Der Bahnwärter
Vom Tal her kam der Zug, wie jeden Tag um diese Zeit, eine rote Komposition der Bernina-Bahn. Hören konnte er sie schon eine ganze Weile, sehen aber immer noch nur die Stützmauer aus Natursteinen, das Gleis, die Tannen. Dann plötzlich war der Zug da, wie aus dem Nichts, und fuhr an seinem Häuschen vorbei.
Dieses plötzliche Auftauchen irritierte ihn jedes Mal von Neuem: Irgendwie war es doch unmöglich, dass der Zug von einem Augenblick auf den anderen einfach da war und vorher nicht. Wenn der erste Streifen Rot der Lok zu erkennen war, müsste einen Sekundenbruchteil vorher doch mindestens die Hälfte davon auch schon sichtbar gewesen sein und noch ein bisschen früher ein Viertel – ja genau genommen konnte es diesen Übergang von Nichts zu Etwas gar nicht geben und der Zug könnte eigentlich gar nie auftauchen. Aber da war er und pfiff fröhlich, als er am Häuschen vorbeiratterte, verschwand gleich darauf wieder hinter den Tannen auf der anderen Seite, und wieder gelang es dem Alten nicht, den Moment festzuhalten, an dem das letzte Stückchen Zug verschwand. Eben noch war es da, und dann plötzlich nicht mehr. Er konnte nur noch hören, wie sich der Zug um enge Kurven, über Brücken und durch Kehrtunnels den Berg hocharbeitete. Wie jeden Tag um diese Zeit.
In den letzten Wochen war ihm aufgefallen, dass es viele Dinge gab, die ebenso unerklärlich aus dem Nichts auftauchten, die da waren und dann von einem Augenblick auf den anderen nicht mehr. Manchmal schreckte er auf und merkte, dass er selber für eine kurze Zeit weg gewesen war, ganz weg, ohne Bewusstsein, ohne Erinnerung. Ohne dass er bemerkt hatte, wie er wegtrat. Er realisierte erst im Nachhinein, wenn er wieder zu sich kam, dass es erneut passiert war. Wenn er nicht mehr aufgewacht wäre, sagte er sich, hätte er gar nie erfahren, dass er das Bewusstsein verloren hatte. Das geschah immer häufiger, mit der zunehmenden Müdigkeit, dem Schwindel und dem Druck auf der Brust.
Da fragte er sich, ob der Tod auch so kommen würde. Und das machte ihm Angst.
Dann, eines Tages, kam der Tod. Er kam in Gestalt eines Zugbegleiters, mit der obligaten roten Uniformjacke und einer schwarzen Umhängetasche. Der Alte schlug die Augen auf und zuckte zusammen, als er ihn vor sich stehen sah. «Wie sind Sie hier reingekommen?»
«Sie waren eingenickt», antwortete der andere ruhig, «ich wollte Sie nicht wecken.»
Der Alte rieb sich die Augen, bot dem unerwarteten Gast einen Polstersessel an, und der setzte sich. «Sie wissen, wer ich bin?»
Der Alte nickte etwas nervös. Sein Blick schweifte durch den niederen Wohnraum mit den Holzwänden, den Regalen, dem Sofa. Die Katze tappte aus der Küche und sprang aufs Fensterbrett.
«Und?», fragte der Tod freundlich. «Sind Sie bereit?»
«Nun ja, wissen Sie…» Der Alte biss sich auf die Lippen, dann erzählte er von der Sache mit dem plötzlichen Auftauchen und Verschwinden von Zügen und von seinem Bewusstsein und dass ihn das, besonders im Hinblick auf den letzten Gang, sehr beunruhige, ihm Angst mache, grosse Angst.
Der Besucher lehnte sich zurück und lächelte. «Wenn es Ihnen darum geht, den Zeitpunkt noch ein wenig hinauszuschieben…»
«Nein, nein», wehrte sich der Alte, «darum geht es mir nicht.»
«Das ist schon in Ordnung. Die meisten wollen nicht gehen, ohne mindestens versucht zu haben, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.» Er lehnte sich zurück. «Wir kennen natürlich alle Tricks, aber wir machen gern mit, meistens hilft es den Leuten, und Kundenzufriedenheit steht bei uns ganz oben.»
«Was soll es bringen, noch um ein paar Minuten zu feilschen?», murmelte der Alte resigniert.
«Sage ich auch immer», pflichtete ihm der Tod bei. Er blickte sich in der kleinen Stube um. «Der Zeitpunkt ist doch ideal. Oder möchten Sie lieber in einem sterilen Krankenhausbett sterben, vollgepumpt mit Morphium, mit Atemschläuchen in der Nase?»
Der Alte schüttelte den Kopf. «Es ist nur dieser Moment, den ich irgendwie nicht begreifen kann, dieser Moment, in dem alles aufhört…» Er horchte auf und setzte sich dann aufrecht hin. Leise war das Rattern des talwärts fahrenden Zuges zu hören. «Schauen Sie, hier, hier durchs Küchenfenster! Dann können Sie sehen, was ich meine.»
