Juli 2010

Das Experiment

von Rudolf Treumann
Jahresthema: Im Jahr 2050
Monatsthema: ---

Das Experiment

Warum wir mit dem Experiment so lange gewartet haben, wollen Sie wissen? Dafür gab es Gründe. Erstens mussten wir uns sicher sein, die erfolgreiche Therapie gefunden zu haben. Die Idee dazu hatte ich in meiner Dissertation ausgearbeitet und die ersten Tierversuche dazu angestellt. Diese Arbeiten kennen Sie. Inzwischen ist schon ein halbes Jahrhundert darüber hinweggegangen. Damals war ich noch jung, sehr jung sogar, darf ich ohne Überheblichkeit sagen, und als junger Mensch neigt man zur Forschheit, man neigt dazu, sofort Erfolge sehen zu wollen. Meine älteren Kollegen haben mich glücklicherweise vor Unbedachtheiten bewahrt. Ich zolle ihnen viel Dank dafür, wie für vieles andere: gute Ratschläge, Hilfestellungen, Erfahrungen, ohne die wir nicht so weit gekommen wären, wie wir gekommen sind. Sie haben zum Glück alle noch die Erfolge unseres Experiments erleben können. Jetzt bin nur ich übrig als der jüngste jener Pioniergeneration. Zweitens brauchten wir die richtige Versuchsperson. Wir haben lange überlegt, wie sie sein sollte, bis wir schliesslich auf die Idee kamen, uns an Dr. Bernstein, den Anwalt und Vertreter von Herrn Fisher zu wenden und ihn um sein Einverständnis zu ersuchen. Das zu erhalten dauerte Jahre. Er wollte alles wissen: wie die Therapie abliefe, wie die Erfolgsaussichten seien, welche Gefahren bestünden. Und das alles musste im Geheimen abgewickelt werden. Die Presse durfte nicht das Mindeste davon erfahren, weil sie augenblicks herausposaunt hätte, was wir planten, und das hätte den Erfolg nicht nur gefährdet, sondern wahrscheinlich verhindert. Sie wissen ja, Experimente am Menschen sind strikt untersagt. Also konnten wir die Öffentlichkeit nur mit vollendeten Tatsachen konfrontieren; und wie sie auch wissen, hat es danach eine Menge juristischer Nachspiele gegeben, die wir nur wegen des ungeheuren Erfolgs des Experiments und der damit gesicherten Therapie abweisen konnten. Das gleiche Theater erlebte, das wissen Sie auch, ein halbes Jahrhundert früher die Gentherapie. So war es erst Ende der Vierziger Jahre so weit gekommen, dass wir das Experiment planen konnten, ständig von Fishers Vertreter, Dr. Bernstein, beaufsichtigt, der bei allem dabei sein musste und immer wieder mit der Weitergabe an die Presse drohte, wenn ein Problemchen auftrat. Darüber wurde ich dreissig und wollte nicht länger warten. In den fünf Jahren seit meiner Promotion hatte ich die Tierexperimente fortgesetzt und damit nur Erfolge gehabt. Wir, meine Kollegen und ich, hatten in Nature und Science publiziert und die Vermutung angestellt, dass wir die ultimative Heilmethode gefunden hätten. Das Nobelkomitee lud uns zu Vorträgen ein. Nur wusste niemand, wie von den Tierversuchen mit ihren positiven Ergebnissen auf eine wirksame Humantherapie übergegangen werden konnte. Die allgemeine Meinung war, es handle sich um graue Theorie. Das musste ein Ende haben. Darin stimmte Dr. Bernstein uns zu, wenn auch zögerlich. Lieber hätte er Fisher selbst befragt. Doch das war seit damals 67 Jahren nicht mehr möglich, wie Sie ja wissen. Ich sollte hinzusetzen, dass Dr. Bernstein bereits in dritter Generation Fishers Anwalt und Vertreter war. Seinem Büro war die Vertretung übertragen worden. Wir schrieben das Jahr 2050. Das Jahr, in dem ich Dreissig wurde, Dr. Bernstein übrigens auch, und das unser grosses Erfolgsjahr werden sollte.
