April 2021

Der Eklige

von Inga Brock
Jahresthema: Die Grossen Zwölf
Monatsthema: Scham

Das Ekligste am Ekligen war sein Gestank. Man roch ihn, bevor man ihn sah. Und dann erschrak man. Und dann verscheuchte man ihn, fast automatisch. Etwas so dermassen Krankes ging von ihm aus, etwas so Verlorenes, etwas so Zerstörtes, dass man ihn nicht ertrug. Alle verscheuchten ihn. Alte, Kinder, Leute, die einem sympathisch waren und Leute, die viel zu laut waren und ihre Liegen schon im Morgengrauen mit Handtüchern belegt hatten. Auch Tierfreunde verjagten ihn und solche, die zu Hause noch heulend zugesehen hatten, wie hinter ihrem kleinen Liebling die Tür der Hundepension ins Schloss gefallen war. Manche vertrieben ihn verstohlen, mit einer drohenden Ausholbewegung und mit Hilfe eines dicken Wälzers oder einer Zeitung, andere hemmungslos – mit einer Fussladung Sand, mit einem gebrüllten „Go!“, mit einem gewürgten Ausruf, dem angeekeltes Erschrecken vorangeht, mit einem gezischten „Gscht“. Keiner hatte dem Ekligen jemals einen Tritt verpasst – in seine braune Schnauze nicht und auch nicht in seine ausgemergelte Flanke. Denn dazu hätte man ihn mit dem nackten Fuss berühren müssen und das wäre unvorstellbar eklig gewesen und so grausam, als würde man etwas bereits Verwesendes mit einem Knüppel bearbeiten. Der beste Freund des Hundes – er war und blieb ja auch Mensch.

Er wäre ein schöner Hund gewesen, hätte ihm das Leben nicht so sehr zugesetzt. Sein Fell musste einmal hellbraun gewesen sein und kurz, so wie das Fell vieler Tempelhunde in Myanmar. Er war grösser als die Anderen im Rudel und hatte kluge dunkle Augen. Und auch wenn seine freudlose Heimat ein Strand war und ein daran angrenzendes verwildertes Stück Land, in dem verfallene Hütten zuwucherten und ein Dutzend Hunde ums Überleben kämpften, so hatte er doch die gleiche Ausstrahlung wie manche der Mönche: der Eklige wirkte wie ein komplett Einsamer in einer Gemeinschaft Gezeichneter.

Es war seine Haut, die stank wie der Tod, die sich in Falten warf wie die Haut eines Elefanten, eines uralten Dickhäuters, der gerne im Staub badet, um Parasiten loszuwerden. Die Hülle des Ekligen sah so rau und zerfurcht aus wie etwas längst Vertrocknetes, Verbranntes, wie etwas, das schon lange von uns gegangen war. Pro Quadratzentimeter Haut kämpfte sich tapfer ein borstiges Haar durch die Epidermis.

Der Eklige liess sich leicht verjagen. Er war auf der Hut und suchte doch gleichzeitig die Nähe der Menschen. So wirkte sein Verhalten fast wie ein Spiel, ein Spiel, das ausser ihm allerdings keinem Spass zu machen schien: wie er unter die Liegestühle der Menschen kroch, an ihren Handtüchern schnüffelte, sich ihnen zu Füssen legte. Und wie er, sobald er entdeckt worden war, gehetzt und mit eingezogenem Schwanz Anstalten machte, gedemütigt davonzulaufen. Dann aber blieb der Eklige jedes Mal nach wenigen Schritten wie angewurzelt stehen, um sich, als wäre er mit einem Fluch belegt, auf drei Beinen stehend ausgiebig und willenlos mit dem vierten Bein zu kratzen. Überall zu kratzen. Zuerst hinter einem seiner Ohren, dann am Bauch, dann an der Seite. Dann zwischen den Ohren, an der Brust, erneut am Bauch und dann an der anderen Seite. Immer abwechselnd und dann wieder von vorne. Die Qual des Ekligen war chronisch. Das brachte seine besten Freunde jedes Mal vollends an den Rand der Panik, Mütter warfen Handtücher über ihren Nachwuchs, sie sprangen selber auf und davon und fühlten sich von ihren Ehemännern im Stich gelassen, die ihnen gleichfalls ratlos und angeekelt hinterher blickten. Eine Familie aus Düsseldorf verlangte noch vor Ort und per Mail eine Teilrückerstattung der Reisekosten. Die sie nicht bekam.

