Juli 2019

Die Höhle des Drachen

von Karin Leroch
Jahresthema: Zahlen
Monatsthema: Drei

In drei Richtungen gespuckt, dreimal gewünscht, und die Orakel in meinem Garten erwachen zum Leben:

Die erste Blüte öffnet sich und wird zu einem sich drehenden Rad. Ich lese darin die Vergangenheit.

Die zweite Blüte öffnet ihr Auge in der Mitte und ich kann sehen, was in diesem Moment geschieht.

Die dritte Blüte wird zu einem Farbwirbel, der mir die wahrscheinlichste Zukunft zeigt.

Die Sträucher und Kräuter in meinem Garten wachsen wild und ranken sich wie im Tanz um einander.

Alles wäre im Gleichgewicht, wie der glatte Wasserspiegel meines Teiches, hätte ich nicht drei Töchter: Violetta, Dahlia und Rosa. Sie sind nicht länger Kinder und noch nicht erwachsen. Kobold, Wassergeist und Mondkalb. Sie liegen in ihren Zimmern und sind mit ihren Haaren und Fingernägeln beschäftigt, weil sie ihre jeweiligen Absichten noch nicht kennen.

Violetta. Flammend rot. Zornig, dass ihr Vater das Weite gesucht hat. Zornig, wenn das Wetter schlecht ist, zornig, wenn die Sonne scheint. Mein Feuersbrunstsalamander! Auch mein Mildwurz hält sie nicht im Zaum. Kämpft immer, behält immer recht, gewinnt immer.

Dahlia in moosigem Schattengrün und scheuem Cremegelb. Klug und liebevoll. Traut sich nichts zu, traut sich nicht über die Schwelle. Leise Stimme. Zittert gern. Fluchtbereite Hasenmaus.

Rosa, die Jüngste, ist genau das, was man sieht, Kopf, Arme, Beine, Bauch. Mehr ist da nicht. Kein Geheimnis. Ein hübsches Gesicht, Sauberkeit und ein bisschen Mode. Ich habe versucht, in ihr Gehirn zu blicken und herumzukramen, aber alles was ich fand, war für praktische Zwecke, Schere, Kamm und Augenbrauenstift. Macht nichts. Dann ist sie eben bergwasserquellrein und feldweggeradlinig. Spare ich mir das Geld für Bücher.

Meine Töchter wachsen in drei wild wuchernde Richtungen. Ich werde eine Prüfung für sie suchen. Drei Finger überkreuzt und ich weiss es – eine Aufgabe, die auch für mich von Nutzen ist: «Bringt mir den Schatz aus der Höhle des Drachen!»

Jede bekommt einen Rucksack mit den wichtigsten Heilkräutern und Zauberwurzeln. Schlangenminze, Vogelgras, Nusshaar.

Violetta wird zornig. «Du willst von unbezahlter Kinderarbeit profitieren!» Ich argumentiere, dass sie sich dagegen verwahrt hat, als Kind bezeichnet zu werden. Sie weigert sich, unbewaffnet loszuziehen und schultert das Jagdgewehr, das ihr Vater hinterlassen hat. Voll Sorge und Liebe sehe ich ihr nach.

Meine Blüte mit dem Farbwirbel zeigt mir, was kommen wird, und ich verfolge ihre Reise.

Ihr Weg ist lang, aber sie ist in Rage, daher spürt sie keine Müdigkeit.

Jetzt ist sie vor der Höhle des Drachen. Gleich wird sie ihren Rucksack weit von sich werfen und hinein marschieren. Da! Erdiger Boden, Felswände. Das Schlangengeflüster in den Ecken stört sie nicht. Die Schritte ihrer Armeestiefel wecken den Drachen. Er faucht und stellt sich auf die Hinterbeine. Sie hebt das Gewehr, rennt auf ihn los und schreit: «Nieder mit dem Patriarchat, Tod dem Drachengräueldiktat!“ Der Drache brüllt, bäumt sich auf, Flammen und Rauch strömen aus seinem Maul, Erdbrocken auf dem Boden fangen Feuer. Sie zielt und schiesst. Die Kugel trifft die weiche Seite des Drachen, der stürzt und bleibt liegen. Schicksalsstille.

Sie tritt die Flammen aus und macht sich auf in die finsteren Nebengänge. Wo ist der Schatz? Sie findet nichts, das irgendwie lockend glitzert, stattdessen liegt in einem Nest aus Mooswolle und biegsamen Zweigen ein kleiner weichschuppiger Babydrachen. Laut geflucht! denkt sie. Doch ihr Zorn schmilzt und ihr Herz bekommt eine weiche Schlagseite. Gleichzeitig weiss sie, dass sie in Schwierigkeiten ist: Sie hat die Drachenmutter (Vater? Alleinerzieher?) angeschossen. Was tun? Sie nimmt das Baby in den Arm. Es quiekt und saugt an ihrem Finger. Sie trägt es vorsichtig hinaus. Ich denke, hoffentlich bringt sie ihn nicht zu mir nach Hause! Aber sie legt das Baby vor den Drachen hin. Holt ihren Rucksack. Reibt die blutige Wunde an der Flanke des Drachen mit den Zauberkräutern ein, mit Lattichblättern und Heilbrennsaft.

