März 2020

Dementieren

von Bettina Wiesendanger
Jahresthema: Klima- und andere Katastrophen
Monatsthema: Kugelblitz

Alt, lebenssatt, dement. Sein Denken ist nicht weg. Sein Denken ist da. Und wie es da ist. Nur ist es ganz nahe bei seinen Gefühlen. Ungetrennt und vermischt. Wer zuletzt denkt, denkt am besten. Wie bitte? Momentan ist er eingeschlossen von weiss verpackten Wattefiguren. Sie sehen weich aus. Doch sie sind hart, irgendwie.

Verschleierte Gerichtsaussagen über sein Leben nimmt er wahr. Er spürt sie. Demenz. Was ist denn das? Eine Diagnose? Oder doch eher ein Lebensgefühl? Er lächelt. Und er dementiert.  Schlägt mit seinem Stock ein wenig auf den Boden. Jetzt sowieso, wo er allein im Zimmer ist. Eingeschlossen.

Der Fernseher läuft den ganzen Tag. Alle wollen das so. Er auch. Es gibt Natursendungen. Und die Worte fallen und fallen und fallen, er versteht nicht alles. «Meist treten Kugelblitze nach Blitzeinschlägen auf. Ihre Grösse kann von wenigen Zentimetern bis zu einem Meter reichen. Die meisten sind ungefähr so gross wie ein Fussball.» Nach Blitzeinschlägen. Blitzeinschlägen. Hat irgendwo ein Blitz eingeschlagen? Er weiss es nicht. Er fühlt etwas.

Dieser Blitz, etwas zwischen rational und emotional. Zwischen wissenswert und hoch explosiv. Das Wissenswerte erkämpfen sich die Menschen um ihn herum immer wieder. Er hört es. Er spürt es. Sie sagen dann: Es ist eine spannende Zeit. Doch das Bedrohliche ist immer da.

Wie bei den Astronauten, die ihm plötzlich das Essen eingeben. Eigentlich hat er keinen Hunger. Doch wenn er eine kleine Zeitung vor sich liegen sieht, mit Bildern von Bratwürsten, Cervelats und gekochten Eiern, dann hat er darauf eine unbändige Lust und beisst ins Papier. Aber Hunger?

Leben, leben, wie er immer gelebt hat, das muss nicht sein. Das ist ihm egal. Aber weiterleben, das will er, ums Verrecken. Ein bisschen Luft atmen. Blinzeln. Kauen. Schlafen auch. Und jetzt noch ganz allein sein – warum nicht auch das.

Er ruft laut: «Durch Glas…Glas; Scherben, der Lehrer erklärt den Kugelblitz». Er ist in der Schule, in einer Art Fernunterricht. Fernunterricht, davon reden sie im Fernseher die ganze Zeit. Er ist am Lernen.

Vielleicht die Scheibe zerstören, um Scherben für den Blitz zu bekommen? Dazu ist er zu schwach. Vierzig Kilo. Doch Kugelblitze entstehen durch Glas, durch Scherben, sagt der Lehrer. Ionen sammeln sich an der Oberfläche einer Glasscherbe. Er murmelt, repetiert: «Ionen, Ionen.» «Was möchten Sie, Chef?» sagt die Pflegerin in gebrochenem Deutsch. Sie mag ihn, das spürt er. Er beginnt, ihr den Kugelblitz zu erklären: «Diese kleinen…Chemie…die stimmt, die Chemie…Sie sammeln sich an der Oberfläche, sammeln sich, versammeln sich, dürfen sich nicht versammeln…» Sie versteht ihn.

Der Fernseher läuft weiter: «Die Ionen lösen auf der anderen Seite der Scheibe ein starkes elektrisches Feld aus. So dass sich alles entlädt.» Mit einem Knall. Er holt Luft und spickt damit seine lockeren Lippen weg, eine Entladung. Aber momentan ist niemand da, der das versteht. Kein Astronaut mit Mundverklebung in Weiss. Kein Gegenüber. Nichts.

