Der Angriff
Was tät ich nicht alles, und nie schritt ich zur Tat. Wie wir da fuhren, wir drei, auf unseren Rädern und zogen engverschlungene Spuren im Sand, denn im Sand liessen sich Spuren so gut sehen. Da frage ich mich, wann meine eigene zu Ende ging, wann ich sie verloren habe, und die Welt ein blanker Türknauf wurde. Ich drehe mich um und kann nicht sagen, aus welcher Richtung ich gekommen bin. Scheisse, das macht mir Angst.
Wir drei auf unseren Rädern. Kai fährt an der Spitze, seine Schwester Helen hinter ihm, ich am Ende. Dem Alter nach wäre mein Platz in der Mitte, doch es stört mich, dass Kai als ältester nicht hinten fährt. Deshalb springe ich für ihn in die Bresche.
Er sitzt auf dem Fahrrad seiner Mutter, denn die würde es nicht vermissen, sagt er. »Ist gemütlich«, und ich schaue auf mein eigenes hinab, über das ich mich weniger freue als an dem Tag, als ich es bekam.
Eigentlich will ich Kai für seinen breiten Sattel und die grosse Klingel auslachen. Doch er ist jemand, den auszulachen keine Freude macht. Das unterscheidet ihn von mir.
Wir fahren an den Kleingärten entlang, der Bach zu unserer Rechten. Ich trete dreimal steif in die Pedale und gebe mich der Illusion hin, mein Rad würde sich von allein bewegen.
Die Parzellen neben uns enden und der Weg schlägt grobschlächtig in ein grünes Feld wie eine Axt, die wir mit jedem Besuch dieser Idylle tiefer hineintreiben. Es ist ein Pfad, der nur uns gehört, denn wir haben ihn mit unseren Spuren gehaspelt, und er wird bleiben, solange wir wiederkommen.
Ich erschrecke nicht, als der Schrei der Gleise über die Wiesen gellt. Er ertönt häufig – ich erkenne ihn an seiner weissen Farbe – und jedes Mal ist es, als würde sich das Tosbecken meiner Welt nach aussen stülpen. Der Güterzug beschreibt einen weiten Bogen, der uns Rückendeckung gibt, und ich sehe, wie die Schatten seiner Wagons über Helens vollmondblonde Strähnen flackern. Ganz sicher nicht an diesem Tag, denn die Sonne steht noch hoch und die Schienen sind weit entfernt, doch ich sehe es genau.
Wir lassen die Räder ins Gras fallen, Kai am vorsichtigsten. Hier ist das Ufer breit, die Böschung steil und von Bäumen gesäumt. Alte Eschen sind das, mit schwarzfauliger Rinde, wo das Grün der Blätter erst weit über unseren ausgestreckten Fingern beginnt. Sie halten ihre gebrochenen Arme verschränkt, doch wir tauchen darunter hindurch, dorthin, wo der Bach nun ganz nah ist. Er plätschert hell wie ein blaues, mit Schellen verziertes Band. Er ist flach und schnell. Trotzdem trinken wir nicht davon, denn nur ferne Wasser machen uns Durst.
»Jemand ist hier gewesen«, sagt Helen. Sie wirkt gekränkt, und ich sehe, wie sie zurück zu den Fahrrädern blickt.
Im Unterholz stinkt es nach Nässe und Müll, doch ich fühle mich mutig, als ich mir mit den Händen eine Schneise zu unserem Versteck schlage. Ich bin mit der Bestie vertraut. Ich mache mir vor, dass es etwas zu fürchten gibt, und fürchte es nicht. Das ist mein nutzloser Mut.
»Hier war niemand«, sage ich und Kai nickt mir zu. »Wir waren nur zu lange weg.« Unser Versteck bleibt mir gut im Gedächtnis, denn ich träume davon, wenn ich schlafe. Es erinnert mich an die Kurzhaarfrisur meiner Lehrerin, der ich mühelos ansehe, ob sich von gestern auf heute eine Schere daran zu schaffen gemacht hat. Ich hasse diese Daumenkinos, diese Bildkopien, die sich bis unter meinen Stirnlappen stapeln.
Wir befreien unser Versteck von Brennnesseln, indem wir mit Stöcken bewaffnet Pirouetten schlagen. »Rasenmähen«, sage ich, doch wir lachen nicht darüber. Es ist eine ehrliche Arbeit, und wenn wir sie nicht tun, tut sie niemand.
