Mai 2017

Die Aufgabe

von Constanze Geertz
Jahresthema: Erste Sätze
Monatsthema: «Wie froh bin ich, dass ich weg bin.» (Johann Wolfgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werthers)

Wie froh bin ich, dass ich weg bin. Die Kameras habe ich weiterlaufen lassen. Ich sehe das Wohnzimmer, die Küche, den Flur. Solange die Kameras laufen, bin ich vor Zweifeln geschützt. Ich kenne mich, ich bin zu grosszügig, zu nachgiebig. Könnte ich sie nicht sehen, in diesem Moment wie in jedem anderen, in ihrer ganzen erbärmlichen Alltäglichkeit, würde ich vielleicht zu ihr zurückkehren. Dagegen musste ich mich wappnen.

Man darf nicht vergessen, dass auch ich einiges auf mich nehme. Heute zum Beispiel. Ein Samstag im Frühsommer, nicht zu kalt, nicht zu warm. Meine neue Freundin wartet darauf, dass wir etwas unternehmen. Alle Welt feiert Gartenpartys oder fährt an den See, was weiss ich.

Nichts weiss ich, denn ich hocke hier, in meinem Arbeitszimmer, bei heruntergelassenen Jalousien, und hoffe, dass der Tag vorübergeht. Seit zwei Stunden sitzt die Frau, von der ich einmal dachte, sie sei etwas Besonderes, vor ihrem Laptop. Seit elf Uhr morgens sehe ich ihr, je nachdem, welche Kamera ich anwähle, über die Schulter auf den Bildschirm oder in ihr müdes, bläulich angestrahltes Gesicht. Immer wieder taucht über ihrer Schulter der Kopf eines gutgelaunten Moderators auf, von dem ich dachte, dass wir ihn beide verachten. Granaten explodieren, Katzen suchen ein Zuhause, Teenager pöbeln. Alles an ihr, selbst ihre wenigen Bewegungen, wirkt feist, aufgeschwemmt, obwohl sie keine sechzig Kilo wiegt. Ein Biber rudert durchs Bild. Ein Junge in Handschellen versucht, sich die Kapuze über den Kopf zu ziehen. Meine frühere Freundin kämmt sich mit den Fingern das Haar. Sie schiebt die Knoten in Richtung der Spitzen und spreizt sie zwischen Daumen und Zeigefinger, bis sie sich entweder lösen oder das Haar reisst.

Jetzt ist es eins. Seit dem Mittagessen ist meine neue Freundin zweimal hereingekommen. Hat mir erzählt, was für ein verdammt nochmal schöner Tag draussen an mir, an uns, vorüberziehe. Es klang nicht sehr entschieden. Beim ihrem ersten Auftritt dieser Art, vor drei Wochen, habe ich mit den Schultern gezuckt. Sie hat nicht lockergelassen. Gestern habe ich sie herangewinkt und ihr alle Perspektiven gezeigt. „Das ist pervers“, sagte sie. Ich hätte es dabei belassen sollen. Aber aus irgendeinem Grunde war ich gekränkt und stellte alles richtig. Das sei ja noch viel perverser, sagte sie, und überhaupt sei ich völlig krank. Ich erklärte ihr, dass sie sich freuen solle – es komme ihr schliesslich zugute – und dass ich im übrigen jederzeit bereit sei, mich auch von ihr zu trennen. Seitdem ist sie vorsichtiger geworden. Sie ist feige, das schätze ich an ihr. Es macht das Zusammenleben einfacher.

Ein Streit wäre für sie in doppelter Hinsicht gefährlich, denn dabei würde ich meine Aufgabe vernachlässigen. Kaum hätte ich den Blick für ein paar Minuten vom Bildschirm abgewendet, würde ich mir einreden, meine frühere Freundin hätte dasselbe getan. Wahrscheinlich hat sie gerade geduscht, würde ich mir sagen, wahrscheinlich hat sie ein bisschen aus dem Fenster geschaut, vielleicht ein Buch für die Uni gelesen, alles halb so wild. Ich hätte dann auch keine Lust, mir die Aufzeichnungen anzusehen, ich würde es einfach glauben. Deshalb muss ich Ruhe bewahren, ganz gleich wie sehr man mich reizt. Nur wenn ich vor dem Bildschirm sitzenbleibe, kann ich sicher sein, dass sie es auch tut.

