November 2013

Der letzte Stein

von Jürg Bernhard
Jahresthema: Wörter
Monatsthema: ausschmücken, analysieren, hervorrufen, Verband, Ganove

Nasskalter Nieselregen durchzieht an diesem grauen Novembertag die Unterstadt und verleiht ihr eine gewisse Schwermut. Mit ihren ineinander übergehenden Gassen gleicht die Altstadt einem unstrukturierten Labyrinth. Die Gassen in einem schlechten Zustand, ein Flickwerk aus alten Steinpflästerungen und neueren, wenig sorgfältig geteerten Flecken, mit denen aufgerissene Gräben schnell und billig geschlossen wurden. Um die alten Häuserzeilen endlich wieder stattlicher erscheinen zu lassen und die heruntergekommene Gegend neu zu beleben, sind seit ein paar Wochen die Arbeiten zur Erneuerung der Hauptgasse im Gang. Die ersten paar Meter sind bereits fertig gestellt, kunstvoll ist die Pflästerung originalgetreu ausgeführt worden.

Und da, da sitzt er. Wie die Tage zuvor auch heute wieder. Schon seit dem Morgen, den ganzen Nachmittag über, bis zur schleichend einsetzenden Dämmerung. Er dreht sich im Halbkreis, hin und her. Immer wieder, seit Jahren schon. Von links nach rechts, nach links, nach rechts. Wenigstens nur im Halbkreis – und nicht im Kreis, denkt er zynisch. Immerhin. Immerhin? Macht es wirklich einen Unterschied? Links ist der Haufen mit den Steinen. Mal sind es mehr, mal weniger, meist sind sie bereits in der richtigen Grösse und Form. Wenn nicht, schrotet er sie mit dem Richthammer, bis sie in sein Konzept passen. Wenigstens über die Steine hat er Macht. Er nimmt einen davon und dreht sich nach rechts, um ihn neben dem vorherigen einzureihen. Früher verschaffte es ihm eine grosse Befriedigung, seine Arbeit als Erarbeiten eines Werkes zu verstehen, vom ersten Stein an bis zum letzten. Pflästerungen im Bogen, in der Reihe, im Kreis. Manchmal ein Mosaik. Es war ihm ein Ansporn, Stein an Stein zu reihen und damit das grosse Bild zu gestalten. Der Versuch, das Werk perfekt zu machen, trieb ihn an. Den richtigen Stein am richtigen Platz, mit dem richtigen Abstand zum Nachbarstein. Doch mit den Jahren verblasste der Eifer. Immer mehr trübte sich der klare Blick aufs grosse Werk und wandelte sich in eine schmerzhafte Fixierung auf das Unvollkommene: Die nächste leere Stelle; die sich immer wieder öffnende Lücke. Kaum hat er den nächsten Stein gesetzt, sieht er nur noch die Lücke, die sich unmittelbar daneben auftut. Er nimmt den nächsten Pflasterstein, um sie zu schliessen, nur um zu erfahren, dass sich sogleich wieder eine leere Stelle auftut. Das Ankommen am Ende einer Reihe hilft nicht, sofort tut sich eine Lücke in der neu anzulegenden Linie auf. Es macht ihn fertig. Wird immer schlimmer, treibt ihn in den Wahnsinn. Die verdammte Lücke. Das Fehlende, die Unvollkommenheit. Er kann nicht mehr damit umgehen. Vornüber gebeugt auf seinem einbeinigen Pflästererstuhl – ein Hohn, diese Bezeichnung für diesen elenden Hocker – werden seine Gedankengänge immer enger. Sie schnüren ihn ein, das Wahnsinnige droht, ihm den Schnauf zu stehlen und ihn ausgezehrt und kaputt auf der elend langen Gasse fix und fertig liegen zu lassen. Wie ein Besiegter auf dem Schlachtfeld.

