Oktober 2011

Die Burgervilla

von Samuel Prenner
Jahresthema: Heimat
Monatsthema: ---

„Ich fühle, wie der Tod mich beständig in seinen Klauen hat. Wie ich mich auch verhalte, er ist

überall da.“

–        Thomas Bernhard; Auslöschung (eigentlich Montaigne)

Wenn ein Wandersmann den Vinschgau Richtung Südosten hinabläuft an den zahlreichen Kruzifixen vorbei, die an jeder Kurve des Weges stehen, entlang der Etsch von Reschen nach Glurns und weiter, dann kommt er unweigerlich hinter Laas, dem weissen Marmordorf, nach Göflan, einem kleinen Kaff nicht unweit von Schlanders, einem etwas grösseren Dorf, das mit der Diesellok minder gute Verbindungen nach Meran hat, was schon eine Stadt zu nennen ist und als solche nicht nur dem Freund von Kaiserin Sissi und dem Kenner von Ezra Pounds Leben halbwegs bekannt ist.

Wie beschissen diese Ortsnamen klingen! Denen geht doch jede Poesie ab! Ja, Reschen, Laas, damit könnte ich noch warm werden, aber Göflan! Das hört sich an, als würde man kotzen. Wenn ich diese Laute hören will, dann geh ich in die nächste Kaschemme und degustiere die Kalterner Weine durch, beginnend beim letzten Jahr und schau mal, wie lange meine alkoholische Reise in die Vergangenheit geht, bis ich den Bogen überspanne.

Das Dorf Göflan liegt, von der Etsch in zwei Hälften geschnitten, da wie ein Kadaver in der Mittagssonne, wobei die zwei Teile bloss von einer Sehne zusammengehalten werden, die jedem Zersetzungsprozess widersteht, dem schönsten und einzig wirklich wichtigen Bauwerk dieses Dorfes: das grosse Viadukt, welches sich hoch über Göflan spannt und über das die Diesellok in unregelmässigen Intervallen rattert. Das Viadukt verbindet den südlicher gelegenen und damit sonnigeren Teil Göflans mit dem im Winter fast den ganzen Tag im Schatten liegenden Teil, bestehend aus heruntergekommenen Häusern, die sich um die alte Kirche und den Friedhof, auf dem meine Ahnen liegen, herum scharen.

Stellt man sich alle Häuser der Nordseite im versifften Göflan, die an den Hang geworfen wurden wie zerfressene Apfelgehäuse auf den Kompost, als Gesamtmenge eines Venn-Diagramms vor, so setzt sich diese aus vier Teilmengen zusammen, die da wären: Häuser von Obstbauern, Pensionen und Hotels, die Kirche und der abgefuckte Rest. Wenn wir nun in dieser letzten Teilmenge das Haus suchen, welches am abgefucktesten ist, so finden wir im Allgemeinen einem grossen Konsens gemäss das Haus meiner Vorväter, der Burger, und damit meines Vaters, Ferdinand Burger, das Haus, welchem er entsprechend einer pervers-ironischen Traditionslinie und wahrscheinlich auch aus Eigendünkel den denkbar unpassendsten Namen Burgervilla gegeben hat.

Burgervilla! Dass die kleinbürgerliche Eitelkeit meiner Vorfahren derart gross war, diese Bruchbude, dieses überdimensionierte Rattenloch Burgervilla zu taufen, bloss weil meine Vorfahren es sich erlauben konnten, auf mehr als sechzig Quadratmeter zu leben, das ist wohl der Gipfel aller Selbstüberschätzung!