Der Tod blickte konzentriert zur Natursteinmauer, auf die der Alte gewiesen hatte. Schon ratterte der Zug pfeifend am Häuschen vorbei und verschwand talwärts. Eben noch der Zug, dann nichts mehr, nur noch Mauer, Gleis, Tannen.
«Verstehen Sie, was ich meine?»
Der Tod nickte und blickte verstohlen auf seine Armbanduhr, eine verkleinerte Nachbildung einer Bahnhofsuhr. «Das ist es also, was Sie beunruhigt?»
Der Alte nickte.
Eine Weile sassen sie schweigend in der Stube, die Katze machte es sich auf dem Fensterbrett hinter dem Tod bequem und liess sich von den Sonnenstrahlen das Fell wärmen.
«Sind Sie schon einmal selber mit dem Zug an Ihrem Häuschen vorbeigefahren?», fragte der nach einer Weile und streichelte der Katze durchs Fell.
«Ja, mehrmals schon.»
«Als Sie an der Mauer vorbeigefahren sind, haben Sie da etwas bemerkt?»
Der Alte schüttelte langsam den Kopf.
«Es ist nur eine Frage der Perspektive», erklärte der Tod geduldig, «die Fahrt geht weiter.»
«Die Fahrt geht weiter», wiederholte der Alte nach einigem Nachdenken. «Aber wohin? Was ist am letzten Bahnhof?»
Der Tod mit der roten Uniformjacke sah ihn lange an, dann zog er entschuldigend die Brauen hoch und lächelte. «Ich weiss es nicht.»
«Aber Sie sind doch der Tod!»
«Ein grosses Missverständnis – ich bin nicht der Tod selber, nur ein Angestellter, ein Kundenberater. Ich hole Sie ab, helfe Ihnen, dass Sie die richtige Verbindung erwischen. Ich bin nicht der Zielbahnhof.» Er lehnte sich schmunzelnd zurück. «Sie sollten sich um den Tod keine Gedanken machen. Er ist nur eine abstrakte Grösse, nichts was man erleben könnte.»
Der Alte blickte ihn verwirrt an.
«Erinnern Sie sich etwa», fragte der Tod amüsiert, «an die Zeit, bevor Sie gezeugt wurden?»
Der Alte sah Bilder von seiner Kindheit, von seinen Eltern und Geschwistern, von Tannen, die sich im Wind bogen. Aber von der Zeit davor? Vor der Zeugung? Er schüttelte den Kopf.
«Sehen Sie. – Und haben Sie in Ihrem Leben je einen Moment erlebt, an dem Sie nicht gelebt haben?»
Was für eine seltsame Frage. Natürlich nicht. – Oder doch, doch, das hatte er! Diese Momente, in denen er ganz weggewesen war, ohne Bewusstsein. – Aber erlebt? – Nein, erlebt hatte er auch die nie. Erst im Nachhinein hatte er sie festgestellt, erlebt nicht.
«Sehen Sie: Solange Sie leben, leben Sie. Der Tod ist eine abstrakte Grösse, Sie können ihm gar nie begegnen. Ich verstehe nicht, warum man ein solches Aufheben um ihn macht.»
Der Tod, der eigentlich nicht der Tod war, sondern ein Kundenberater, blickte durch das Küchenfenster zur Natursteinmauer, der Alte folgte seinem Blick und stellte sich vor, wie er selber mit dem Zug an seinem Häuschen vorbeifuhr, an der Stützmauer entlang, unter dem Schatten der alten Tannen. Es war ruhig geworden, als hätte jemand die Geräusche von draussen abgestellt.
«Unendlichkeit bedeutet nicht notwendig, dass etwas ewig weitergeht», erklärte der Kundenberater nach einer Weile, «es kann auch bedeuten, dass etwas kein Ende hat. Und keinen Anfang.»
«Es hat doch ein Ende», insistierte der Alte, «deshalb sind Sie ja da.»
«Eine Frage der Perspektive, wie gesagt. Ihr Leben geht zu Ende, aber Sie selber erleben das Ende nicht. Solange Sie leben, leben Sie. Für Sie gibt es nie etwas Anderes als Leben: das ist eine Art von Unendlichkeit.»
Der Alte nickte nachdenklich. Dann würde er diesen Moment gar nie erleben, vor dem er sich so fürchtete. Solange er lebte, lebte er. Und etwas Anderes würde es für ihn nie geben.
Die Katze war eingeschlafen und schnurrte lautlos.
«Es ist ganz ähnlich wie mit den Zügen, glauben Sie mir.»
Jetzt lächelte der Alte sogar ein wenig.
Der Kundenberater blickte auf die Uhr. Die Zeiger waren stehen geblieben. «Wollen wir?»
Der Alte nickte.