NEIN! Er rauft sich mit letzter Kraft zusammen, nimmt alle vorhandene Energie und wirft den Hammer weit von sich. Steht auf, reckt seinen geschundenen Rücken, taumelt, rafft sich auf, beginnt zu gehen, ignoriert achtlos die nächste hämisch grinsende Lücke, orientiert sich vorwärts. Die unfertige Gasse steigt leicht an, hoch zur Promenade. Es geht. Die Beine tragen ihn. Der Nieselregen wird stärker. Es stört ihn nicht. Er muss vorwärts gehen. Möglichst weit, weit gehen, weit weg von den hunderttausenden Steinen seiner Vergangenheit, und noch weiter weg von den unzählig vielen Lücken, die nie zu schliessen sind. Die etwas in ihm hervorrufen, was er lange zu vergraben versuchte, tief in seinem Innern. Sie führen ihm dauernd seine Unvollkommenheit, sein Unvermögen vor Augen, die Lücken in seiner Leistung. Lücken in seinem Leben. Das Ausgelassene, nicht Wahrgenommene. Lücken in der Erinnerung, sich nicht erinnern können – oder wollen. Er muss ihnen entkommen. Fliehen. Er geht die Gasse entlang, nimmt das Rauschen des Flusses immer intensiver wahr. Jetzt erreicht er die Promenade, folgt ihr aber nicht weiter, steht still. Klammert sich an das Geländer. Es soll die Fussgänger vom Fluss trennen. Doch jetzt ist nur er da. Jetzt trennt es nur ihn vom Fluss. Noch. Viele Male schon hat er diese Stelle passiert. Früher, noch mit Frau und Kind, beim Sonntagsspaziergang. Stehen geblieben ist er nie. Lange ist das her. Da waren die Lücken noch wenig bestimmend, vielmehr waren sie Herausforderungen, die zu meistern seine Kunst war. Jetzt aber bestimmen sie sein Leben. Er lehnt am Geländer. Das Metall fühlt sich kaum kälter an, als die Kälte, die sich in seinem Innern ausbreitet. Doch er realisiert es nicht. Er fixiert er den Wellengang des dunklen Flusses unter ihm. Gleichmässig rauscht das Wasser vorbei. Wohin? Noch immer klebt er am Geländer fest. Die Gedanken rumpeln schwermütig hin und her: Stein – Lücke – Stein – Lücke – Stein – Lücke: die Lücke triumphiert, wie immer. Er bringt sie nicht weg. Der Fluss? Würde der sie wegbringen? Mit seiner gewaltigen Kraft? Er bewegt sich. Der eine Fuss findet wie von selbst Halt auf der unteren Querstange des Geländers. Er wartet. Noch. Und blickt noch ein letztes Mal um sich, wie um sich zu vergewissern, dass da nichts mehr ist, das ihn zurückhalten wird.

