November 2020

Die Himmelsharfe

von Cornelius Grupen
Jahresthema: Klima- und andere Katastrophen
Monatsthema: Meteoritenschauer

Es ist eine von diesen Push-Nachrichten, die ich normalerweise ungelesen wegwische: ‚Verfemter Physiker will Echo des Urknalls hörbar machen.‘ Klingt dubios, aber ich klicke trotzdem auf den Link. Der umstrittene Astrophysiker Leo Wienroth habe einen Detektor gebaut, der die beim Verglühen von Meteoriten in der Atmosphäre entstehende Bremsstrahlung in hörbare Schallwellen verwandeln soll. Wienroth behaupte schon seit Jahren, er habe einen direkten Draht zum Ursprung des Universums. Der Urknall spreche durch die Meteoriten zu ihm, wie Gott durch die Propheten zu den Israeliten gesprochen habe. Wegen solcher Sätze gelte Wienroth unter den meisten Fachleuten als esoterischer Spinner. Ausserdem gewähre er selbst wohlwollenden Kollegen keinen Einblick in seine Messdaten. Die Universität Genf habe ihm schon vor längerer Zeit die Lehrbefugnis entzogen, aber das CERN, das europäische Kernforschungszentrum, erlaube ihm die Nutzung eines stillgelegten Speicherrings für seine Experimente. Ein amerikanischer Nobelpreisträger wird mit den Worten zitiert, Wienroth sei zwar kein besonders zuverlässiger Forscher, aber ein sehr kreativer Kopf. Wenn jemand der Kosmologie neue Impulse geben könne, dann jemand wie Wienroth. Nun nähere sich ein Schauer besonders alter Meteoriten der Erde, dem Wienroth die letzten Geheimnisse des Universums ablauschen wolle. Er rechne mit einer «Umwertung aller Werte» der Physik. Leider enthält der Artikel kaum konkrete Aussagen über den eigentlichen Versuchsaufbau. Es bleibt auch unklar, ob der Verfasser des Artikels selbst überhaupt vor Ort war. Wer mehr über das Experiment erfahren wolle, solle sich für eine Verlosung registrieren. Dem Gewinner werde das bisher nur ausgewählten Fachleuten gewährte Privileg zuteil, Wienroths Labor zu besuchen und die kosmischen Klänge mit eigenen Ohren zu hören.

Normalerweise meide ich solche Preisausschreiben, aber für das Echo des Urknalls bin ich bereit, eine Ausnahme zu machen. Für den Anfang und das Ende der Welt habe ich mich schon immer interessiert. Vorsichtshalber trage ich trotzdem die Adresse meiner Eltern ein, um nicht bis an mein Lebensende mit Werbung zugemüllt zu werden.

Ich habe die Sache längst vergessen, als meine Mutter mich auf der Arbeit anruft.

«Du hast etwas gewonnen!»

«Ich gewinne nie was, Mama.»

«Einmal ist immer das erste Mal.»

«Jetzt sag schon, was es ist.»

«Da ist ein Brief für dich gekommen.»

«Das ist bestimmt nur Werbung.»

«Da steht aber ‚Sie haben gewonnen!‘ auf dem Umschlag.»

«Das ist garantiert irgendeine Betrugsmasche.»

«Dann kann ich den Brief ja wegwerfen.»

Meine Mutter klingt gekränkt.

«Nee. Heb den ruhig mal auf. Du hast ja Recht. Man weiss nie. Ich komme nach der Arbeit bei euch vorbei.»

«Dann bis nachher. Wir freuen uns.»

Der Brief sieht nicht so aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Der Umschlag ist mit einer richtigen Briefmarke frankiert. Also schon mal keine Postwurfsendung. Der Satz ‚Sie haben gewonnen!‘ ist mit blauer Tinte handgeschrieben. Eine ordentliche Schrift. Auf der Rückseite prangt statt eines Absenders ein kleiner goldener Notenschlüssel.

«Nun mach schon auf», sagt mein Vater.

«Ich bin richtig aufgeregt», sagt meine Mutter.

Ich mache den Umschlag auf. Darin befinden sich ein Anschreiben und ein Flugticket.

«Zeig her!», sagt mein Vater.

«Lies vor!», sagt meine Mutter.

Ich gebe meinem Vater das Flugticket und lese meiner Mutter das Anschreiben vor. Der Unterzeichner begrüsst mein Interesse am Ursprung des Universums und freut sich, mir mitteilen zu können, dass ich per Losverfahren ausgewählt worden sei, um als erster Laie das Echo des Urknalls mit eigenen Ohren zu hören. Der Unterzeichner werde alle Kosten für Anreise, Unterkunft und Verpflegung übernehmen. Unterzeichnet ist das Anschreiben von Leo Wienroth persönlich. Es ist dieselbe Schrift wie auf dem Umschlag. Ich gebe den Brief meiner Mutter.

