auf ihr Leben auswirken als ein Stapel spitzenverzierter Bettwäsche. Denn Consuela hatte sich dank dieser Tricks rasch hochgeputzt. Von dem kleinen Dorf zu Füssen der Sierra Madre Occidental in die amerikanische Grossstadt. In ein Hotel mit 18 Stockwerken, Spa und Barpianist. Wenn die Mutter über sie sprach, sagte sie, die Consuela hat mehr Mumm als alle ihre Brüder zusammen. Dabei glänzten ihre Augen wie ein frisch poliertes Klavier.
Weil Consuela mit einem Meter fünfzig aufgehört hatte zu wachsen, hatte sie ihre ersten Dollar in eine Trittleiter investiert. Vier Sprossen, türkisfarbener Lack. Damit konnte sie Bilderrahmen und Spiegel bequem erreichen. Das sieht doch sowieso keiner, sagten die anderen Mädchen. Doch, sagte Consuela. Der liebe Gott sieht alles. Die anderen Mädchen lachten. Was hat der liebe Gott in einem Hotelzimmer verloren?
Einmal stand Consuela auf der obersten Sprosse und reckte sich nach Spinnweben an der Decke. Da kam der Hotelmanager ins Zimmer, um ihr mal wieder ein neues Mädchen zu bringen. Das ist Consuela, sagte er zu dem jungen Ding. Von der können Sie lernen. Consuela konnte von oben auf den Kopf des Hotelmanagers blicken. Mitten in seinem schwarzen Haar entdeckte sie eine Glatze. Wie ein helles Ei, das man in ein dunkles Nest gelegt hatte.
Wenn Consuela neue Mädchen einarbeitete sagte sie, stell dir vor, deine Schwiegermutter kommt zu Besuch. Stell dir vor, sie will sehen, wie du ihrem Sohn den Haushalt führst. Aber das funktionierte meist nicht lange. Früher oder später übersahen die anderen Mädchen ein Taschentuch unter dem Bett. Sie vergassen, die klebrige Fernbedienung zu säubern oder hinterliessen ein Haar in der Badewanne. Dann mussten sie zum Hotelmanager und waren von seiner Laune abhängig. Consuela war noch nie einbestellt worden. Sie dachte an ihre Schwiegermutter, die am Biss einer Korallenotter gestorben war, und putzte die Zimmer, bis alle Menschlichkeit des vorigen Gastes verschwunden war.
Wegen des Jobs hatte Consuela ihren Mann auf untadelige Weise verlassen können. Einer musste schliesslich das Geld verdienen. Sie schaffte es ran, er gab es aus. Bei uns tut jeder das, was er am besten kann, hatte ihr Mann den Nachbarn erklärt, als Consuela sich mit dem schäbigen Koffer auf den Weg zum Busbahnhof gemacht hatte. Sein Lachen war ihm dabei zur Grimasse verrutscht. Fortan musste Consuela seinen pelzigen Atem nicht mehr neben sich im Bett ertragen. Wenn sie nach Feierabend in ihr Apartment zurückkehrte, musste sie keine Flaschen aus dem Weg räumen und kein Hähnchen braten, bis es fast schwarz war. Sie konnte sich einfach mit dem Doublechoc-Donut, den sie auf dem Heimweg im Supermarkt gekauft hatte, in den Sessel fallen lassen, die schweren Füsse auf die Trittleiter legen und den Fernseher einschalten.
Eines Tages machte sie in Zimmer 124 eine Entdeckung, der womöglich niemand sonst Bedeutung geschenkt hätte. Sie hatte vorschriftsgemäss das Briefpapier und den Kugelschreiber auf dem Tisch geordnet. Das Briefpapier mittig, den Kugelschreiber rechts daneben. Da fiel ihr auf dem Papier eine Zeichnung auf, die von dem Herrn, der hier zuvor genächtigt hatte, stammen musste. Das Portrait einer Frau. Obwohl er sie mit nur wenigen Strichen gezeichnet hatte, fand Consuela das Gesicht sehr charaktervoll. Das Kinn und den Mund hatte er nachgebessert, das war an den Radierspuren zu erkennen. Consuela fragte sich, ob es diese Frau wohl tatsächlich gab, ob sie vielleicht sogar hier im Raum gewesen war. Ob ihr geschwungenes Haar nach teurem Shampoo duftete. Ob sie nackt oder angezogen gewesen war, als sie gezeichnet wurde. Und warum hatte der Gast die Zeichnung nicht mitgenommen?