Vielleicht sollte ich kurz andeuten, auf welcher Idee die Therapie beruhte. Sie war keineswegs aus der Luft gegriffen, sondern der Faunenevolution abgelauscht, wenn man es so ausdrücken will. Sie dürften sich so weit auskennen, zu wissen, dass Leben im Urozean entstanden ist, in dem es keinen freien Sauerstoff gab. Sauerstoff wurde erst durch die neu formierten Lebewesen als Abfallprodukt und Giftstoff abgegeben. Solange es bei Pflanzen blieb, war alles in Ordnung. Aber als die Fauna entstand und sich aus dem Ozean aufs Land begab, mussten eine Menge einzellige –primitive – Lebewesen einen Trick finden, sich vor der direkten Einwirkung von Sauerstoff zu schützen. Sie taten das, indem sie sich zu grösseren Lebewesen zusammenschlossen, bei denen nur die Peripherie dem Kontakt mit der sauerstoffhaltigen Atmosphäre ausgesetzt wurde, während ihr gesamtes Inneres von Sauerstoff und gleichzeitig auch von Strahlung abgeschirmt wurde. Dass dieser Vorgang eine Funktionsteilung erforderte, liegt auf der Hand; doch er funktioniert ausgezeichnet, wie Sie ja an sich selbst sehen. Ich will nicht auf die Einzelheiten eingehen. Die Idee war, diesmal nicht die Bestrahlung im Kampf gegen die Krankheit, sondern die Empfindlichkeit der im Körper abgeschirmten Lebewesen, der Zellen, gegen Sauerstoff auszunutzen. Es ging also darum, das kranke Gewebe mit reinem Sauerstoff zu behandeln, es reinem Sauerstoff auszusetzen und auf diese Art abzutöten, eine Art, die technisch richtig ausgeführt weitaus weniger Schaden anrichtet als alle Bestrahlung oder chemische Behandlung. Bei Tieren hatte die Injektion, die genaue Positionierung von kleinen Mengen Sauerstoff im erkrankten Gewebe ausgezeichnet funktioniert. Das klang wenig spektakulär und für das Publikum auch wenig glaubwürdig. Wir brauchten also eine Versuchsperson, der es nicht schadete – um die es nicht schade war. Darum waren wir auf Fisher verfallen, hatten alles vorbereitet, und Dr. Bernstein hatte sein Einverständnis erteilt. Fisher war eingeliefert worden. Sie müssen sich den Transportaufwand vorstellen! Aber wir hatten auch das gelöst, alle Widerstände überwunden. Das Aggregat war heruntergefahren worden. Wir verfolgten, wie die Temperatur langsam stieg von minus 190°C auf Zimmertemperatur und auf Körpertemperatur.
Fisher lag auf dem OP-Tisch vor uns. Die radiologischen Instrumente standen für den Gebrauchsfall bereit. Wir hatten TV-Kameras aufgestellt. Im Hörsaal wartete eine Gruppe ausgewählter Studenten, die sämtlich zum Stillschweigen verpflichtet worden waren, sowie Kollegen, deren Rat wir möglicherweise brauchen würden, falls unvorhergesehene Probleme aufträten. Dort beobachteten Neurologen, Neurochirurgen, auch ein Psychologe, ein Immunologe, aus irgendeinem undurchsichtigen Grunde ein Kinderarzt und mehrere Internisten den Fortgang. Bei 30°C Hauttemperatur starteten wir vorsichtig mit der Therapie. Eine dünne Kanüle war eingeführt worden, und wir liessen bei sehr niedrigem Druck knapp über dem eigenen, von der Temperatur abhängigen Körperdruck reinen Sauerstoff in das uns als erkranktes Gewebe bezeichnete Organ diffundieren. Ausserdem hing der Patient am Tropf, weil bei Einsetzen der Körperfunktionen, was bei etwa 25°C begonnen hatte, dem Körper Nahrung und Flüssigkeit zugeführt werden musste. Ich sollte hinzusetzen, was ich bisher unterliess, da Sie es ja ohnehin wissen, dass Fisher für seine Zeit unheilbar, etwa 1983, an Krebs erkrankt war. Er hatte sich freiwillig einfrieren lassen und wartete auf den Zeitpunkt einer so gut wie sicheren Therapie, zu dem er geweckt werden, therapiert und sein Leben fortführen wollte. Ein kurioser Gedanke, nimmt man die zeitliche Distanz in Betracht.