«Habe ich doch gesagt. Einmal ist immer das erste Mal!», sagt meine Mutter triumphierend.

«Das Ticket sieht echt aus», sagt mein Vater.

Ich sehe mir das Ticket an. Es ist auf meinen Namen ausgestellt. Ich erzähle meinen Eltern von dem Artikel, in dem ich über das Experiment gelesen habe.

«Davon hab ich auch gelesen!», sagt mein Vater.

Er verschwindet in seinem Arbeitszimmer.

«Und? Fliegst du hin?», fragt meine Mutter.

«Ich weiss nicht.»

«Wieso denn nicht? So eine Gelegenheit kommt nicht alle Tage.»

«Der Abflug ist schon übermorgen.»

«Du hast doch noch so viel Resturlaub.»

Inzwischen hat mein Vater gefunden, was er gesucht hat. Es ist ein Artikel in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift, die er schon seit seiner Schulzeit abonniert hat. Der Artikel trägt die Überschrift «Die Himmelsharfe». Der Artikel ist sehr viel ausführlicher als der, den ich gelesen habe. In einem Kasten wird der Aufbau des Experiments erklärt. Der Detektor bestehe aus hauchdünnen Goldfäden, die durch Interaktion mit der Bremsstrahlung der Meteoriten in Schwingung versetzt würden. Die wenigen Menschen, die den dabei entstehenden Klang bisher gehört hätten, schwärmten übereinstimmend von seiner überirdischen Schönheit. Allerdings wichen die Berichte der Probanden über das Gehörte stark voneinander ab. Man könne nicht ausschliessen, dass es sich bei ihren Höreindrücken um Halluzinationen handelt. Es sei auch denkbar, dass Wienroth den Probanden in betrügerischer Absicht Tonaufnahmen vorgespielt habe. Wienroth wird mit den Worten zitiert, er werde alle Einwände seiner Kritiker mit ‚unabweisbarer Evidenz‘ entkräften.

«Wenn du nicht hinfliegst, fliege ich», sagt mein Vater.

«Hier steht, dass der Gewinn nicht übertragbar ist.»

«Dann musst du fliegen. Das wirst du dein Leben lang bereuen, wenn du das nicht machst», sagt meine Mutter.

Damit ist die Sache beschlossen.

Am nächsten Tag eröffne ich meinem Chef, dass ich wegen einer dringenden Privatsache nach Genf reisen müsse.

«Ist jemand gestorben?», fragt er besorgt.

«Nein, nein. Ich weiss selbst noch gar nicht so ganz genau, was eigentlich anliegt. Ich muss mir erstmal vor Ort einen eigenen Eindruck verschaffen.»

«Kein Problem. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie sie brauchen. Im Moment ist hier sowieso nicht viel los.»

Das war leichter, als ich dachte. Am nächsten Morgen fährt mein Vater mich zum Flughafen. Er besteht darauf, dass wir schon um acht Uhr losfahren, obwohl der Flug erst um kurz vor eins geht. Natürlich sind wir viel zu früh da. Es ist noch gar nicht möglich, für den Flug einzuchecken. Der Schalter der Fluggesellschaft ist noch geschlossen. Wir gehen auf die Besucherterrasse. Mein Vater besteht darauf, dass ich für ein Foto neben einem Münzfernrohr posiere, obwohl er genau weiss, wie ungerne ich fotografiert werde. Zum Abschied schüttelt er mir die Hand und klopft mir auf die Schulter. Das ist seine Version einer Umarmung. Er sagt, jetzt müsse er aber wirklich los, sonst komme er zu spät zum Mittagessen, und ich wisse ja, was dann los sei.

«Ich weiss, Papa. Fahr ruhig. Ich komm schon klar.»

«Na dann guten Flug.»

«Danke. Grüss Mama von mir.»

«Das mache ich. Bis bald.»

Um elf öffnet endlich der Check-in-Schalter. Eine freundliche Frau in leuchtend gelber Uniform händigt mir meine Bordkarte und einen kleinen Umschlag aus. Sie sagt, den Umschlag habe der Reiseveranstalter für mich hinterlegt.

Während ich auf den Abflug warte, öffne ich den Umschlag. Darin befindet sich ein in gelbes Leinen gebundenes Buch. Auf der Vorderseite ist ein Notenschlüssel eingeprägt. Ich schlage das Buch auf. Auf der ersten Seite steht ein Zitat:

Als die Wellen in der Atmosphäre verebbt waren,

lag der Planet einen Moment lang ganz still.