Sie riss das Blatt vom Block, faltete es sorgfältig und steckte es in die Tasche ihres Kittels. Dann nahm sie den Stift zur Hand. Unschlüssig spielte sie damit herum. Als Kind hatte sie oft mit einem Stock Vögel und Blumen in den feuchten Sand am Strand gemalt. Aber mit Stift und Papier wusste sie wenig anzufangen. Vielleicht sollte sie besser etwas schreiben. Etwas Poetisches. Sie sah aus dem Fenster. Durch die Gardine wirkte alles wie vom Nebel getrübt. Türme, Mauern, Fenster. Poesie konnte sie darin nicht entdecken. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Consuela, was machen Sie denn da? Fürs Herumsitzen bezahle ich Sie nicht. Consuela wollte etwas Entschuldigendes sagen, aber der Hotelmanager eilte mit wütenden Schritten davon. Sie fasste sich ein Herz und schrieb: Wenn Sie zum Frühstück einen wirklich guten Kaffee wollen, fragen Sie nach Consuela. Das war zwar nicht poetisch, aber immerhin nützlich.
Am nächsten Morgen wurde sie tatsächlich in den Frühstücksraum gerufen. Der Herr an Tisch 12 wolle sie sprechen. Er hielt den Briefbogen mit ihrer Nachricht in den Händen und sah sie fragend an. Consuela nickte und ging mit einer Tasse in das Büro des Hotelmanagers. Der starrte sie mit grossen Augen an, wie sie da herein kam und an seine Kaffeemaschine ging, als wäre es ihr Büro. Was fällt Ihnen ein, fragte er, als sie auch noch einen Mandelkeks aus seiner Dose nahm und auf die Untertasse legte. Consuela, die im Stehen so gross war wie der Manager im Sitzen, bebten die Nasenflügel. Ein Gast wünscht wirklich guten Kaffee, erklärte sie. Dem Hotelmanager klappte der Mund auf. Consuela dachte an das weisse Ei auf seinem Kopf und verliess das Büro, bevor er noch etwas sagen konnte. Sie brachte dem Herrn die Tasse. Er schenkte ihr zum Dank ein Zwinkern und eine Münze.
Von diesem Tag an machte sie es sich zur Gewohnheit, in jedem Zimmer eine kleine Botschaft auf dem Briefpapier zu hinterlassen. Sie verriet, von welchem Fenster im Hotel man den Sonnenaufgang beobachten konnte. Welcher Barkeeper die grosszügigsten Drinks mixte. Dass man auf Nachfrage an der Lobby ein besseres Kopfkissen bekommen konnte. Sie dachte beim Putzen nicht mehr an ihre Schwiegermutter, sondern an die nächste Botschaft, die sie auf das Papier schreiben würde.
Eines Tages bemerkte sie, dass der Vorrat an Briefpapier im Lager aufgebraucht war. Sie meldete es bei der Sekretärin des Hotelmanagers. Egal, das Briefpapier soll abgeschafft werden, bekam sie zur Antwort. Consuela fiel der Staubwedel aus der Hand. Warum? Weil es zu teuer und altmodisch ist, sagte die Sekretärin. Dafür ist das WLAN ab sofort kostenlos. Consuela hob den Staubwedel auf und kehrte zurück in die Zimmer. Sie schrubbte und scheuerte und dachte an ihre Schwiegermutter, die am Biss einer Korallenotter gestorben war. Als sie wieder mal alle Menschlichkeit aus dem Zimmer heraus geputzt hatte, setzte sie sich an den Tisch und nahm den Kugelschreiber. Ihre Hand war steif wie ein alter Lederhandschuh. Sie schrieb: Wenn Sie einen wirklich guten Kaffee wollen, gehen Sie in die Bar gegenüber – Consuela ist nicht mehr hier. Sie rückte das Briefpapier gerade, legte den Kugelschreiber rechts daneben und ging. Die türkisfarbene Leiter wogte sanft auf ihrer Schulter.