Wie dem auch sei, der Multimilliardär Fisher lag dort vor uns, und tatsächlich hatten seine Körperfunktionen eingesetzt, langsam und zögerlich, doch er funktionierte bereits wieder. Wir gaben dem Herzen einen Impuls, und es begann zu schlagen, der Kreislauf setzte ein, wir begannen mit der Beatmung, künstlich zuerst, doch bei 30°C übernahm der Körper, auch wenn wir die Maske der Sicherheit halber noch beibehielten. Fisher war ja noch nicht bei Bewusstsein. Langsam diffundierte Sauerstoff in sein krankes Gewebe, der Vorsicht halber noch in äusserst geringer Menge, die später erhöht werden konnte.
Sie werden sich vorstellen können, welche Spannung uns ergriffen hatte. Der OP-Schwester zitterten vor Aufregung die Hände. Nur unser Chef, Professor Weisskopf, war die Ruhe in Person, ein unerschütterlicher Fels, an den wir uns hielten. Er sprach hinauf zum Bildschirm mit den Kollegen im Hörsaal, er rechne mit ihrer Aufmerksamkeit, falls irgendetwas anders liefe als erwartet. Sie verfolgten ja das Geschehen in drei Dimensionen im Hyperraum so, als seien sie selbst mit anwesend. Auch da draussen herrschte gespannte Aufregung.
Fisher erwachte langsam. Die Instrumente zeigten es an. Die Muskulatur, die über Jahrzehnte stillgelegt worden war, würde erst wieder in Betrieb genommen werden müssen. Das brauchte ein paar Wochen. Aber die Hautfunktionen und die Mikromuskulatur, auch die inneren vegetativen Vorgänge einschliesslich Sekretion setzten wieder ein. Der Brustkorb begann sich zu heben und zu senken, die Haut kräuselte sich: er fror bei 33°C. Die Augenlider flackerten. Im Gesicht zuckte es. Wir alle sahen es. Wir beobachteten die Instrumente, die Zeigerausschläge, die Temperaturen, den Blutdruck, den Augendruck, die Hörleistung, die Blasenfunktion, die Nierenfunktion, die Hirnfunktion. Wir hatten alles im Griff, wie wir sagen. Komplett. Es verlief nach Plan. Genau, wie es sollte. Schiefgehen konnte nichts und würde nichts. Wir standen dabei, registrierten und hatten eigentlich nichts weiter zu tun, als zu warten. Trotz der ungeheuren Spannung, die auf uns lastete, begann es langweilig zu werden.
Die Temperatur hatte jetzt 35°C erreicht. Bald würde sie auf das Niveau der normalen Körpertemperatur angestiegen sein. Ich hatte die Hände in die Taschen meines weissen Kittels gesteckt, lehnte mich in meinem Stuhl, in dem ich Platz genommen hatte, zurück und wartete wie die anderen. Ich sollte hinzusetzen, dass wir Fisher nicht angeschnallt hatten. Der Natur nach makroskopische Bewegungen waren nach der langen Ruhe im tiefgefrorenen Zustand nicht zu erwarten. Er lag frei auf dem Bett. Langsam kletterte die Temperatur, sehr langsam. So musste es sein, damit die Zellen wieder zu leben begannen und nicht zerstört wurden. Die OP-Schwester beruhigte sich und wandte sich ihren Tätigkeiten zu. Professor Weisskopf trat an die Tür und begann mit einem der Kollegen, ich weiss nicht mehr genau, wer es war, den weiteren Fortgang zu besprechen. Ich hatte nichts zu tun, weil die Therapie angelaufen war und nichts verändert werden musste.