Der Drache rührt sich! Die Gewehrkugel ploppt aus der Wunde und fällt klingelnd zu Boden. Die Wunde schliesst sich. Der Drache spuckt noch ein bisschen Blut, und Violetta fängt ein Tröpfchen auf. Sie sieht, dass der Drache liebevoll sein Baby leckt und beeilt sich, aus der Höhle zu kommen. Jetzt merkt sie, dass der Blutstropfen zu Gold geworden ist. Sie rennt den langen Weg nach Hause.

Als meine kämpferische Tochter zurück ist, tue ich natürlich, als hätte ich niemals ins Orakel geblickt und küsse sie, als sie mir den goldenen Blutstropfen bringt. Sie hat es geschafft und Stolz funkelt in meinen Augenwinkeln!

Dahlia, die Scheue, sieht mich grossäugig und angstvoll an, den Rucksack mit Kräutern und Verpflegung auf dem Rücken. Ich treibe sie vor mir her aus dem Haus. Endlich zieht sie los.

Ich blicke in meine Blüte mit dem sich drehenden Rad, das mir zeigt, was früher war. Ich sehe all das nicht gerne, zwinge mich aber dazu. Sie war immer die zweite Tochter. Mein Mann, der Kindesvater, hatte oft Ärger mit der Ältesten, Violetta. Und so hatte er eine Art Aufmerksamkeitsdefizit in Bezug auf Dahlia. Das heisst, er hat sie kaum bemerkt. Das hat in ihr ein Sicherheitsvakuum erzeugt, das auch meine Liebe und zerstampftes Mutstöckel aus dem Garten nie ganz auffüllen können.

Da geht sie. Ihr Weg ist lang, bis sie zu der Höhle des Drachen kommt. Sie schluckt, seufzt und betritt sie.

Es ist keinesfalls so, dass es nur einen Drachen gibt. Jede begegnet ihrem eigenen. Sie hat ihn sich riesengross und voll scharfer Zähne, grüner Schuppen, und spitzer Krallen vorgestellt. Was ihr jetzt in der Höhle gegenübersteht, ist ein grüngeschupptes Ungeheuer mit scharfen Zähnen und spitzen Krallen, das ihr nur bis zum Scheitel reicht. Sie hat vergessen, dass sie ihn sich schon als kleines Kind so gross wie einen Erwachsenen vorgestellt hat, also ungefähr so gross wie sie jetzt ist.

Unsicher starrt sie ihn an, der Drache faucht, fühlt sich in seiner Ruhe gestört, weiss nicht so recht, soll er beissen, soll er mit den Lederflügeln flattern. Sie trippelt rechts, er trippelt links, sie steigt nach links, er tapst nach rechts. Er wirkt genervt, sie merkt es und wirft ihr kleinwüchsiges Selbstvertrauen über den Haufen: «Er will mich hier nicht! Ich bin überflüssig! Ich sollte gehen!» Er räuspert sich, dabei kommt ein Feuerfunke aus seinem Maul, sie wirft ihm den prall gefüllten Rucksack vor die Tatzen, der Sack platzt auf, der Drache schnüffelt und identifiziert Brote mit Grünkernaufstrich. Er beginnt zu fressen. Ist abgelenkt. Die Angst hängt sich sichtbar alpdruckschwer an ihren Hals, aber ihr fällt ein: Der Schatz! Ich muss den Schatz finden! Der Drache indessen frisst und grunzt dabei, kratzt sich, verletzt sich mit der eigenen scharfen Kralle an der Schulter, verliert dabei ein grünes Schüppchen. Sie fängt es auf, und es wird alchemieverdächtig in ihrer Hand zu Gold. Sie ist verblüfft, sieht den Drachen an, der kümmert sich nicht um sie. Wie urvertraut! «Er beachtet mich nicht! Wie mein astigmatischer Vater mit seinem Zweittochterblindfleck!» Sie spürt rechtfertigen Zorn und dann eine plötzliche hüpfburgartige «Was soll’s!“ – Stimmung. Sie tut das einzig Richtige, steckt den Schatz ein, sucht den Ausgang der Höhle und rennt so schnell sie kann zurück nach Hause!

Als ich sie glücklich in die Arme schliesse, tue ich so, als hätte ich niemals ins Orakel gesehen und nehme freudig überrascht die Goldschuppe in Empfang.

Rosa ist an der Reihe. Sie nickt kurz voll Selbstverstand und zieht mit ihrem Rucksack los.

