Juni 2018

Die Falle

von Julia Hofstetter
Jahresthema: Bilder
Monatsthema:

Schokolade, hatte der Mann vom Amt gesagt. Und dass sie die Ratten damit anlocken soll. Weil sie sich sonst vermehren. Mit drei Monaten sind sie geschlechtsreif. Sagt er. Und dass sie Krankheiten übertragen und die Hühner anfallen. Deshalb sei es wichtig, dass sie sich nicht vermehren. Und eigentlich mag sie Ratten. Aber jetzt hat sie die Fallen unter den Stall gestellt. Und wenn die Fallen zuschnappen, dann sind die Ratten tot. Dann kann sie die Fallen zurückbringen. Sie hat sie beim Amt für Schädlingsbekämpfung ausgeliehen. Und auf dem Tresen im Empfangsbereich des Büros liegen flauschige Ratten aus Plüsch. Und an den Schrankwänden kleben Bilder von Gipfelbesteigungen und Marathonläufen. Ein sportliches Team, das hier arbeitet. Und sie hat das Büro nicht auf Anhieb gefunden. In diesem zweiten Stock. Ein Büro neben dem anderen. Und sie hat gedacht. In jedem Büro eine Person mit einer Arbeit. Weil sie hat schon wieder keine mehr. Weil sie gekündigt hat. In der Enttäuschung. Und Wut. Das ist ihr noch nie gelungen. Durchhalten und durchschnaufen. Sie steigert sich immer in etwas hinein. Bis zum Drama. Und dann geht sie. Und es ist jedes Mal schwieriger eine neue Stelle zu finden. Nur ihre Ehe. Die hat lange gehalten. Auch wenn ihre Freundin ihr immer gesagt hat. Du bist ihm hörig. Er macht, was ihm gefällt. Und du lässt es dir gefallen. Und manchmal hasst sie ihn. Und sie weiss, dass er im Unrecht ist. Aber nicht lange. Dann schaut sie in seine verwundeten Augen und weiss, es ist alles ihre eigene Schuld. Auch wenn ihre Freundin sagt, er gefällt sich in der Rolle des Opfers. Aber du bist das Opfer. Weshalb lässt du es zu, dass er das mit dir macht. Und sie sagt: «Ich habe Mitleid mit ihm.» Der Mann vom Amt klappt den Bügel der Falle hinunter. «Zuerst stellen Sie die Fallen noch nicht scharf. Zuerst stecken Sie einfach die Schokolade hinein. Damit die Ratten Vertrauen fassen. Erst wenn die Tiere einmal aus der Falle gefressen haben. Erst dann ziehen Sie die Falle an. So.» Und er zeigt ihr, wie sie den Bügel hinunterdrücken muss. «Entsorgen können Sie die toten Tiere im Robidog. Der wird einmal pro Tag geleert. Und passen Sie auf. Ist die Falle scharf, fassen Sie auf keinen Fall hinein.» Und sie hat das ausprobiert. Zuerst einfach nur Schokolade in diese Mulde gesteckt. Und dann hat sie die Fallen zunächst gar nicht mehr gefunden. Weil die Ratten die Schokolade entdeckt haben. Und die Falle mit sich mitgeschleppt haben. Sie musste lange suchen. Und jetzt ist also auch ihre Ehe keine mehr. Jetzt ist sie ausgezogen. Jetzt ist sie ohne Job und ohne Familie. Die Kinder sind bei ihm geblieben. Weil er sagt: «Es ist dein Egoprojekt. Diese Wohnung. Unsere Töchter bleiben bei mir.» Und sie weiss, sie würde sofort wieder zurückgehen. Wenn er sie fragen würde. Aber er fragt sie nicht. Und sie schläft in den Kleidern. Das Licht lässt sie brennen. Und sie erwacht um drei Uhr in der Nacht. Weil sie schon am Tag geschlafen hat. Und dann geht sie zum Schrank. Und sie nimmt diese Kartonschachtel