Mir fällt auf, dass wir drei nur wenig miteinander reden. Manchmal raunen wir uns Kommandos zu, man solle sich vor den Radfahrern am anderen Ufer verstecken. Manchmal geben wir uns auch Zeichen, dass der Regionalexpress in den Bahnhof fährt. Doch ansonsten weiss ich nicht, worüber wir sprechen. Wenn einer der anderen beiden Sorgen hat, werde ich mich nicht daran erinnern. Das tut mir leid, aber es ist die Wahrheit.
Wir leben in einer Zeit der Taten. Jeder von uns arbeitet für sich im Versteck. Helen ist gut darin, sich bereitzuerklären. Sie zwängt sich in neue Unterschlüpfe und klettert auf Äste, die Kai und ich ihr von unten zeigen. Sie glaubt weder an die Schwerkraft noch an den Fall. Dafür glauben wir daran, sie auffangen zu können. Ich bin froh, dass sich keiner von uns irren muss.
Meine Stärke ist es, Dinge zu erfinden. Ich bin Ingenieur und habe viele Nägel in den Taschen, mit denen ich Klappen, Griffe, Halterungen, Stufen und Kleiderhaken baue.
Kai hingegen ist gut darin, uns für unsere Einzigartigkeiten zu loben und nicht gekränkt zu sein, wenn wir ihm kein Lob dafür zurückgeben.
Als wir drei nach neuem Schrott im Dickicht suchen, zieht er ein dickes Kabel aus dem Boden. Ich wittere die Chance, etwas daraus zu bauen, und zücke mein Messer, um Kais rechte Hand zu sein, aber er schüttelt den Kopf. »Dafür kommt man in den Knast«, sagt er und lügt, als er versichert, das Kabel würde unser Krankenhaus mit Strom versorgen.
Doch Helen findet einen Schatz, mit dem wir mehr anfangen können. Es handelt sich um eine feine Auslese an illegal entsorgtem Sperrmüll, und weil die Brombeerranken nicht darüber, sondern darunter wachsen, wissen wir, dass alles neu ist.
Unter dem Einsatz von Klebeband erschaffe ich aus einem Eisenrohr und einem Stock ein Schwert. Würde ich es nach den grossen Taten benennen, die es vollbringen wird, wäre sein Name »Das blaue Hämatom«. Das ist gewiss besser als »Der irreparable Schädelbruch«, doch meine Mutter kommt mir zuvor, und wenn ich damit später klirrend die Einfahrt hinabtrotte, wird sie es für den Rest meiner Kindheit das Scheissteil nennen.
Ich lasse das Scheissteil über meinem Kopf kreisen – denn so kenne ich es aus Filmen – und stelle fest, dass seine Gewalt beängstigend und mein Arm nur die einzelne Speiche eines Rades ist.
Unten am Bach finden wir ein paar alte Flaschen im Schilf. Jeder darf das Scheissteil schwingen und einmal schlagen. Wieder springe ich für Kai in die Bresche, denn ich bin als letzter an der Reihe. Etwas in mir sträubt sich gegen den Krach und die scharfen Scherben, gegen den Gedanken, dass gleich etwas Schlimmes passiert und ich mir wünschen werde, die Zeit wieder zurückzudrehen. Ich bin ein Neinsager. Ich habe die Anzahl an Neins, die ein Menschen von sich geben sollte, bereits an meinem elften Geburtstag verbraucht gehabt. Nein zu sagen, das ist, wie mit den Händen eng auf den Ohren in einen Graben zu hechten. Damit bringe ich mich in Sicherheit.
Doch als Helen mir das Eisen gibt, sage ich gar nichts. Ich bin ein Neinsager, deshalb ist mein Schweigen ein Ja.
Das Funkeln der Sonne wandert den Schaft entlang bis zum Ende. Es ist ein spitzes, nicht zu täuschendes Licht, mit dem Ärzte für gewöhnlich in die Pupillen ihrer Patienten leuchten. »Richtig so?«, frage ich und hebe das Rohr, als wäre es das Schwert, mit dem ich meine Unschuld zu köpfen plane. Doch die Unschuld ist eine Hydra und dies nicht mein erster Schlag.
»Genau so«, sagt Kai.
Der Lärm ist bestrafend laut. Schliesse ich die Augen, schwillt er an. Im Moos unter meinen Füssen spüre ich den entfernten Marsch eines Uhrwerks, spüre, dass es springt, pausiert und dann weitermarschiert. Von Maisgelb in Bernstein stürzt die Sonne über den Äther. Ein paar Stunden sind vergangen, und nun erst kann ich dem Fallen der Scherben wieder lauschen.
