August 2011

Die Heimkehr

von Susanne Mathies
Jahresthema: Heimat
Monatsthema: ---

Weit hinten, wo die Gleise eine Biegung um den neuen Wohnblock machten, bewegte sich etwas. Ein zitterndes Gleissen hing vor dem hellen Morgenhimmel, als der silberne Zug um die Kurve bog. Wie eine Geschenkpackung aus Zellophan, dachte Karla, und das Geschenk war ein Wiedersehen mit ihrem Sohn.
Der Zug würde pünktlich sein. Gut, dass sie so rechtzeitig losgegangen war. Sonst müsste Stefan vielleicht allein auf dem Bahnsteig stehen und sich fragen, warum seine Familie ihn nach drei langen Jahren im Ausland nicht abgeholt hatte.
Karla drehte sich um, als sie ein lautes Klappern von Absätzen näherkommen hörte. Astrid hatte sich also doch noch auf den Weg gemacht. Rotgesichtig und ausser Atem hastete sie die Treppe herauf, eine schwere Frau im engen Kleid. Sie sollte wirklich nicht so viel essen. Aber Essen war die einzige Freude in Astrids Leben, und sowas konnte man jemandem ja nicht einfach wegnehmen. Insgeheim wusste Karla, dass sie Astrid immer wieder den Lieblingskuchen backen würde, wenn auch mit schlechtem Gewissen.
„Du bist aus dem Haus gegangen, ohne etwas zu sagen,“ schnaufte Astrid und wischte sich die Schweissperlen von der Stirn. Es war schwer, ihren Gesichtsausdruck zu deuten, er war noch verzerrt von Anstrengung. War Astrid ernsthaft böse, oder besorgt, oder einfach nur schlecht gelaunt?
Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Karla spürte ihr Herz weiter werden, weit genug, um nicht nur Stefan, sondern auch eine missgelaunte Astrid und gestresste Passanten und die ganze Welt aufzunehmen. Mit lautem Quietschen kam der Zug zum Halten, und die Türen schoben sich auf.
Karla hatte sich an den Anfang des Bahnsteigs gestellt, neben die Treppe, so hatte sie den gesamten Zug im Blick.
Da war er. Stefan war einer der ersten, die ausstiegen, aus einem der mittleren Wagen. Schau her, dachte Karla, ich bin hier! Aber Stefan sah nicht hoch, sondern stellte nur seinen Koffer auf dem Bahnsteig ab. Dann wandte er sich um und half einer jungen Frau, einen Kinderwagen aus dem Zug zu heben. Karla bezwang ihre Ungeduld. Ihr Junge war höflich und hilfsbereit, das musste auch so sein. Für einen Schreckmoment kam ihr ein wilder Gedanke: Was, wenn Stefan während seiner Zeit in der Armee geheiratet hatte und sie jetzt mit Frau und Kind überraschen wollte?
Nein, so etwas würde er nie tun. In seinen Briefen, so selten sie auch kamen, hatte er ihr immer alles erzählt, auch von den Kollegen, die sich mit einheimischen Mädchen einliessen und krank wurden.
Sie atmete auf, als sie die junge Frau ohne Stefan zum Ausgang streben sah. Stefan nahm seinen Koffer hoch und manövrierte sich durch das Gedränge der anderen Passagiere. Es gab jetzt einen Gegenstrom von Leuten, die möglichst schnell in den Zug steigen wollten, und die beiden Ströme behinderten sich gegenseitig. Passanten stiessen zusammen, versuchten, zur Seite auszuweichen, standen sich schon wieder im Weg.
Trotzdem hatte Stefan es jetzt geschafft, bis auf ein paar Meter an sie heranzukommen. Er trug seine blonden Haare immer noch kurz, wie bei seiner Abreise. Sein Gesicht war kantiger geworden, erwachsener. Warum schaute er denn kein einziges Mal in ihre Richtung?
Karla stellte sich auf die Zehenspitzen und winkte ihm zu.
„Stefan! Hier sind wir!“
In dem Moment spürte sie einen Stoss von hinten. Sie verlor das Gleichgewicht, taumelte kurz und fand sich auf den Knien auf dem Boden wieder. Ein leuchtendblauer Rucksack schwenkte seine Riemen gegen ihr Gesicht. Kurze Beine rannten an ihr vorbei, in Jeans und in rosa Leggings. Es quiekte und schrie um sie herum, als eine Horde von Schulkindern versuchte, sich noch in die nächste offene Tür des Zuges zu zwängen.
„Karla, ist dir etwas passiert? Geht es dir gut?“ Astrid half ihr, sich aufzurichten. Über dem Gewimmel von Kinderköpfen um sie herum sah Karla gerade noch, wie eine schlanke Männergestalt die Treppe herunterlief. Sie hatten Stefan tatsächlich verpasst!
„Stefan!“
Karla versuchte, ihm hinterherzulaufen, aber sie wurde durch Astrids festen Griff an ihrem Arm zurückgehalten.
