Die Malaria von Pi
Alles fing damit an, dass der Specht in Mikas Garten mit beharrlichem Eifer ein Loch in den alten Birnbaum stanzte.
Das ging ungefähr drei Tage. Es war Spätsommer und das Grün der Bäume und Sträucher begann dunkel und beunruhigend zu werden. Ein heisser Wind wehte das Laub an den fruchtbehangenen Ästen auseinander. Wir lagen, rücklings, die Arme hinter den Köpfen verschränkt und schauten in die meterhohe Krone, während Mika vom Stumpf eines Affenbrotbaumes in Südafrika erzählte, dessen Durchmesser so dick war, dass eine Bar in seinem Hohlraum Platz hatte.
«Drinnen sassen Leute an Tischen und tranken Rohrzuckerschnaps. Es war zum Totlachen.»
Dabei rollte sie sich auf die Seite, stützte sich auf den Ellenbogen und sah mich herausfordernd an. Die meisten in unserem Jahrgang sagten, Mika würde lügen, wenn sie nur den Mund aufmachte. Nun, sie hatte eine blühende Phantasie und ich fand nichts Verkehrtes daran.
In diesem Sommer hatte sie Kapstadt gesehen. Ausserdem Giraffen und Zebras, die über die Sandhügel der rosa Steppe trabten und einen Löwen, der schläfrig in der Mittagshitze dämmerte und seine gelben Augen auf sie gerichtet hatte.
Mika war eine «von», eine Adelige. Die Eltern hatten kein Geld, wie man jetzt annehmen könnte. Ihnen gehörte nur eine heruntergekommene Villa am Stadtrand von Potsdam, die sie von ihren betuchten Ahnen geerbt hatten. Ihre Eltern waren das, was man liberal nannte. Sie konnte ein und ausgehen, wann sie wollte.
Es war so anders bei ihr, als bei mir zuhause, wo die elterliche Stechuhr mich zum Mittagessen und Abendbrot nach Hause rief und Dinge von mir erwartete, die Mika nie leisten musste. Ich genoss es, bei ihr zu sein und fragte mich oft, warum sie so ein Glück hatte. Ihr Vater war bildender Künstler und beschäftigte sich vor allem mit dem Rotweintrinken.
Die Sache mit dem Lügen hatte einen Grund, der in meinen Augen ziemlich ungerecht war: ihr Name war Mika von Münchhausen. Naja, den Rest können Sie sich wohl denken. Insgeheim beneidete ich sie darum. Der Titel machte sie in meinen Augen noch verwegener, als sie ohnehin schon war. Kurz nachdem die Ferien begonnen hatten, hatte sie sich die Haare mit einer Papierschere kurz geschnitten. Es stand ihr. Jetzt umrahmte ein wilder Mopp ihr sonnengebräuntes Gesicht, aus dem ein Paar seegrüne, erbarmungslose Augen schauten.
Es war der Sommer, in dem Mika besessen von der Zahl Pi war.
Meistens streunte sie melancholisch durch das Viertel, wollte allein sein und nachdenken, bis ihr eine fixe Idee in den Sinn kam, von der sie dann pausenlos und ziemlich erschöpfend redete.
Als der Specht am dritten Tag sein Werk vollendet hatte, ging sie auf das Loch im Baum zu und starrte eine ganze Weile schweigend hinein.
«Es ist doch zu merkwürdig.»
Träge schlürfte ich an der Limonade, die ihre Mutter für uns gemacht hatte und sah zu, wie sie die Behausung des Vogels studierte.
«Was ist merkwürdig?»
«Ein nahezu perfekter Kreis.»
Der Vogel lugte verstohlen aus seinem Versteck.
«Vielleicht nur fürs Auge?» entgegnete ich.
Sie rannte ins Haus und kam kurz darauf mit einem Zollstock zurück. Der Specht tat mir leid. Er flog zeternd in die Baumkrone und pickte nervös an einer überreifen Birne. Ich hatte den Eindruck, das er kiebig auf ihre Aktivitäten an seinem Loch schielte. Mika begann, das Loch auszumessen. Von oben nach unten, von schräg rechts nach schräg links und umgekehrt. Sie kam dabei zu einem verblüffenden Ergebnis.
«Vollendet.»
Ich erhob mich müde und überprüfte es. Es stimmte tatsächlich. Der Vogel hatte einen vollkommen runden Kreis in den hohlen Stamm gehämmert.
«Kann Zufall sein.»
Sie verzog das Gesicht zu einem ungläubigen Grinsen.
«Es könnte doch auch sein, dass die Kreisform eine Bedingung ist. Er wäre nicht hier eingezogen, wenn es kein Kreis geworden wäre.»
«Du spinnst.»
«Der Umfang des Kreises im Verhältnis zum Durchmesser ergibt die Zahl Pi», verkündete sie gewichtig. «Es ist doch möglich, dass der Vogel über ein Wissen verfügt, von dem wir keine Ahnung haben.»
«Mmh. Kann sein.»