Ein grosses Holzschild wies die Fischer darauf hin, dass sie die Gäste auf diesem Teil des Strandes, der wie der ganze Rest des Strandes Jahrhunderte lang ihrer gewesen war, nicht stören sollten. Dass sie sie bitte nicht stören sollten, natürlich. Anders als die anderen Menschen des Landes, die die Touristen während ihrer Reise kennengelernt hatten, waren diese Fischer nicht freundlich zu ihnen. Sie lächelten nicht, sie grüssten nicht. Die Alten schauten demonstrativ zur Seite, den Jungen fiel das schwer, aber sie gaben ihr Bestes und streiften die für sie nackten Frauen in ihren Bikinis nur aus den Augenwinkeln. Viele Fischer waren am Morgen betrunken, wenn sie die Nacht auf dem Meer verbracht hatten, manche fuhren am späten Nachmittag schon betrunken raus. Zwei von ihnen sah man eines Nachmittags ihre Frauen schlagen, die wie Kinder aussahen. Die meisten Kinder hatten selbst schon Kinder. Einer der Fischer hatte einen Hund, der am Morgen am Strand schon schwanzwedelnd wartete, sobald die ersten Boote näher kamen. Er sah ganz anders aus als all die anderen Hunde am Strand und in den Tempelanlagen, wie ein weisser zu dick geratener Spitz.

Am frühen Morgen teilten die Fischer und ihre Frauen den Fang untereinander auf. Altertümliche Waagen wurden im Sand platziert, Mofas knatterten den Strand entlang, manche Familien hatten das Glück einen kleinen klapprigen Transporter zu besitzen, mit dem die Fische anschliessend zum Markt gebracht wurden. Sie wendeten ihre Autos am Palmensaum und fuhren dann rückwärts möglichst nah an die Brandung heran. Die winzigen Fische, die beim Verteilen in den Sand fielen, leckten die Hunde auf. Auch der Eklige. Nach einer Stunde kehrte wieder Stille ein. Die Boote lagen fest verankert im Meer. Leute, die jetzt am Strand waren, waren Jogger, die der Gischt auswichen, Fremde.  Manchmal liefen diese Fremden über allerletzte münzgrosse Fische, die funkelnd am Boden lagen. Was die Hunde sich nicht geschnappt hatten, sammelten später Mütter mit ihren Kindern auf und trugen es in kleinen Plastikeimern davon. Kaum etwas blieb am Boden liegen. Und wenn doch, dann war es zerfetzt, blutig oder angefressen und das Meer holte es sich mit der Flut zurück.

Im Rudel mit den anderen Hunden, die die Fischer und ihren Fang bei deren Ankunft umringten, wirkte der Eklige fast wie einer, der dazugehörte. Zu den Menschen gehörte. Denn zum Rudel gehörte er sowieso.