Shabbatz Krekov

Der Name sagt mir nichts.

Das Buch besteht aus drei Kapiteln, die römisch nummeriert sind und lateinische Titel tragen:

I.          HARMONIA

II.         VESTIGIUM

III.        REVELATIO

Zu meiner Erleichterung ist der Text selbst nicht auf Latein, sondern auf Deutsch geschrieben. Allerdings ist auf Anhieb nicht erkennbar, was das Buch mit dem Anlass meiner Reise zu tun hat. Das erste Kapitel besteht aus einer Beschreibung der Lehren des Pythagoras. Er behauptet, dass die Welt aus Zahlen gebaut ist. Die Zahlen seien nicht nur Zeichen, sondern räumlich ausgedehnte Entitäten, und jede Zahl habe eine ihr eigene körperliche Gestalt. Während ich versuche, mir vorzustellen, wie die ausgedehnten Zahlen aussehen, beginnen die Buchstaben vor meinen Augen zu tanzen. Darüber verpasse ich fast meinen Flug. Eine Dame in gelber Uniform berührt mich sanft am Arm. Sie sagt, sie störe mich zwar nur ungern, aber es sei jetzt wirklich Zeit, zum Abflugsteig zu gehen.

Während des Flugs lese ich weiter. Pythagoras behauptet, mit Zahlen und ihren Verhältnissen zueinander lasse sich der ganze Kosmos beschreiben, von der Bewegung der Himmelskörper bis zur Musik. Zwischen der Himmelskunde und der Musik bestehe sogar ein Zusammenhang. Die irdische Musik sei eine unvollkommene Nachahmung der Musik, die der Kosmos selbst erzeuge. Diese kosmische Musik entstehe bei den Bewegungen der Himmelskörper und sei für unsere Ohren unhörbar, weil sie uns seit unserer Geburt umgebe und wir daran ebenso gewöhnt seien wie an den Schlag des eigenen Herzens.

«Wir überfliegen jetzt den Jura», sagt der Pilot.

Ich blättere weiter. Das zweite Kapitel ist die Übersetzung des Kommentars eines schottischen Franziskaners zum biblischen Schöpfungsbericht. Der Text kreist um die Frage, ob der Mensch als Geschöpf seinen Schöpfer erkennen könne. Der Franziskaner schreibt, der Schöpfer entziehe sich als überzeitliches Wesen zwar der direkten Erkenntnis des in der Zeit gefangenen Menschen, sei für den menschlichen Geist über einen Umweg aber trotzdem zugänglich. Der Schöpfer habe nämlich seine Spuren in der Schöpfung hinterlassen. Indem der Mensch diese Spuren studiere, könne er auf das Wesen des Schöpfers schliessen, wie ein Jäger von einer Spur auf das Tier schliessen könne, das die Spur hinterlassen hat.

«Wir landen in Kürze in Genf-Cointrin», sagt der Pilot.

Als das Flugzeug aufsetzt, lese ich den letzten Satz des zweiten Kapitels: «Gott ist die unendliche Kugel, deren Mitte überall und deren Grenze nirgends ist.»

Zu meiner Überraschung holt Wienroth mich persönlich am Flughafen ab. Er fragt mich, ob ich das Buch gelesen habe.

«Bisher nur die ersten beiden Kapitel.»

«Das dritte nicht?»

«Dafür war der Flug zu kurz.»

«Das ist sehr bedauerlich. Das dritte Kapitel ist das wichtigste.»

«Das wusste ich nicht. Das tut mir leid. Vielleicht kann ich es jetzt noch lesen?»

Wienroth sieht zur Uhr.

«Dafür ist keine Zeit mehr.»

«Warum denn nicht?»

Wienroth sagt, in weniger als einer Stunde dringe ein ungewöhnlich vielversprechender Meteoritenschauer in die Erdatmosphäre ein. Diese hochverdichteten Meteoriten seien beim Urknall, am Anfang aller Zeiten, unter Einwirkung unvorstellbar grosser Kräfte entstanden, und jeder davon trage das ganze Universum in sich. Ein vergleichbares Ereignis werde es erst wieder in vier Millionen Jahren geben. Bevor ich ihn fragen kann, warum er eine solche Sternstunde ausgerechnet mit dem Gewinner eines Preisausschreibens teilen will, hat Wienroth mich auch schon in seinen rostigen Peugeot bugsiert, der vor dem Terminal im Halteverbot steht. Er überfährt mehrere rote Ampeln und jagt in halsbrecherischem Tempo durch ein verkehrsberuhigtes Wohngebiet. Er zündet sich eine filterlose Zigarette an. Während er den Rauch gierig einsaugt, gesteht er mir, dass er mich nicht zufällig, sondern gezielt ausgewählt habe.