Ich blicke in meine Blüte mit dem Auge in der Mitte, die mir zeigt, was gerade jetzt geschieht. Sie marschiert. Nun ist sie bei der Höhle des Drachen. Sie setzt sich davor. Wahrscheinlich überlegt sie. Ich warte und nichts ändert sich. Hockt vor dem Eingang wie eine Öchsin vor dem abendlichen Heimattor! Ich krümle eine Prise zerstampftes Impulskraut in meine Orakelblüte. Es erreicht sie, aber sie putzt es von ihrem Ärmel! Wartet sie, dass sie jemand hineinträgt? Ich fasse es nicht und raufe mir die Haare. Beschliesse, eine Zeit lang nicht in die Blüte zu blicken.

Nach einiger Zeit hockt sie immer noch da und isst ihr Jausenbrot. Hoffnungslos! Doch plötzlich – eine Bewegung am Horizont. Jemand nähert sich aus der anderen Richtung. Ein Kletterer, der aus den Bergen zurückkommt. Schleppt Seil und Pickel. Jung und attraktiv. Rosas Gesicht erblüht. Er kommt zu ihr und sie schnuppern einander Duft. Er fragt etwas, sie erklärt händereich. Sie wird doch nicht! Doch, sie tut es. Sie schickt ihn an ihrer statt hinein! War meine Erziehung umsonst?

Er verschwindet in der Höhle. Sie wartet. Er kommt nicht wieder heraus. Jetzt muss sie ihm nach! Sie betritt die Höhle. Da liegt der Drache! Ein riesiges bauchiges Ding, feuerfarben, sich windend, rollenden Auges. Besiegt und gefesselt mit dem Kletterseil des jungen Mannes, der erschöpft dasitzt. Sie stemmt die Arme in die Seiten und fragt: «Und wo ist der Schatz?» «Welcher Schatz?» «Mach schon, hilf mir suchen!» Sie stellen die Höhle auf den Kopf, heben jeden Stein, kratzen an den Wänden, bringen durch ihr Geblöke das Echo in der Höhle zum Jodeln, kein Schatz. Der Drache, gefesselt, sieht ihnen zu und feixt.

Am Ende beschliessen sie, schatzmüde, aufzugeben, und ziehen halbverrichteter Dinge ab.

Und zwar gemeinsam. Der junge Mann weicht ihr nicht mehr von der beginnend weibskurvigen Seite.

Ich schnaube wie ein Drache, als ich in meinem Orakel sehe, wie sie jemand anderes die Arbeit machen lässt und sich ohne jeden selbsterrungenen Kampfbeweis nach Hause aufmacht. Welch unglaublich aufmüpfsässige Art, meine sorgfältig für sie ausgewählte Prüfung zu ignorieren! Ich werde sie wieder fortschicken und sie kommt mir so lange nicht ins Haus, bis…

Mein Orakel piepst. Es passiert etwas. Ach! Er kniet vor ihr. Nimmt einen Ring von seinem Finger, halbedel und halbwertvoll, wie ich sofort bemerke, und gibt ihn ihr. Sie steckt in an den Ringfinger, und er bekommt das gleich goldene Glitzern wie die Zaubertrophäen ihrer Schwestern. Jetzt küssen sie einander! Jetzt gehen sie weiter!

Was soll ich tun, sie kommen nach Hause. Schliesslich stehen sie vor meiner Tür, und meine unmögliche Tochter zeigt mir ihren goldberingten Finger. Ich umarme sie, während der junge Mann im Hintergrund diskret schwiegermässig lächelt.

Drei Töchter, drei Flüche, drei Geschenke. Drei Töchter, und keine wird bleiben.

Die drei Mammutbäume in meinem Garten flechten ihre Kronen zusammen und der eine Zopf, der daraus entsteht, wächst hoch in den Himmel. Ich klettere hinauf in die Äste, wo ich einen bequemen Sitz gebaut habe, von dem ich bis zum Horizontstreifen sehe.

Etwas kommt die Strasse entlang, etwas Grosses, in eine Rauchwolke gehüllt, brüllend.

Ich brauche kein Orakel um zu wissen, dass es mich aufsuchen wird!

Mein ureigener Drache kommt zu mir.

«Kinder, geht ins Haus!» schreie ich. Er kommt näher, qualmt Feuer, faucht und brüllt.

Meine Kinder folgen mir nicht, sie rennen ihm entgegen. «Papa!» «Lass mich auf deinem Motorrad fahren!»

Als wir uns damals trennten, schon lange zu Kampfhaltung gefroren, tobte ein Gewitter am Himmel und ein Blitz spaltete den Stamm eines meiner Bäume. Stur wie eine Büffelherde zertrampelte er mein Lavendelbeet und ich zündete beissendes Bitterholz an, um ihn endgültig aus dem Haus zu räuchern.

Was will er hier?

Ich springe vom Baum und verschwinde im Haus.

Tief hinunter in den Keller in die Kräuterküche fliehe ich und werfe die Tür zu. Lehne mich dagegen. Stille.

Dann höre ich Schritte. Er kommt!