Wenn wir nach Göflan fuhren, dann immer die Hauptstrasse durchs Vinschgau hinab, die sich wie ein grauer Wurm durch die Apfelwiesen bohrt, stark befahren von grossen Lastwagen entweder auf dem Weg nach Österreich oder nach Italien hinab und von kleinen Touristenautos, die je nach Jahreszeit mit Skiern auf den Dächern für ein Südtiroler Wintermärchen oder mit Wanderschuhen im Kofferraum an den Monokulturen vorbeirasen – dabei ist es ganz gleich, ob sie an endlosen Reihen von Apfelbäumen vorbeifahren oder an kleinen Kaffs, entweder ist es der Boden, der einseitig bebaut ist, oder es ist der Geist der Menschen. Wann immer wir die letzte Kurve vor der Ausfahrt Richtung Göflan, die im Volksmund „Kurve zu den drei Kreuz“ heisst, passierten, erzählte mein Vater, wie in dieser Kurve sein Grossvater, total besoffen von einem Kneipenausflug aus Laas zurückkommend, mit dem Fahrrad in den Graben gefahren war und sich das Genick gebrochen hatte. Und nachdem mein Vater bemerkt hatte, dass ich die Geschichte in- und auswendig kannte, begann er, wann immer wir in die Kurve einfuhren, zu fragen, was in dieser Kurve passiert sei, und wie aus der Pistole geschossen antwortete ich, dass hier der Urgrossvater gestorben sei, so dass irgendwann mein Vater nicht nur die Geschichte so oft erzählt, sondern auch diese Frage so oft gestellt hatte, dass ich, kaum war die Kurve in Sichtweite, wusste, was ich zu sagen hatte, ohne dass er auch nur den Mund aufmachen musste.

Es ist ein grässlicher Reflex, der mir diese Familiengeschichte immer wieder vergegenwärtigt; wie mein freies Bein beim Schlag gegen die Kniescheibe unweigerlich zuckt, so zucken in mir die Worte „Hier ist der Urgrossvater gestorben“ auf, wenn ich an dieser Kurve vorbeifahre, obwohl längst kein Vater mehr im Auto sitzt, der das immer sehr gerne gehört hat und dabei seine Lippen zu einem leichten Bogen, einem stolzen Lächeln spannte. Vielleicht endet jede Geschichte so, dass sie sich ins vegetative Nervensystem hineinfrisst, sich in einem tierischen Reiz-Reaktions-Schema einfügt und dann dort weiter ihrem Schmarotzertum nachgehen kann, sich am Leben erhält auf meine Kosten, obwohl ich schon unerbittlich gegen sie vorgegangen bin, schon meine tödlichsten Verstandesgeschütze auf sie abgefeuert habe, und da ich meinte, bereits den Stellungskrieg gewonnen zu haben, so kriecht sie einfach weiter und bohrt sich tiefer in die Schützengräben meines Rückenmarks hinein, wo mein Verstand sie nicht vernichten kann, wo der Automatismus herrscht, und so wartet sie auf eine Gelegenheit, bei der dieser Automatismus sie wieder für den Krieg mobilisiert. Manchmal reicht es, dass ich einen Bogen beschreibe.

Als ich noch ein Kind war, da hat mir mein Vater immer gesagt: „Du wirst der Erbe dieses Hauses sein, du musst mir eines versprechen, du darfst es nicht verkaufen.“ Damals habe ich das voller Ehrfurcht aufgesogen, da war ich mit Stolz erfüllt, denn die Burgervilla, das erkannte ich schon in jungen Jahren ganz richtig, das war eine Bürde, und die Prophezeiung meines Vaters, die mich als Erbe vorsah, die setzte mich in eine schon fast messianische Rolle; ich würde dieses Haus und damit auch meine Vorfahren mit Mut und Verbissenheit auf meinen Schultern tragen, sagte ich mir dann immer und versprach es meinem Vater bei allem, was mir lieb war, dass ich dieses Haus mit der grössten Sorgfalt und Mühe in Stand halten und bestimmt niemals verkaufen würde, so schwer die Zeiten auch wären. Mittlerweile habe ich die nötigen Jahre, um zu verstehen, dass, selbst wenn ich dieses Haus verkaufen wollte, ich dafür maximal eine Kiste Äpfel bekäme und diese wären dann sowieso genauso wie das gottverdammte Haus bloss wurmstichig.

Immerhin sind die Äpfel aus dem Vinschgau normalerweise gut, aber das können die auch nur, weil die Bauern von der Regierung die Subventionen bis zum Anschlag in ihren Arsch gesteckt bekommen, und dann muss man sich wundern, wenn im Schlanderser Kino ein Spielfilm kommt, der überall sonst auf der Welt bereits im vorletzten Jahr in den Kinos war, und im Theater ein flacher Schwank nach dem anderen über die Bühne geht.