«Gezielt?»

Er nickt, kurbelt das Fenster auf der Fahrerseite herunter und schnippt die erst halb gerauchte Zigarette hinaus.

«Du hast die richtigen Ohren dafür.»

Er kurbelt das Fenster wieder hoch und zündet sich eine neue Zigarette an. Er biegt von der Hauptstrasse ab. Nach kurzer Fahrt erreichen wir einen Schlagbaum. Ein Mann in Uniform tritt aus einer Baracke. Wienroth winkt ihm zu. Der Uniformierte nickt und geht zurück in die Baracke. Der Schlagbaum öffnet sich. Wienroth parkt den Wagen und stellt den Motor ab. Er führt mich in einen Container, der als Büro eingerichtet ist. An der Längsseite stehen drei verwaiste Schreibtische. Über jedem der Schreibtische hängt ein gerahmtes Porträt. Das erste Bild zeigt einen jungen Mann mit lichtem Haar und sanften Augen. Das zweite Porträt zeigt einen Mann mit Adlernase und imposanter Haartolle. Das dritte Porträt zeigt einen Asiaten, dessen Gesicht mich an Alfred Hitchcock erinnert.

«Sind das ihre Mitarbeiter?», frage ich.

Wienroth ignoriert meine Frage. Er reicht mir ein Klemmbrett. Darauf ist eine Erklärung befestigt, mit der ich Wienroth von der Haftung für eventuelle Langzeitschäden entbinde.

«Was denn für Langzeitschäden?», frage ich.

«Bisher sind keine aufgetreten», sagt Wienroth.

«Ist das Experiment denn gefährlich?»

«Ach was. Das ist todsicher.»

Ich habe ein flaues Gefühl im Magen, aber für einen Rückzieher ist es jetzt zu spät. Ich denke an die Worte meiner Mutter. So eine Gelegenheit kommt nicht alle Tage. Ich unterschreibe die Erklärung. Wienroth führt mich zu einem Aufzug. Während der Fahrt erklärt er mir, der Detektor befinde sich 200 Meter unter der Erdoberfläche. Das Gestein darüber wirke wie ein natürlicher Filter, der nur die für sein Experiment relevanten Strahlen durchlasse. Vom Aufzug steigen wir in eine Art Grubenbahn um. Nach kurzer Fahrt weitet der Stollen sich zu einer kegelförmigen Kaverne. Der Detektor ist viel grösser, als ich ihn mir vorgestellt habe. Die Goldfäden sind auf einen kreisförmigen Rahmen von mindestens 20 Meter Durchmesser gespannt. Der Rahmen wiederum wird von vier armdicken Stahltrossen gehalten. Wienroth zeigt auf eine gepolsterte Liege, die in der Mitte der Kaverne steht.

«Hinlegen», befiehlt Wienroth.

Ich gehorche. Die Liege ist sehr bequem. Ich habe den Eindruck, dass die Polsterung sich der Form meines Körpers anpasst. Die Liege ist so positioniert, dass mein Blick direkt auf den Detektor fällt. Wienroth legt sich neben mich. Er erklärt mir, die Apparatur bestehe aus mehr als tausend Goldfäden, die jeweils nicht dicker seien als ein einzelnes Atom. Die Elektronen der exponierten Goldatome würden durch die Bremsstrahlung der verglühenden Meteoriten angeregt, was wiederum die Fäden in Schwingung versetze. Diese Schwingungen breiteten sich in der ganzen Kaverne aus, die wie ein Resonanzkörper wirke. Die Liege stehe genau im Fokalpunkt der Schallwellen.

Wienroth sieht zur Uhr.

«Gleich ist es soweit», flüstert er.

Ich schliesse meine Augen, und im selben Moment setzt die Musik ein. Die Musik ist anders als alles, was ich zuvor gehört habe. Jeder Ton ist eine Überraschung. Gleichzeitig folgt jeder Ton auf dem vorherigen mit innerer Notwendigkeit. Jeder einzelne Ton trägt die gesamte Melodie in sich.

Ich bin der Himmel.

Ich bin die Harfe.

Ich bin die Musik.

Ich spüre, wie ich an Gewicht verliere.

Mit jedem Ton fühle ich mich leichter.

Die Musik nimmt mich in sich auf.

Ich werde keine Spuren hinterlassen.