Er weint. Drogen hat er nie genommen. Aber das ist ein Trip. Ein Trip in den Tod. Das weiss er. Die Kleider liegen schon bereit. Sie werden nicht mehr sitzen. Sie sind zu gross. Er hat gehört, wie sie darüber sprechen. Krawatte. Gewand. Würde. Im Schrank ist alles da, wenn er tot ist. Würde, trotz dieser Seuche. Ins Feuer geschoben werden mit schöner Kleidung. Schade um die Kleidung. Aber Kremieren: das ist sinnvoll. Die Überreste stören dann weniger. Eine staatspolitische Angelegenheit. Damit es genug Platz hat. Das hat er immer gesagt. Eine Feuerprobe für den Staat.

Niesen. Sein Vater hatte ihm, draussen auf dem Land, auf einem Feldweg einmal gesagt, «Weisst du, Gesundheit wünschen sich die Menschen, seit damals die Pest da war. Wenn man nieste, dann war das ein erstes Zeichen. Und man wünschte sich «Gesundheit». Um die Seuche zu überleben.»

Heute wünschen sich auch alle den ganzen Tag lang Gesundheit. Bleibe gesund. Das hört er immer wieder. Manchmal drohend.

Da wollte noch jemand kommen, um Kirchenlieder zu singen. Grosser Gott, wir loben Dich. Er hatte keine Lust. Obwohl er alle Strophen auswendig konnte. Elf. Doch das war Erziehung. Ordnung. Wirkung gegen aussen. Das war vorbei. Jetzt war Anarchie. Aggressive Einsamkeit. Wende dich zu mir und sei mir gnädig; denn ich bin einsam und elend. Das sagt er laut. Betet es. Schläft ein.

Wenn er allein ist, hat er Durst. Und er hat Angst, dass das Schwesterchen ihm nichts zu trinken bringt. Das Schätzeli. Und das Brüderchen spricht: «Schwesterchen, mich dürstet, wenn ich ein Brünnlein wüsste, ich ging und tränk einmal; ich mein, ich hört eins rauschen.» Doch der Brunnen ist vergiftet. Der Metallhahn konserviert die Viren. Man wird zum Tiger, zum Wolf, zum Rehlein. Und als Wolf sagt er zur Schwester: «Schätzeli, ich habe Durst.» Aber sie ist schon lange verschwunden.

Wenn jetzt eine kommt, erkennt er sie nur noch daran, wie sie ihn vorher, vor der Zeit der Astronauten angeredet hat: Als «Chef». Nur diese Anrede bleibt. Ausgesprochen von einem Astronautenmenschen: «Chef, haben Sie Durst?» Nur noch die Stimme, wenn sie «Chef» sagt.

Wer sind Sie?

Eine Rose zur Krawatte legen, später. Wie beim Zimmernachbarn. Dort hat er das gesehen, wie sie das machen. In diesen Tagen, siebenunddreissig Kilo. Das reicht.

Ins Leben hat er etwas hineingegeben. Hat selbst Alte gepflegt. Geholfen. Deshalb ist es für ihn klar: Leben bis am Schluss. Aber scheinbar ändert sich jetzt etwas. Etwas ist neu. Anders. Eine Angst. Astronauten, in Weiss. Die sind es. Die sind neu.

Weisse Kugeln. Mit Mundschutz. Und Löffeln. Um ihn zu füttern. Darauf hat er keine Lust mehr. So allein, Anarchie ohne andere. Das macht keinen Spass. Grosser Gott, wir loben Dich, allein, das macht keinen Spass.

Etwas Neues beginnt. Mit diesen weissen Kugelmenschen. Er ist froh, dass er das Wort gefunden hat: Astronauten. Sternenruderer. Mit den Löffeln, die sie zu seinem Mund führen.

Die Nacht kommt. Ein leichtes Fieber. Es wird Morgen. Und er stirbt. Er gehört zu denjenigen Toten, die gezählt und in den Abendnachrichten erwähnt werden, als Zahl.