Ausgerechnet jetzt tritt aus dem Dunst des Nebels eine Gestalt hervor. Etwas gebeugt gehend, gar nicht leichtfüssig. Wohl noch so einer wie er. Gar einer, der ihm seinen Platz streitig machen will; oder ein Halunke, ein Ganove, oder sonst eine Kreatur, die nichts Besseres zu tun hat, als gerade jetzt zu dieser gottvergessenen Stelle zu schleichen. Er ärgert sich. Wieso gerade jetzt? Jetzt, wo er endlich die Kraft gefunden hat, die Lücken mutwillig für immer zu schliessen, endgültig. Da erst merkt er, dass es eine Frau ist, die auf ihn zukommt. Sie trägt mehrere Verbände, darüber einen derben Umhang gegen den Regen, sieht geschunden aus. Wenn sie jetzt nicht gleich einen Bogen um ihn herum macht, wird sie mit ihm zusammenstossen. Sein Körper verspannt sich. Seine Hände umklammern das Geländer. Nein, er will nicht loslassen. Und sie macht keinen Bogen. In Armeslänge entfernt bleibt sie stehen. Sie mustert ihn. Kritisch? Wohlwollend? Er versucht, ihren Blick zu analysieren, doch vermag er ihn nicht zu deuten. Was läuft da ab? Was will die Frau überhaupt. Warum tritt sie in seine Welt? So dicht, dass er unwillkürlich in Richtung Fluss weicht, doch das Geländer lässt ihn nicht durch. Noch nicht. Wortlos ergreift sie die eine Hand, löst die verkrampften Finger, lässt ihn nicht los. Speziell; nicht unangenehm, denkt er. Doch will er das? Will er sich ablenken lassen von seinem Vorhaben? Jetzt wird ihr Griff fester, entschlossen beginnt sie, ihn vom Geländer wegzuziehen. Aber er hält sich immer noch fest. Das Metall gibt ihm Sicherheit. Auf ihr erneutes Drängen jedoch gibt er nach, schickt sich drein und lässt sich wegziehen. Ihr Gang wirkt etwas leichter als zuvor, und zielstrebig führt sie ihn in Richtung Oberstadt. Zuerst durch verwinkelte Gassen, dann zur steil ansteigenden Treppe, deren Ende sich in der beginnenden Nacht verliert. Er geht langsamer, zögert wieder. Was soll das? Was bringt das? Er kennt den Weg nur zu gut, weiss er doch, was ihn dort oben erwarten wird. Er  kennt alle Gassen und Wege in der Gegend, tragen einige doch seine Handschrift: er schmückte sie mit seinen Steinen aus, schuf Muster und Linien, Verzierungen. Also, wieso da hinauf? Aber sie zieht ihn energisch vorwärts, die Stufen hoch. Schleppenden Schrittes gehorcht er. Die Absätze sind ausgetreten, durch den Regen glitschig geworden. Er muss aufpassen, dass er nicht stürzt. Die Frau vor ihm scheint keinerlei Anstrengung zu verspüren, sie zieht ihn in gleichmässigem Tempo mit sich, ihre Verletzungen scheinen sie nicht mehr zu behindern. Endlich sind sie oben angelangt. Der Nebel ist hier noch dichter als in der Unterstadt – eine triste Szenerie. Er muss erst mal tief durchatmen. Aber sie zieht ihn weiter. Mittlerweile macht es auf ihn fast den Eindruck, sie würde über die Steine schweben. Er geht hinter ihr, skeptisch. Gegenüber ihr, aber auch sich selber. Was macht er da nur? Was ist mit ihm los? Eigentlich müsste sie jetzt rechts abbiegen, um ihn zur Suppenküche zu bringen. Sicher hält sie ihn in seinen abgewetzten Kleidern für einen Bedürftigen. Der er ja auch ist – wenn auch nicht im klassischen Sinn. Er bedarf jetzt einfach einer Lösung seines Problems, und zwar sofort. Aber sie biegt nicht rechts ab, sondern geht einfach geradeaus. Jetzt beschleicht ihn ein ungutes Gefühl. Da hinten wird es nach ein paar weiteren Strassen nichts mehr geben, was einen Gang dorthin rechtfertigt. Ausser – ausser der kleinen Aussichtsplattform, derer er sich jetzt erinnert. Sie bietet einen Ausblick über die Unterstadt und die angrenzenden Auen. Aber was soll er dort? Er war bisher nur einmal dort gewesen, und es hatte ihm nicht sonderlich gefallen, die senkrecht abfallenden Wände unterhalb der kleinen Kanzel behagten ihm nicht. Aber ja, heute hat er nichts dagegen, dorthin zu gehen. Senkrecht abfallende Wände können auch Vorteile bieten. Und das Rauschen des Flusses war zwar nicht mehr wirklich zu hören, liess sich aber unschwer erahnen. Als sie in die nächste Gasse einbiegen, bläst ihnen eine leichte Bise entgegen. Untypisch für diese Wetterlage. Nach der nächsten Abbiegung frischt der Wind auf und wird stärker. Und wärmer, die Luft trockener. Und war es vorher nicht viel dunkler? Es ist doch beinahe schon Nacht. Am Ende der Strasse liegt der Boden trocken. Hatte es hier nicht geregnet? Seltsam. Jetzt steuert seine Begleiterin – oder vielmehr seine Führerin – doch tatsächlich auf den Aussichtspunkt zu. Erwartungslos tritt er mit ihr auf die mit rostigen Gitterstäben gesicherte Plattform hinaus. Und traut seinen Augen nicht mehr: anstelle der erwarteten schwarzen, undurchdringlichen Wand breitet sich vor seinem Blick im hellen, klaren Licht eine endlose Ebene aus. Bei näherem Hinsehen nimmt er wahr, dass Pflasterstein an Pflasterstein gereiht ist, in einem Ausmass, das sein Verstehen übersteigt. Jeder Stein hat eine andere Form, eine andere Struktur, scheint ein Original zu sein. Trotzdem kann er Muster und Formen erkennen, individuelle Gestaltungen in einer Vollkommenheit, die er für unmöglich hielte, würde er sie nicht mit eigenen Augen sehen. Überwältigend. Er kann sich kaum satt sehen, sein Erleben der letzten Stunden, Tage, Monate, gar Jahre scheint weit weg zu sein. Sieht er jetzt, hier, wonach er eigentlich immer gestrebt hat? Was ihn nie losliess, wofür er seine letzten Kräfte aufgewendet hatte, nur um schmerzlich zu begreifen, dass er nie das Ziel erreichen würde? Ist das der Ort, an dem die Lücken ausgespielt haben? Ihn nicht mehr dauernd anklagen können? Die Frau neben ihm – eben trug sie doch noch schäbige Kleidung, mit all den Wundverbänden; wieso war sie jetzt in einen schlichten weissen Mantel gehüllt? – weist ihn auf eine bestimmte Stelle da unten hin. Aber jetzt verengt sich sein Blick. Seine Stirne zerfurcht sich, als er das Unfassbare erkennt: Da fehlt ein Stein! Da ist eine Lücke! Das kann nicht wahr sein. Jäh reisst es ihn zurück in seine bittere Realität. Er will es nicht wahrhaben, nicht hier, nicht jetzt, da er doch meinte, das perfekte Bild gefunden zu haben. Aber jetzt ist sie nicht mehr zu übersehen: die leere Stelle. Ein fehlender Stein. Unmittelbar überkommt ihn all sein Schmerz, dem er für kurze Zeit zu entfliehen vermochte. Er sieht nur noch die Lücke, nicht mehr das gelungene Bild darum herum. Die leere Stelle nimmt ihn so ein, dass er erst gar nicht wahrnimmt, wie in diesem Moment der letzte Stein eingefügt wird. Er sieht weder, von wem noch woher der Stein kam. Schon will er sich fragend zur Frau wenden, als er merkt, dass sie nicht mehr da ist. So blickt er wieder zum Bild hinunter, das ihm nun, da es offensichtlich vollendet ist, unfassbar schön erscheint. Perfekt. Nun endgültig wirklich perfekt. Ein wahres Meisterwerk. Eine unwiderstehliche Anziehung wirkt ihm entgegen. Seine Augen fixieren nochmals den zuletzt gesetzten Stein. Jetzt, jetzt ist alles klar. Jetzt ist er am Ziel.