hervor. Und streicht über das weiss schimmernde Seidenpapier, das darin liegt. Und in das Papier eingepackt ist nichts als die Erinnerung. Und ihre Töchter fehlen ihr. Ein Schmerz, wie sie ihn noch nie gespürt hat. Diese Sehnsucht nach den Mädchen. Und sie würde gerne schlafen. Und sie streicht das Seidenpapier glatt. Und sie geht die Zähne putzen. Öffnet das Fenster. Ein Balkon fehlt ihr. Sie fände es schön, jetzt auf dem Balkon zu stehen. Und sie schaut auf die Parkgarage gegenüber. Und die Bar. Die jetzt zu dieser Nachtzeit geschlossen ist. Sie ist neidisch auf die Ratten. Die jetzt wohl tot sind. Weil sie denkt, meinen Tod darf ich meinen Töchtern nicht antun und dass sie durchhalten muss. Aber sie wäre gerne eine tote Ratte. Und das weisse Seidenpapier knistert, als sie es aus der Schachtel nimmt. Und ausrollt. Und durch die beiden Räume spannt, die ihr neues Zuhause sind. Den zweiten Raum hat sie für ihre Kinder vorbereitet. Aber sie will nicht um sie kämpfen. Weil sie denkt, ich tue den Kindern nicht gut. Ich weine zu häufig. Vielleicht ist es besser, sie bleiben bei ihm. Und das weisse Seidenpapier teilt die beiden Zimmer in neue Räume. Und sie wandelt durch diese Räume aus Seide. Und als die Müdigkeit zurückkehrt. Faltet sie das Papier zusammen. Und sie legt es zurück in die Schachtel. Zurück in den Schrank. Und sie legt sich auf die Matratze am Boden. Das Gesicht in den Stoff gedrückt. Und sie spürt, wie der Schlaf zurückkommt. Und sie ist froh, ist er da. Und am Morgen. Als sie erwacht. Passt sie ihre Kinder auf dem Schulweg ab. Und wünscht ihnen einen schönen Tag. Und die Kinder schauen ihr nicht in die Augen. Und sie ahnt, was ihr Mann den Kindern über sie erzählt. Und sie geht zu den Hühnern. Und will die toten Ratten aus den Fallen ziehen. Und die Fallen erneut mit Schokolade präparieren. Weil es noch mehr Ratten hat. Und die Hühner fressen die Körner aus der Hand. Und die toten Ratten will sie in einen Plastiksack packen und den nächsten Robidog suchen. Sie stellt sich vor, wie das ist, den toten Körper einer Ratte in der Hand zu halten. Es ist kein schönes Gefühl. Aber dann ist keine tote Ratte in den Fallen. Die Schokolade ist verschwunden. Nur in einer Falle ist eine abgetrennte Pfote. Kleine Fingerchen der Ratte. Mit Nägeln. Fast durchsichtig. Eingeklemmt unter dem Bügel. Sie legt die Fallen zurück unter den Stall. Ohne Schokolade und entschärft. Sie weiss nicht, was sie mit den Fallen soll. Und sie beschliesst, doch jemanden zu holen, der Gift legt. Die Müdigkeit ist wieder da. Und sie weiss. Sie darf am Tag nicht schlafen. Aber die Erschöpfung krallt sich in die Knochen. Und zuerst weigert sie sich. Der Müdigkeit zu gehorchen. Und sie reisst Brennesseln aus. Weil es so viele sind. Aber dann ist die Verlockung zu gross. Und sie geht zurück in ihre Wohnung. Und sie ist froh. Kann sie schlafen. Denn die Nacht, die ist noch weit weg. Daran denkt sie jetzt nicht. Wie das ist, wenn sie in der Nacht nicht schlafen kann. Jetzt muss zuerst einfach dieser eine Tag vorübergehen. Diese lange Stunde, die vor ihr liegt. Und diejenige danach.