Bei Äpfeln fällt mir ein, wie ich mir in dieser Burgervilla zum ersten Mal in meinem Leben einen runterholte. Ausgerechnet in dem Haus meiner Vorfahren musste ich erkennen, dass dieses Ding zwischen den Beinen scheinbar zu mehr gut ist als zum Pinkeln. Es war halb Traum, halb bewusste Handlung, mein Kopf spann irgendeine Fantasie aus, deren Katalysator ein Artikel eines Modemagazins über perfekt geformte Brüste war – laut einer Umfrage, so wurde behauptet, bevorzugt ein hoher Prozentsatz von Männern birnenförmige Brüste, wobei ich persönlich die Apfelform präferiere, und Melone war überraschenderweise am schlechtesten weggekommen –, während meine Hand in einem Bewegungsablauf feststeckte, ohne dass ich bewusst erfasste, was sie eigentlich tat. Doch der Effekt, den diese monotonen Wiederholungen und die dazu gehörigen Fantasien normalerweise haben, blieb auch bei mir nicht aus. Das Gefühl war erhebend, trug mich weiter hoch weit über den Göflaner Friedhof in die Sphären der Lust, bis ich für einen Moment sogar vergessen konnte, in einem kalten Drecksloch schlafen zu müssen. Dann spritzte unweigerlich etwas Warmes über meinen Bauch und ich war schlagartig wieder zurück in dem nassen Zwinger, aus dem mich die Masturbation eben noch getragen hatte. Ich wusste nicht genau, was mit dem Resultat anzufangen war, steckte meinen Finger in die schleimige Flüssigkeit und roch in einem Anfall von Neugierde daran – es roch nach Nichts. Abusus digitorum – falscher Gebrauch der Finger. Also schmierte ich es an den Bettrand.

Für meinen Vater wurde das Haus zu einer regelrechten Passion. Da wurde dann plötzlich der Handwerker in ihm wach, als er sah, wie heruntergekommen die Innenräume waren, da riss er plötzlich Teppiche raus aus den Zimmern, er kratzte Tapeten von den Wänden und besorgte neue Möbel, kurzum: Er versuchte krampfhaft, den alten und fast zu Stein gewordenen Staub all der Jahrzehnte aus den Ritzen und Rillen herauszukratzen; trotz des Wissens, dass diese verfluchte Baustelle für immer eine Baustelle bleiben würde, arbeitete er verbissen weiter an diesem Projekt, das ihm doch immer wieder in den Rücken fiel und ihm Probleme im Kreuz verursachte; denn wenn die Holzlatten im Wohnzimmer mit einer gewaltigen Schleifmaschine von ihrem vergilbten roten Lack befreit waren und die fast schon schön zu nennende Holzmaserung ans Licht kam, dann stellte sich heraus, dass das Leitungswasser in den Rohren gefroren war, so dass diese Risse bekamen, und wenn dann diese Rohre unter Aufwendung hoher pekuniärer Mittel endlich geflickt waren, dann krochen plötzlich der Schimmel und die Nässe aus den Ecken und bedeckten die Wände. Das Haus war durchwegs den Veränderungen des Zerfalls ausgesetzt, aber das Herz meines Vaters blieb standfest und obstinat.

Ich weiss noch, wie er auf allen Vieren herumkrabbelte wie Rodins Ugolino und den abgeschliffenen Boden mit Antiholzwurm einrieb, keuchend gleich einem Tier in seiner viel zu schlabberigen Hose, die ihm über die Hüften hinabrutschte und seine behaarte Poritze entblösste, so kniete er da in derart fragwürdiger Gestalt. Währenddessen klimperte im Radio gerade die Gitarre von Johnny Cash zu «A boy named Sue» und es dröhnte seine Stimme: and kill that man, who give me that awful name, wobei die Hand meines Vaters automatisiert zum Takt der Musik voller ungebrochener Kraft die Flüssigkeit in die alten Holzlatten presste. And I knew this snake was my own sweet dad, sang es, da ich auf meinen Vater hinabsah und vermutete, dass er wohl Schmerzen im Kreuz hatte, denn sein Rücken krümmte sich so – vielleicht war seine Wirbelsäule ganz ausgehöhlt, ganz zerfressen von tausenden von Geschichten –, dass er einen ungesund aussehenden Bogen schlug, der schliesslich in diesem widerlichen Maurerdekollete als Kämpfer sein Ende fand. Über ihm an der Wand richtete der von seinem Gott verlassene Jesus am Kruzifix einen mitleidenden Blick auf die sich windende Gestalt, und ich stand daneben, darauf wartend, dass das Werk endlich vollbracht würde, der Boden also geschützt vor allem Gewürm wäre und er endlich seine Hose hochzöge. Bill George anything! But Sue, I still hate that name!