„Astrid, lass mich los! Stefan hat uns gar nicht gesehen, wir müssen schnell versuchen, ihn einzuholen!“ „Du hast dich verletzt.“ Astrid sah sie prüfend an. „Deine Knie sind blutig, warte, ich mache gleich ein Pflaster darauf.“ Das sah Astrid ähnlich, so praktisch zu reagieren. Aber Karla wusste sich zu helfen. Für einen Moment gab sie vor, gehorsam stehen zu bleiben. Als der Griff an ihrem Arm nachliess, riss sie sich los und eilte die Treppe hinunter.
Glücklicherweise ging Stefan nicht sehr schnell. Sie würde ihn sicher gleich einholen.
„So warte doch auf mich!“ Astrid war schon wieder an ihrer Seite. „Ich finde, wir sollten jetzt nach Hause gehen.“ „Aber wir haben Stefan verpasst, was soll der Junge denn nur denken? Da vorn ist er, wir haben ihn schnell erreicht.“ „Und wenn wir es nicht schaffen, sollen wir dann durch die ganze Stadt hinter ihm herlaufen? Wer weiss, was er noch erledigen muss.“ „Aber er ist doch direkt vor uns, lass uns einfach ein bisschen schneller gehen, das schaffen wir schon.“ „Karla!“ Jetzt war Astrid auch noch stehengeblieben, es war wirklich schwierig mit ihr. „Stefan wird doch sicher erwarten, dass wir zu Hause sind. Stell Dir mal vor, wir verlieren ihn jetzt, und wir sind nicht da, wenn er ankommt!“ Karla überlegte einen Moment lang, ob dieser Gedanke wohl Astrids Faulheit oder ihrem gesunden Menschenverstand entsprang, aber schliesslich musste sie ihr recht geben. Das wäre das Schlimmste, wenn der Junge zu Hause vor einer verschlossenen Tür stehen würde.
Gerade wollte sie sich umdrehen, da sah sie, wie Stefan in ein Café eintrat und sich an einen Tisch setzte. Es war so ein weissgekacheltes Schnellcafé mit dem unsäglichen Namen „Backpoint“. Dort wäre sie selbst nie freiwillig hineingegangen, aber Stefan machte sowas natürlich nichts aus. Er war ja als Teenager nach der Schule immer durch das Einkaufscenter gezogen und hatte sich da mit Freunden getroffen, die Karla gar nicht gefielen. Eigentlich war sie fast froh gewesen, als er sich dann zur Armee gemeldet hatte, dahin hatten diese heruntergekommenen Kiffer ihn jedenfalls nicht begleitet.
Stefan hatte ein silbernes Handy herausgezogen und tippte darauf herum. Er sah gut und elegant aus. Sie öffnete die Tür.
„Du willst doch nicht reingehen und ihn jetzt stören?“ Was hatte Astrid nur? „Aber warum denn nicht, ich will ihn endlich begrüssen!“ „Sicher hat er noch schnell etwas Dringendes zu erledigen, sonst wäre er doch auch schon auf dem Weg nach Hause. Komm, wir gehen jetzt und kochen einen schönen Kaffee, damit er fertig ist, wenn Stefan kommt.“ „Aber er trinkt doch sicher hier schon einen Kaffee. Und zuviel Kaffee ist nicht gesund.“ „Dann was anderes – vielleicht einen Kakao? Den hat er sogar mit achtzehn noch gern getrunken.“ Karla lächelte. Da hatte Astrid ausnahmsweise mal recht. Stefan hatte noch als Teenager ihren dicken cremigen Kakao geliebt. Vielleicht sollte sie wirklich in Ruhe zu Hause alles vorbereiten.
„Karla, Astrid!“ Sie hatten sich gerade umgedreht, als sie von einer Wolke süsslichen Parfums eingehüllt wurden. „Es tut mir so leid!“ Meta strahlte über ihr ganzes blasses Mondscheibengesicht, was mit dem Leidtun überhaupt nicht in Einklang zu bringen war, sondern eher damit, dass sie sich freute, den Satz mit dem Leidtun losgeworden zu sein. Aber sie hatte eben ein schlichtes Gemüt und meinte es eigentlich gut, da durfte man es nicht so genau nehmen.
„Er war ja noch so jung! Schade, dass ich nicht zur Trauerfeier kommen konnte. Sogar der Bürgermeister hat gesprochen, habe ich gehört!“ Auch wenn man nicht genau wusste, wovon Meta eigentlich redete, war das doch kein Grund für Astrid, sie derartig giftig anzusehen.
„Ich weiss nicht, was du meinst,“ sagte Astrid zu Meta, „Du musst da was missverstanden haben.“ Astrid wurde immer so schnell bissig. Metas Gesicht überzog sich mit einem ungesunden Karmesinrot, und sie schien in sich zusammenzusacken, so dass ihre hängenden Schultern unter der kunstseidenen Bluse noch abschüssiger aussahen. „Ich…äh … das…äh…“ stammelte sie, und ihr Blick irrte zwischen Astrid und Karla hin und her.
„Mach dir nichts draus.“ Karla legte ihren Arm um Metas knochige Gestalt. „Sowas kann uns allen mal passieren.“