So blickte ich einigermassen gelangweilt zu Fisher hinüber. Die Temperatur sollte auf normalem Niveau angelangt sein, dachte ich. Wenn alles in Ordnung ginge, würde Fisher demnächst erwachen und einen Laut von sich geben. Die Kollegen sassen vor ihren Instrumenten oder gingen im Raum umher. Komisch, dachte ich, genau im interessantesten Moment ist die allgemeine Erschöpfung so groß, dass die Aufmerksamkeit in sich zusammenfällt. Genau an diesen Gedanken erinnere ich mich immer wieder aufs Neue, weil er so absurd war, weil mir die Situation so absurd erschien. Wir, lauter hoch ausgebildete Spezialisten, standen da um eine Person herum, mit der wir unsere Zeit verbrachten, und diese Person würde in wenigen Minuten aus einem jahrzehntelangen Todesschlaf erwachen und sich in dieser Zeit, dieser gänzlich veränderten Welt, die sie nicht kannte, nicht auskennen, nicht zurechtfinden. Ausser uns und Dr. Bernstein gab es niemanden, der sich um sie kümmern würde. Es gab niemanden, an den sie sich erinnerte, den sie kannte. Nicht einmal war gewiss, ob Fishers Vermögen noch existierte oder nicht doch den verschiedensten Finanzkrisen zum Opfer gefallen war. Nun, wenn ein paar Millionen übrig geblieben waren, reichte das schon. Das war Angelegenheit und Sorge von Dr. Bernstein, nicht die unsere. Für unsere Kosten kam die Versicherung auf, und das war nach Dr. Bernsteins Auskunft, gesichert. Was hatte Fisher sich eigentlich gedacht, als er sich einfrieren liess? Hatte er geglaubt, sein Leben normal wie vorher weiterführen zu können? Wahrscheinlich hatte er überhaupt keine Vorstellung davon gehabt, was ihn erwartete: eine ihm fremde Welt. Er wollte einfach gesund therapiert werden. Nichts weiter. Alles übrige, dachte er wohl, stelle sich dann von selbst ein.
Ich sah zu Fisher hinüber. Er lag mit jetzt weit geöffneten Augen da und blickte sich um. Seine Hände zogen sich zusammen und streckten sich wieder, und plötzlich richtete er sich auf und setzte sich auf dem Bett mit herunterhängenden Beinen zurecht. Er sah mir starr in die Augen, und da erkannte ich, dass er ein leeres Blatt war.
«Achtung!» rief ich. Alle wendeten sich um.
«Hallo, Herr Fisher», sagte ich halblaut.
Er blickte mich verständnislos an. Und dann fing er plötzlich an zu schreien und zu weinen, wie ein Neugeborenes, sogar im Tonfall eines Neugeborenen, hoch und schrill, doch mit seiner Männerstimme. Er schlug mit den Armen um sich. Die Instrumente fielen von ihm ab. Jetzt hing er nur noch am Tropf und an der Kanüle. Wir sprangen alle hinzu und packten ihn und die Geräte.
«Der Kinderarzt, eine Säuglingsschwester, zwei Krankenpfleger. Sofort in den Behandlungsraum!» befahl der Chef. Er trat zu Fisher und redete begütigend auf ihn ein. Die OP-Schwester kam ihm zu Hilfe, und Fisher, die Stimme einer Frau hörend, hörte auf weiter so zu schreien. Doch sobald jemand ihm zu nahe kam, schlug er wieder um sich. Der Kinderarzt stürmte herein, die Säuglingsschwester im Schlepptau und die beiden Pfleger, zwei kräftige Burschen, die ihren Zivildienst verrichteten. Wir waren alle beschäftigt, Fisher zu bändigen. Das gelang erst, als er eine Babyflasche mit Nahrung bekam. Er trank und trank und schlief danach sofort ein.
Die anschliessende Untersuchung brachte folgendes zutage: Fisher hatte im tiefgefrorenen Zustand einen totalen reset durchgemacht. Er war praktisch, bis auf Körpergrösse und mechanische Funktionen, wieder zum Baby geworden, ein 121jähriges Baby. Vergessen Sie nicht: als Fisher sich einfrieren liess, war er 54 Jahre alt gewesen. Sein Gedächtnis war gelöscht. Weil er sich an nichts erinnerte, bereitete sein Einleben in die ihm fremde Zeit keine Schwierigkeiten. Wie jedes andere Kind lernte er von klein auf.
Aber das Eigentliche, worauf wir alle gewartet hatten, war nicht dies, sondern wie es um seine Erkrankung stand. Hier erlebten wir die Überraschung unseres Lebens. Auch sie war gelöscht! Fisher war gesund: ein geheilter Idiot. Allerdings, war er lernfähig und wurde allmählich ein normaler Mensch, der noch ungefähr 70 Jahre leben würde. Meine Sauerstofftherapie war nutzlos geworden. Ich konnte sie an den Nagel hängen.