Die Brut
Die ungeborenen Seelen seien die glücklichsten. Ein Freund hat ihm dies immer wieder erklärt. Warten in der ewigen Unendlichkeit darauf, geboren zu werden. In freudiger Neugier, unversehrt. Haben keine Vorstellung davon, was sie alles erleben müssen. Haben kein Leid gesehen. Noch wurde ihnen kein Haar gekrümmt. Wenn er Recht haben sollte, dann kommt das kleine Ding hier direkt aus dem Paradies. Ein ziemlich tiefer Fall. Wieso wollte es diesen himmlischen Ort bloss verlassen? Wozu die verdammte Eile?
Sie haben ihn zu seinem Sohn gelassen. Endlich. Nun steht er hier, vor dem Brutkasten, allein. Nach Dutzenden von Fragen, Händeschütteln, ernsten Mienen. Die Mutter, sie schläft, erschöpft. Ihr Bruder kurz weg. Der Augenblick günstig. Ob er das Kind kurz in die Arme nehmen wolle? Nein, danke, es sei schon gut so. Die Schwester verabschiedet sich, lässt ihn mit dem Neugeborenen allein. Hätten sie ihm verbieten können, das Kind zu sehen?
Dieser Moment, darauf ist er nicht vorbereitet. Hätte Zeit gehabt. Zur Genüge. Hat’s vor sich hergeschoben, verdrängt. Die Pläne, die Absprachen, die Zukunft. Klar war es wichtig, dringend. Aber nicht gerade jetzt. Noch nicht. Vor einem halben Jahr eine kurze Nachricht. Hat sein Leben verändert, auf den Kopf gestellt. Drei Worte: Du wirst Vater. Er hat weiter gearbeitet, sein Handy zur Seite gelegt. Machte Überstunden. Rauchte zu Hause Kette. Die Gedanken in seinem Kopf, sie kreisten, beruhigten sich nicht. Nach zwei Bier schrieb er zurück: Wirklich? Will dich sehen! Danach: Ich liebe dich.
Er schaut das Kind an. Sein Sohn. Frühgeburt, zwei Monate beinahe. Viel zu leicht, etwa zwölfhundert Gramm. Die Überlebenschancen intakt, gut achtzig Prozent. Dazu medizinische Details. Herzprobleme, Atemnot, schwaches Immunsystem, eventuell Darmdurchbruch. Wollte er dies wissen? Hatte die Hälfte bereits nach wenigen Sekunden wieder vergessen. Wie kann ein Kind so klein und schon so krank sein? Der Arzt gab sich zuversichtlich. Er könne nichts versprechen, hat ihm zumindest gratuliert. Wozu eigentlich?
Er hat nie recht verstanden, was sie in ihm sieht. Hat sie nie umworben, um sie gebuhlt. Nein, sie schmiss sich an ihn ran. Eine alte Bekannte, die einem plötzlich schöne Augen macht. Ansprechend, charmant, nicht auf den Kopf gefallen. Wieso sollte er die abwimmeln? Ist schön, jemanden im Arm zu halten. Die grosse Liebe? Gestrichen. Aus dem Alter ist er längst raus. Und Kinder, Familie, wer redet da schon drüber, wenige Monate nach dem ersten Kuss. Aufrichtig, ernsthaft, im Detail? Nein. In fünf, sechs Jahren, klar, wieso auch nicht.
Nun liegt er da. Sein Nachwuchs, nackt auf einem weissen Laken. Isoliert in einem Plastikding, einem durchsichtigen, verkabelten Babysarg. Der Schädel schief, die Augen verquollen. Die Haut faltig, dünn, wund. Winzige, kraftlose Ärmchen und Beinchen, man könnte sie wie Streichhölzer knicken. Ein Häufchen Elend, das am Leben gehalten wird. Schläuche in der Nase, Infusionen an den Gliedern, Sensoren an Brust und Bauch. Die Apparatur piepst, blinkt und schnaubt.