Über die Wiesen gellt ein Schrei, doch einen solchen kenne ich nicht, wir haben ihn noch nie gehört. Weiter flussabwärts, einen Sprint, den ich mit Mühe bewältigen würde, entfernt, tummeln sich vier Gestalten im Dickicht, deren Gesichter mir bekannt vorkommen. Einer von ihnen ist Glatze, der Junge neben ihm heisst Kippe. Die anderen zwei sind die Bulgaren-Zwillinge. Eben noch stehen sie am anderen Ufer, doch als Kai und Helen meinem Fingerzeig folgen, überquert der erste von ihnen jäh das Wasser.
»Du kennst sie doch aus der Schule?«, frage ich schnell. Kai schüttelt den Kopf. Ich bin streng mit ihm und erwarte, dass er den Mund für ein Kommando öffnet. Welches das sein soll, kann ich nicht sagen. Wir brauchen uns nicht zu verstecken. Die vier haben uns im Blick und ihr Geschrei gilt allein unseren Ohren.
Kai führt uns durch die Bäume, vorbei an unserem Versteck bis auf die Wiese, wo unsere Räder im Gras liegen. Mir ist heiss in der Brust und ich merke, dass ich das Scheissteil am Ufer habe fallen lassen.
Die vier Gestalten preschen wie Granatensplitter durch das Dickicht. Sie sind uns nicht näher als zuvor, doch dass sie den Bach überwinden konnten, lässt mich erschaudern, denn ich habe diesem Ort eine Unantastbarkeit unterstellt, deren Ausbleiben mich in meinen Grundfesten erschüttert.
Sie laufen nun, jagen auf uns zu, brüllen durch ihr eigenes Gelächter, dass ich mich zu fragen beginne, ob sie sich einen Spass mit uns erlauben oder nur Freude an ihrer Bosheit haben. Glatze führt einen Hund an der Leine. Der Köter wächst mit jedem Schritt und sein tosendes Bellen erinnert mich mehr an einen einfahrenden Zug als an ein Tier. In Kippes Hand blitzt eine Flasche, von der ich sicher weiss, dass er sie werfen will. Die beiden Bulgaren tragen Waffen, doch welche das sind, kann ich nicht erkennen.
»Abhauen!«, rufe ich und packe Helen mit der Hand am Arm. Ich glaube nicht, dass sie sich beschützt fühlt. Hätte ich mein Fahrrad nicht aufgerichtet, wäre sie sicher genauso an ihrem eigenen vorbeigegangen wie Kai an dem seiner Mutter.
»Bitte!«, sage ich nun, doch ich bitte nicht mehr, ich flehe.
Wie etwas Verdorbenes quält sich mir der Wunsch aus dem Magen, hinab zum Ufer zu laufen und die zerschlagene Flasche wieder zusammenzufügen. Aber die Angreifer kommen, ohne dass wir irgendetwas tun.
Kai steht an der Spitze, seine Schwester Helen hinter ihm, ich am Ende. Dem Alter nach wäre mein Platz in der Mitte, doch es stört mich, dass ich so eine verfluchte Angst habe.
»Die haben es auf unsere Räder abgesehen«, schärfe ich Helen ein. Sie will mir glauben, aber sie tut es nicht.
Auch Kai steht noch immer dort. Erst denke ich, er geht den Angreifern entgegen, doch das stimmt nicht. Es liegt an mir. Ich habe mein Bein über den Sattel geschwungen und ein Boot betreten, das unmerklich vom Ufer treibt.
Die Gestalten schrumpfen, und einen Moment lang kann ich nicht sagen, ob etwas Schlimmes passiert. Sie alle stehen nun dicht beieinander. In der Ferne versuche ich zu erahnen, ob jemand zum Schlag ausholt und ein anderer deshalb zu Boden geht, doch sie branden wie zwei Wellen an unterschiedlichen Küsten. Sie berühren einander nicht. Niemand brüllt mehr. Kein Gelächter.
Ich lasse mein Fahrrad ins Gras fallen und fühle mich dem Geschehen wieder näher. Kalter Wind streicht mir um die Beine, streift mich am Hals und an den Wangen. Ich trage einen schwarzen Pullover mit einem gelben Zebra darauf – so ein Fleece-Teil, das mit der Natur einen engen Klettverschluss bildet –, und wenn ich nun zur Front schreite, dorthin, wo Kai und Helen sind und wo auch die vier Angreifer stehen, werde ich die Arme verschränkt vor der Brust tragen.
Mir ist etwas mulmig zu Mute. Die anderen reden miteinander, doch es scheint um nichts Ernstes zu gehen, denn ich höre Kai über etwas lachen, das Glatze jäh in die Runde wirft.