Heute fehlen mir nur wenige Minuten. Während des Mittagessens, das eine Viertelstunde dauerte, habe ich aufgezeichnet und inzwischen fast alles gesehen. Dabei ist es heute noch anstrengender als sonst. Seit heute Morgen sind die Bilder der beiden Wohnzimmerkameras fleckig. Es muss zwischen gestern Abend um elf und heute Morgen um acht passiert sein. Neun Stunden, die ich unmöglich aufholen kann, nicht mal im Schnelldurchlauf. Gestern hatte sie Gäste. Ich habe mich früh zurückgezogen. Es gab Bier, Wein, Wodka, alles mögliche. Wahrscheinlich ist etwas gegen die Kameras gespritzt. Vielleicht auch gespritzt worden. Ich habe mir keine grosse Mühe gegeben bei der Tarnung. Dass sie selbst die Kameras entdeckt hat, halte ich für ausgeschlossen. Sie hätte sie aus dem Fenster geworfen, wäre hergefahren und hätte mir eine Szene gemacht. Es wird einer der Gäste gewesen sein. Sieht die Kamera, weiss nicht, ob er seinen Augen noch trauen kann, will irgendetwas tun, sich aber auch nicht blamieren, also schweigt er und schüttet ein paar Tropfen seines Drinks dorthin, wo er möglicherweise eine Kamera gesehen hat. Und ich habe den Ärger. Denn jetzt muss ich in die Wohnung.

Es wird Zeit, das Tablet zu holen und zu ihrer Wohnung zu fahren. Gegen drei wird sie merken, dass sie nichts zu essen im Haus hat. Wie immer am Samstag. Bis auf die Salzstangen, die sie nebenher isst ohne es wahrzunehmen, ist nichts von der Party übrig.

Als ich einparke, verlässt sie gerade die Wohnung. Ich warte noch fünf Minuten, denn sie vergisst häufig etwas. Dann gehe ich hoch. Was mich überrascht: dass ich keine Anzeichen von Nervosität an mir feststellen kann. Ich weiss, sie könnte jeden Augenblick zur Tür reinkommen, und es macht mir nichts aus. Es ist, als sässe ich schon wieder zu Hause im Arbeitszimmer und sähe mir die Aufzeichnungen an. Wie ich ganz gelassen durch die Zimmer streife, mir einen Überblick verschaffe, nebenher ein trockenes Blatt aus der Zimmerfeige zupfe. Wie ich schliesslich das Kameratuch aus der Tasche ziehe und mich an die Arbeit mache, die Objektive noch einmal ins Licht halte, nachpoliere. Wie ich mit dem Tablet das Ergebnis prüfe. Wie mein Blick dabei auf die Uhr fällt und mir auffällt, dass kaum Zeit verstrichen ist. Keine halbe Stunde ist es her, dass ich die Wohnung betreten habe. Ich horche ins Treppenhaus – nichts. Ich trete auf den Balkon. Nebenan lehnt einer am Geländer und raucht. Ich kenne ihn nicht, er muss neu eingezogen sein. Ich grüsse trotzdem. Er nickt, auf eine Weise, die nicht verrät, ob er sich morgen noch an mich erinnern wird.

Immerhin hat er mich auf eine Idee gebracht. Auch in ihrer Küche steht ein Aschenbecher, randvoll. Es hat mich immer gestört, das weiss sie. Um die Ecke gibt es einen Zigarrenladen. Ich kaufe einen Rauchverzehrer. Als ich ihn oben in der Wohnung auspacke, lese ich: Deckenmontage empfohlen. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, feige zu werden. Ich klingle bei den Nachbarn – „Sind Sie wieder da, wie schön, Sie waren ja so ein nettes Paar …“ – und leihe mir eine Bohrmaschine. Es ist ein protziges Ding, sicher einige hundert Euro wert. Als ich fertig bin, schreibe ich „Vielen Dank“ auf ein Post-it und lege die Bohrmaschine nebenan auf die Fussmatte. Der Nachbar wird hinter der Tür warten, bis meine frühere Freundin nach Hause kommt, und sie zur Rede stellen. Für mich gibt es nichts mehr zu tun.

Ich fahre zurück. „Bin gleich fertig,“, rufe ich in den Flur, „höchstens eine Stunde noch, dann können wir rausfahren“. Keine Reaktion. Ich nehme mir ein Glas Wein und gehe ins Arbeitszimmer. Meine frühere Freundin ist noch immer nicht vom Einkaufen zurück. Aber das Bild ist gestochen scharf. Vor dieser Kulisse male ich mir alle möglichen Szenen aus: wie sie den Rauchmelder sofort entdeckt oder erst nach einer Weile, wie sie ihn anstarrt, während ich sie beobachte … Allein die Vorstellung entschädigt mich für manchen vertanen Vormittag. Es wird langsam dämmrig. Ich ziehe die Jalousien hoch und entdecke ein winziges rotes Licht.