Dreckig fühlt er sich. Hat einen Umweg über seine Bude gemacht. Sich gewaschen, ein paar saubere Sachen geschnappt. Doch seine Jacke mieft. Nach abgestandenem Bier, kaltem Rauch. Verrät, wo er sich herumgetrieben hat letzte Nacht. Ein Schmutzfleck in einem klinisch sauberen Raum. Beschämt schaut er am Brutkasten vorbei.
Soll er den Kleinen begrüssen? Der versteht ihn eh noch nicht. Das Empfangskomitee war bescheiden. Der Ärmste, hat wohl bereits gemerkt, dass die Welt nicht auf ihn gewartet hat. Würde ihm gern versprechen, es gehe von nun an aufwärts. Doch das schafft er nicht. Ist bereits ein Glück, wenn die Welt sich nicht um einen schert. Wenn es niemand auf einen abgesehen hat, keiner auf einen herunterblickt. Wenn du davonhuschen, durchschlüpfen kannst. Er schaut den kleinen Wicht an. Schwach, wehrlos. Ihn beschleicht ein ungutes Gefühl. Als spüre er, wie die Last, das Leid der Welt sich über die frische Seele hermacht. Von ihr langsam Besitz ergreift. Als höre er ein Wimmern, einen stummen Schrei.
Die Ohnmacht. Die kennt er nur zu gut. Wartete seit Monaten hinter jeder zweiten Ecke, unausweichlich. Die Schwangerschaft nahm seine Freundin ziemlich mit. Die Übelkeit, die Migräne-Anfälle, nach wenigen Wochen waren sie da. Sie erbrach sich ständig, über Wochen hin. Die Medikamente halfen wenig. Sie klagte über Bauchschmerzen, Krämpfe. Und er sass daneben, hilflos. Unfähig, ihr Trost zu spenden. Das Kind schon vor der Geburt eine Qual. Wie könnte er ihr da versprechen, dass es besser würde. Meist hielt er einfach ihre Hand. Als ob dies was nütze, fauchte sie ihn dann an.
Abwesend studiert er das kleine, kranke Geschöpf. Kann nicht behaupten, dass es ihm ähnlich sieht. Aber gleichen Frühgeborene überhaupt irgendwas? Frisch geschlüpften Küken vielleicht, blind und ohne Federn. Brutkasten, heisst ja nicht umsonst so. An seine Mutter erinnert ihn der Kleine jedenfalls nicht. Dazu ist er zu entstellt. Ihre sanften Züge, ihre liebliche Gestalt, die erkennt er bei dem schmächtigen Wesen nicht. Dem Ding fehlt es an Ausdruck, an Haltung, etwas Menschlichem. Etwas, das man lieben kann.
Ihre Beschwerden hielt er immer seltener aus. Er flüchtete in seine Wohnung, verkroch sich, für Tage manchmal. Der Bruder, eine Freundin kümmerten sich um sie. Leute, die er eigentlich gar nicht kennt. Hatte er während der kurzen Liebschaft doch vor allem Augen für sie. Wer denkt schon an Eltern, Geschwister, wenn man ein Wochenende im Bett verbringt. Und dann standen auf einmal alle da, rückten zu ihm hin, schlossen ihn mit ein, traten ihm zu nah, schlugen ihn in die Flucht. Das Ganze wurde ihm zu eng. Wenn er wieder bei ihr auftauchte: böse Blicke, Vorwürfe, Schweigen. Wenn sie alleine waren, Streit. Heftig. Bis sie schrie, sich krümmte vor Schmerz.