Ehrlich gesagt, ich zweifelte daran. Mika begann, pausenlos darüber nachzudenken. Ich belächelte innerlich ihr Halbwissen über die Geometrie, sagte ihr aber nichts davon. Ausserdem hatte ich den Eindruck, dass sie von mir eine Rückversicherung zu mathematischen Fragen erwartete, was mir eine Unentbehrlichkeit bei ihr verschaffte. Ich verstand Mika nicht.
Aber das war egal. Ich wollte mit ihr zusammen sein. Ein paar Tage später, wir hingen auf der Wiese vor der Villa herum und assen Minz-Eiskrem mit Schokoladensplittern, bekam Mika plötzlich Fieber. Ein Fieber, das sich schüttelnd und gelblich ankündigte und dann von ihr Besitz ergriff wie ein verrückter Dämon. Nach einer Stunde sah sie so seltsam aus, dass ich Angst bekam. Ich lief ins Haus und holte ihre Mutter. Mika wurde ins Bett gelegt und ein Arzt kam, der mit besorgter Miene das Zimmer verliess und eilig aus dem Haus verschwand. Wir durften den Raum nicht betreten. Die Eltern waren sonderbar, was Krankenhäuser anbetraf. Sie wollten nicht, dass Mika mit dem Rettungswagen abtransportiert wurde und bestanden darauf, dass sie im Haus blieb, bevor nicht einwandfrei festgestellt wurde, was sie hatte. Ein Krankenwagen kam und die Sanitäter, sowie die Ärztin, die jetzt ihr Zimmer betrat, blieben lange. Bangend stand ich vor der Tür. Eigentlich hätte ich längst zuhause sein sollen, denn das Abendessen war schon vor einer Stunde serviert worden, aber ich wollte bleiben, um zu erfahren, was mit Mika los war. Ihre Mutter hatte meine Eltern angerufen und ihnen versichert, dass keine Gefahr für mich bestünde, denn ich würde vor ihrem Zimmer warten. Sie liessen mich bleiben. Es war schon spät in der Nacht, als die Ärztin herauskam und verkündete, dass Mika Malaria hatte.
Damit begann der Herbst von Mikas Manie.
Mit der Diagnose wurde klar, dass die Krankheit nicht ansteckend war, und ich verbrachte jede mögliche Stunde an ihrem Bett. Zwischen den Fieberphasen langweilte sie sich und ich wollte für sie da sein, wenn sie wach war und in der Agonie ihrer Krankheit schwebte. Die Schule hatte noch nicht wieder begonnen und meine Eltern erlaubten mir, bei ihr zu sein, soviel ich wollte. Für mich war es auch eine Flucht vor dem Alltag, denn es war weitaus spannender, einer Fiebernden zuzuhören, als sich mit den anderen Kindern im Skater-Park oder am Tischtennisplatz zu tummeln. Abgesehen davon war ich in sie verliebt.
Meine Liebe erfuhr eine Erschütterung, als ich eines Morgens mit Mika eine Übung im Küssen vollführte, die sie selbst angeregt hatte. Sie hatte eine fiebrige, anstrengende Nacht hinter sich und sah wächsern aus in ihrem grossen Alkoven-Bett, das noch von ihren Vorfahren stammte. Auf dem Nachttisch stand ein digitaler Wecker, den ihr der Vater gegeben hatte, damit sie wusste, wann sie ihr Medikament einnehmen musste.
«Ich will ein Experiment mit dir machen», verkündete sie euphorisch und sah mich mit gelbunterlaufenen Augen an. Ich war froh, dass ihre Lebensgeister zurückgekehrt waren und erklärte mich bereit, für das Experiment zur Verfügung zu stehen.
«Ich stelle die Uhr auf drei Komma eins-vier-eins-fünf-neun Sekunden. Naja», lenkte sie ein, «soweit es eben geht. Die Zahl ist nicht akkurat.»
Sie drückte auf die Knöpfe des Weckers.
«Okay», nickte ich.
«Wir werden uns küssen, bis der Piepton erklingt.»
Ich war in heller Aufregung. Natürlich hatte ich seit Wochen, seit Monaten phantasiert, sie zu küssen. Und jetzt bot sie es mir geradeheraus an. Mir wurde klar, dass das Angebot einen wissenschaftlichen Ursprung hatte, zumindest für sie.
«Wenn wir es schaffen, den exakten Punkt der Zahl Pi zu treffen, könnte es sein, dass wir in die Dimension des unendlichen Kusses eintreten.»
Ich sah sie mit grossen Augen an. Natürlich. Sie hatte recht. Der unendliche Kuss konnte nur über die Zahl Pi erreicht werden.
«Komm näher», sagte sie, während ihre Finger auf der Taste des Weckers ruhten. Ich bemerkte nicht, wie sie punktgenau den Knopf drückte, denn ich war zu beschäftigt mit der süssen Erfahrung, die ihre zarten Lippen auf meinen erzeugten. Ich küsste Mika von Münchhausen für drei Sekunden irgendwas, und der Piepton zerriss jäh den Anklang unserer Berührung. Ich hatte gehofft, dass ihre Lippen sich öffnen würden und meine Zunge zwischen ihre Lippen gleiten würde, doch dafür war keine Zeit.