Einmal hatten wir einen Nachbarn zu Besuch, der setzte sich in unsere Stube, als wäre sie seine eigene, und dann, nachdem wir ihm einen Kaffee anboten und Pralinen aus der Schweiz auf dem Tisch arrangierten, dann hebt dieser vertrottelte Vollpfosten doch tatsächlich seinen Körper an, verzieht noch das Gesicht als wäre es eine unglaublich anstrengende Handlung und lässt doch allen Ernstes in unserer zwar etwas heruntergekommenen, aber dennoch angenehm riechenden Stube mit dem holzwurmfreien Boden einen fahren. Und wenn ich sage, dass er einen fahren liess, dann meine ich nicht einfach diese stille Art von Furz, die danach saprogene Gerüche hinterlässt und ansonsten von den Mitmenschen gar nicht zu bemerken wäre, sondern ich meine, diese gewaltigen Brummer, von denen es egal ist, ob die noch stinken oder nicht.

Ich habe in dieser Burgervilla einmal ein Buch gefunden – etwas, was normalerweise eher nicht zu finden ist in diesem Haus –, eine Sammlung von Sagen aus dem Vinschgau, darin gab es eine Geschichte, die mir besonders geblieben ist. Dort wird von einem Gasthaus in Finstermünz erzählt, in welchem die Leute immer wieder gerne einkehrten, obwohl ab und zu Wandersleute in dieser Gegend spurlos verschwanden. Der Wirt des Gasthauses hatte zwei Kinder, die er im Winter immer nach Nauders zu seinem Vetter, dem Metzger, schickte, damit diese einen einfacheren Schulweg hatten, und als dieser Vetter eines Tages eine Kuh schlachtete, da sagte der eine Bursche im Dialekt: „Assou tuat mai Tata aa ollm mit di Lait, dia bai ins übernochtn!“ Der Vetter zeigte den Wirt an, und es kam heraus, dass des Nachts regelmässig die Gäste in dem Haus umgebracht wurden. Der Wirt erhielt seine gerechte Strafe und das Haus wurde abgerissen, doch noch lange Zeit spukte es an der Stelle, wo das Haus stand. Kein Ort auf der Welt, zu dem diese Sage eher passen würde als zum Vinschgau!

Manchmal kam des Nachts die Angst wie eine schwarze Spinne über mich, wenn ich alleine in dem kalten, dunklen Raum schlief und nichts zu hören war als das unregelmässige Knacken der Dielen und das kontinuierliche Rauschen der Etsch. Mit diesen Geräuschen im Hintergrund spann sich die Fantasie die Mythen weiter von den Geistern der Ahnen, die in diesem Haus spuken sollten, wiederum eingetrichtert von meinem Vater, der nur zu oft von seiner Grossmutter und den sechs Kindern erzählte, die allesamt in grosser Armut in diesem Haus gestorben seien. All dies stachelte die Angst an, trieb sie unentwegt so weit, dass ich nicht mehr die Augen zu öffnen vermochte, in der sicheren Erwartung etwas zu sehen, das mehr als blosse Dunkelheit war. Ich schlage die Augen auf, und alles ist schwarz. Ich schliesse sie wieder und fühle mich aus den Ecken des Zimmers beobachtet. Die Bettdecke reicht nicht aus, um meine Füsse und mein Gesicht gleichzeitig zu bedecken. Entweder ich entblösse meine Zehen und gebe sie damit der Kälte preis, oder ich entblösse mein Gesicht und fühle mich damit der Übermacht der Dunkelheit ausgeliefert ohne Chance auf Schutz. Die Schwärze macht den Raum zum bedeutungsvollen Abgrund und ich gerate ins Taumeln.

«Die Burgervilla ist sicherlich kein schönes Haus und sie wird dir dein Leben lang Mühe und Arbeit bereiten», sagte mir mein Vater immer, «aber mir war sie immer ein Rückhalt. Weisst du, wo auch immer ich stehe, wenn gar nichts mehr geht, dann habe ich dort ein Rückzugsgebiet, einen Ort der mir frei steht. Und dir soll dieses Haus auch so ein Ort werden.»