Ein Paar war neu unter den Hotelgästen eingetroffen. Der eine Mann klein und untersetzt, Typ Gebrauchtwagenhändler, der den Familienbauernhof nicht hatte übernehmen wollen, der andere gross und mit dem Ansatz kleiner Brüste, auch sein Bauchfett hatte etwas Weibliches, ebenso sein Gang und die Art, wie er beim Gehen das schwarz gefärbte wellige Haar zurückwarf. Die Leute drehten sich nach ihm um, die Touristen ein wenig verstört, die Leute aus der Gegend lachend. Der Grosse sah aus wie jemand, der tagein tagaus bestrumpfte Füsse in Schuhe stecken musste und dazu Schuhlöffel reichen, aber viel lieber Bräute eingekleidet hätte oder Musicaldarsteller. Die beiden sprachen italienisch miteinander und waren schon am Ankunftstag sehr stark gebräunt. Sie vermittelten den gut gelaunten Eindruck zweier frisch verliebter Menschen, die zum ersten Mal miteinander auf Reisen gehen und denen die Welt, all das Fremde, das Neue, das unbeschreiblich Schöne, wie ein geschenktes Wunder erscheint. Am ersten Tag legten sich die beiden ausserhalb des hoteleigenen Strands in den Sand, so als hätten sie übersehen, dass Liegen für sie bereitstanden und Sonnenschirme und kleine Beistelltischchen, auf denen abends Cocktailgläser abgestellt wurden. Sie hatten von alledem tatsächlich nichts bemerkt. Zu neu war alles noch für sie und viel zu aufregend. Sie streckten sich bäuchlings auf ihren Handtüchern aus und konnten ihr Glück nicht fassen. Die Wärme, die Palmen, das Licht, sie selbst. Sie redeten und lachten laut, sie setzten sich auf, sie cremten einander die Rücken ein, sie standen geschmeichelt auf, als zwei einheimische Jungs im Teenageralter sie darum baten, mit ihnen ein Selfie machen zu dürfen. Ihnen war nicht klar, dass sie für Witzfiguren gehalten wurden, für ausländische Freaks, von denen man später daheim erzählen konnte. Immer mehr Jungs kamen und baten um ein Foto. Eine Jugendgruppe hatte ihren Weg zum Strand gefunden, eine kleine Horde aufgedrehter Jugendlicher, die zuvor mit Kleidern ins Meer gehüpft waren und ihren Ausflug genossen hatten. Jeweils einer von ihnen stellte sich zwischen die beiden Italiener, sie legten ihnen ihre Arme um die nackten Hüften und wunderten sich selbst ein bisschen über ihre eigene Unverfrorenheit. Es tat weh, das schwule Pärchen dabei zu beobachten. Also sah man ganz schnell wieder weg.

Man sah erst wegen eines hässlichen Schreis wieder hin, ein Schrei, der über den Strand hallte und sich nicht aufzulösen schien. Hoch und spitz und voller Angst hing er in der Luft wie ein Fremdkörper. Es war ein Reflex, der einen zwang, wieder hinzusehen: der grössere Mann stand weinend und heftig zitternd neben seinem Strandtuch, sein Liebhaber sass lachend und von ihm abgewandt daneben, der Eklige kratzte sich dreibeinig einen halben Meter von beiden entfernt.  Der Grosse schluchzte jetzt in beide Hände, der Kleine lachte noch immer und sah sich beifallheischend um.

Der Eklige trabte davon. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit hatte er Angst ausgelöst, Angst gemischt mit Ekel zwar, aber keinen reinen Ekel.

Ein anderer war jetzt eklig. Dieser Eklige nahm seinen Freund nicht in die Arme, weder tröstete er ihn noch beruhigte er ihn. Viel schlimmer: er schämte sich für ihn. Er verriet ihn.

In der darauffolgenden Nacht hörten die Hotelgäste, wie zwei Männer sich stritten. Irgendwann schrie der eine, der andere weinte. Gesehen hat sie keiner mehr, am Strand nicht und auch nicht im Hotel. Es fragte auch keiner nach ihnen. Was wirklich merkwürdig war: auch der Eklige kam niemals wieder. Nach ihm fragten alle, so, als würden sich die Leute Sorgen machen. Was sie auch taten.

Man wünschte sich von Herzen, dass er das irgendwie und irgendwo noch mitkriegte.