Als ich zu ihnen stosse, grinsen mich die vier Angreifer an. »Tach!«, sage ich und entblösse, indem ich die Hand hebe, mein gelbes Zebra.
»Tach!«, sagt Glatze. »Hattest es wohl eilig, wie?« Mir fällt auf, dass sein Hund verschwunden ist. Stattdessen höre ich den Regionalexpress bellen.
Ich blicke zu Kippe, der Kai und Hellen nach ihren Namen fragt. Die Flasche in seiner Hand ist ein halb geleertes Mix-Bier, und plötzlich bin ich mir sicher, dass er es nicht werfen wird. Es ist sein Statussymbol. Er will der Säufer sein.
Die beiden Bulgaren tragen keine Waffen, sondern Schrott. Es ist guter Schrott, Gelenke und Federn, die mich fast neidisch machen. Um uns zu schlagen, haben sie keine Hand frei.
»So, so«, sagt Kippe. »Jemand hat unser Versteck zerlegt – drüben an den Gleisen.« Er setzt sein Mix-Bier steil an die Lippen und gibt uns einen halbherzigen Schluck lang Zeit zum Überlegen.
»Waren wir nicht«, sagt Kai. »Haben selbst genug zu tun.«
»Bei uns waren die nämlich auch.« Helen schaut mich an, und diesmal gebe ich ihr nickend recht. »Mussten den ganzen Tag aufräumen.«
Glatze stösst ein lustloses Lachen aus. »Kann euer Versteck gar nicht sehen.« Ich möchte ihm ins Gesicht tackern, dass wir uns keine Leuchtreklame gezimmert haben, doch schweige.
Kai führt die vier Angreifer durch die Bäume bis zu den gemähten Brennnesselfeldern, Helen und ich folgen mit Abstand. Als wir zu ihnen aufschliessen, sitzt Kippe bereits auf halber Höhe im Geäst. In der Hosentasche balle ich die Faust, denn eigentlich gehört der Platz nur Kai.
Glatze presst seinen Fettarsch in das Loch, durch das ich die Radfahrer auf der anderen Seite beobachte. Die Bulgaren ziehen meine Kleiderhaken aus der Rinde.
»Wollt ihr auch?«, fragt Kippe. Er schnippt eine Zigarettenschachtel aus der Tasche und fängt an zu rauchen.
Helen und Kai sagen nichts. Ich antworte Nein.
Auch die Bulgaren quarzen zwei Stängel F6, am Ende sogar Glatze. Sie alle husten wie verrückt und ich bin froh, dass Kai uns später erzählt, sie hätten es falsch gemacht, denn von Zigaretten verstehe er schon ein wenig.
Am Anfang denke ich, dass die Angreifer noch abwägen. Ob sie das Versteck übernehmen. Ob sie uns verdreschen. Ob sie die Fahrräder klauen oder auseinandernehmen. Doch als Glatze beteuert, er würde diesen Ort sterbenslangweilig finden, fühle ich mich erleichtert. Erleichtert, wenn auch wertlos.
Wie lange wir da stehen und ihnen zuschauen, kann ich nicht sagen. Ich weiss nur, dass sich mein Herzschlag allmählich beruhigt und ich mich, je mehr er das tut, zunehmend weniger erinnere.
Irgendwann am Abend sind die Angreifer wieder fort. Sie haben ihre Pullen und Zigarettenschachteln zurückgelassen, doch das ist Müll, aus dem selbst ich nichts bauen kann.
»Da haben wir morgen einiges zu tun«, sagt Helen. »Aufräumen, wiederaufbauen …«
Kai nickt nur. Er ist heute der Erste an den Rädern. Wir sprechen kein Wort über das, was passiert ist. Eigentlich ist alles wie immer, glaube ich. Dass wir nie wieder zurückkommen werden, scheint keiner von uns zu wissen. Bei all der Angst: Vor dem Ende fürchtet sich niemand, nicht einmal ich.
»Fahrt schon mal vor!«, rufe ich und lege mein Rad zum dritten Mal an diesem Tag nieder. »Ich hab’ noch was vergessen.«
Die anderen beiden winken mir zu, und indem sie fahren, schliesst sich der Pfad hinter ihnen wie ein grüner Reissverschluss im Feld, wie eine feine Naht, ein Stich pro Tag.
Ich drücke mir mein Schwert innig auf die Brust, lege mich ins Gras und schlafe, während die Erde zehnmal um die Sonne und ein einziges Mal um meine Nasenspitze kreist. Dann öffne ich die Augen, stecke mir eine Zigarette an und stehe auf.
Mein Körper hinterlässt keinen Abdruck im Boden. Es ist, als wäre ich nie hier gewesen.