So auch gestern. In zehn Tagen der dritte Krach. Er rettete sich in seine Bar. Drei Kurze, danach Bier. Schüttete zwei Freunden sein Herz aus. Klagte über Familienmodelle, fehlende Vorbilder, übers Geld. Der Barkeeper schenkte nach, mit verständnisvoller Miene. Das gehe aufs Haus. Er stellte das Handy ab, als sie ihn anrief, drei-, viermal kurz hintereinander. Wollte seine Ruhe. Seine Probleme vergessen. Seine Verpflichtungen. Die Kumpels nahmen ihn in ihre Mitte, schleppten ihn in einen neuen Club. Trinken, tanzen. In wenigen Wochen komme er nicht mehr dazu.
Das winzige Geschöpf, es reckt sich unbeholfen. Als wolle es etwas greifen. Stöhnt, würgt, verzieht das Gesicht. Ob es Schmerzen hat? Wahrscheinlich. Verschwinden die jemals ganz? Die Schwester meinte, dass er vielleicht nicht der Geschickteste, der Gescheiteste werde. Schwafelte was von Spätfolgen, von Asthma und Depression. Wie will sie das wissen, nach einem Tag?
Und er, er müsste sich darum kümmern. Unterstützen, mahnen, füttern, spielen. Als ob er wüsste, was gut und richtig ist. Verpflichtet, ein Leben lang. Mit einer Frau, bei der bis heute nicht sicher ist, ob er sie wirklich liebt. Seit sechs Monaten versucht er sich mit der Situation zu arrangieren, sich dafür zu begeistern. Vergeblich. Fremde Babys, die Kinder auf der Strasse, die lassen ihn kalt. Hat bis heute kaum einen Säugling im Arm gehalten. Wenige Male. Keine Ahnung, was er damit anstellen sollte. Fühlte sich unzulänglich. Froh, das Ding weiterreichen zu können. Die strahlenden Gesichter der Eltern, ein Rätsel, nicht zu verstehen. Wieso laufen die nicht schnellstens davon? Ein Abbruch kam für sie nie in Frage. Sie stellte dies damals noch in der Wohnungstür klar. Sie werde das Kind behalten und er ein guter Vater. Punkt. Schluss. Keine Diskussion. Und er, er nahm es so hin.
Heute Morgen war er in einem fremden Bett aufgewacht. Neben ihm eine Unbekannte, nackt, mit dem Rücken zu ihm. Ihre Stimme, ihr Gesicht eine verzerrte Erinnerung, blass. Die besten Jahre wohl hinter sich. Seine Finger, sie riechen noch jetzt nach ihr. Auf dem Telefon Dutzende von verpassten Anrufen, Nachrichten von seiner Freundin. Von ihrem Bruder, von seiner Mutter, einige unbekannte Nummern. Die Geburt seines Sohnes, er hatte sie verpasst. Sein Herz setzte aus, die Welt wurde still.
Der Winzling liegt unverändert da. Atmet schwer. Sein Sohn. Seine Brut. Einen einfachen Start ins Leben wird es für den Kleinen nicht geben. Steht jetzt schon fest. Sein Kopf schmerzt von der vergangenen Nacht. Die frühe Geburt vielleicht ein Zeichen. Das Leben ein Kampf, ab dem ersten Augenblick. Sein Sohn muss lernen sich aufzurappeln, aufzustehen. Egal wie oft, wie hart er hinfällt. Er hält inne. Spürt die Last auf seinen Schultern, die Schuld in seiner Brust. Kann dies das Kind von ihm lernen? Vielleicht bringt er es sich ja selbst bei. Er kann es nur besser machen, hoffentlich.
Die Schwester steht in der Tür. Beobachtet ihn, schaut ihn fragend an. Zeit zu gehen. Bevor die Mutter erwacht. Er macht einen vorsichtigen Schritt an den Kasten heran. Geht in die Knie, auf Augenhöhe mit seinem Sohn. Legt seine Hand zum Abschied an die Scheibe. Der Kleine zuckt kurz zusammen. Mach’s gut und gib deiner Mutter einen Kuss. Er wispert mit gebrochener Stimme, einen Kloss im Hals. Vielleicht wird er den Kleinen nie wieder sehen. Er steht auf. Dreht sich um. Geht.