«Stop!»
Sie schien sich darüber zu ärgern, dass ich das Küssen nicht abrupt beendete, so wie es geplant war.
«Du bist nicht bei der Sache», ermahnte sie mich.
«Lass es uns nochmal versuchen.»
Wir taten es erneut, doch meine Hingabe schien sie nicht von der Aufgabe abzulenken. Ich versagte. Sie fluchte und begann schliesslich, vor Wut zu weinen.
«Sei doch nicht böse.»
«Du scheinst nicht zu verstehen, worauf ich hinaus will», entgegnete sie empört. «Wir könnten die Dauer eines Kusses, der 3,14159 Sekunden anhält und in die Ewigkeit eingeht, haargenau treffen.»
«Und dann?» fragte ich ratlos.
«Stell dir doch vor. Man würde sich ewig geliebt fühlen.»
Ich war ziemlich beeindruckt von ihrer Vision, auch wenn ich sie nicht für wahrscheinlich hielt. Dass sie diese Erfahrung mit mir machen wollte, machte mir Mut.
«Wir wären Helden.»
Helden zu werden, durch einen Kuss, den ich mit Mika von Münchhausen tauschte, war alles, was ich wollte. Wir übten bis spät in die Nacht, aber der unendliche Kuss wollte nicht über uns kommen. Es betrübte mich, sie zu enttäuschen. Abends kam das Fieber zurück und sie redete von rosafarbenen und blauen Stiften, die in geschwungener Schrift herrliche Aufsätze verfassten.
Am nächsten Nachmittag besuchte ich Mika wieder. Sie war in besserer Verfassung, das Medikament schlug an und sie schien mir nicht mehr böse zu sein. Ihre Mutter erzählte mir mit Besorgnis, dass Mika begonnen hatte, runde Flächen abzulecken. Der Vater lachte dabei im Hintergrund. Er schien es für eine künstlerische und wenig beunruhigende Macke zu halten. Mika selbst begründete diese Passion mit der Erforschung von Pi, der Unendlichkeit des Kreises. Sie war wiederhergestellt, die Malaria hatte, wenn sie auch nicht bezwungen war, keine Macht mehr über sie.
«Ich habe über Dinge im Kreis nachgedacht», verkündete sie, als die Eltern uns allein liessen.
«Den Inhalt des Kreises?»
«Unter Anderem», nickte sie, während sie ihre Hafersuppe löffelte. «Getränke in Gläsern, Glühbirnen, Räder, die Dinge befördern. Lichtschalter.»
«Du hast im Fieber von Stiften geredet. Rosa und hellblau.»
Mika nickte.
«Ja. Sie hat eine schöne Schrift.»
«Wer?»
«Susanne Schubs.»
Mika sass neben Susanne Schubs, in fast allen Fächern. Ich hatte mir darüber nie Gedanken gemacht. Es war eben so. Sie erzählte mir, dass Susanne Schubs sie am Morgen besucht hatte.
«Ach?» bemerkte ich erstaunt.
«Wir haben das Experiment gemacht.»
«Welches Experiment?»
«Das mit dem Küssen.»
Ein Stich fuhr in mein Herz und ich sah sie bestürzt an.
«Du meist, Du bist mit ihr in den Kreis des unendlichen Kusses eingetreten?»
Sie nickte. Mir war klar, dass dieses Experiment keinerlei wissenschaftlich belegbare Tatsachen barg. Es war lediglich ihre Wahrnehmung, die das Ganze begründete. Das machte es umso enttäuschender für mich. Mikas Ziel, sich unendlich geliebt zu fühlen, wurde offenbar durch den Kuss mit Susanne Schubs erreicht. Ich blieb nicht lange an diesem Nachmittag. Sie schenkte mir ihren Wecker, mit den Worten, dass sie ihn nun nicht mehr brauchte. Vielleicht hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie meine Enttäuschung spürte.
Kurz darauf begann die Schule wieder und ich sah Mika nur noch selten.
Die Idee des unendlichen Kusses verfolgt mich bis heute, obwohl es fast zwanzig Jahre her ist. Ich weiss nicht, was aus Mika geworden ist, aber ich denke oft an sie, wie an einen lebendigen Schatten meiner Kindheit, den ich ein ums andere Mal hervorziehe, ihn betrachte, mich frage, ob ich durch ein anderes Verhalten meinerseits ihre Liebe gewonnen hätte, oder ob es vorbestimmt war, wie die Magie der Zahl Pi, die ich immer mit Mikas verrücktem Herbst der Malaria verbinden werde, und die sie schliesslich zum ewigen Kuss mit Susanne Schubs führte, die schöne Stifte hatte und von deren Existenz in Mikas Herzen ich nichts ahnte.
Damals begegnete mir zum ersten Mal das ungreifbare Wesen der Liebe.