Februar 2006

Die Reizung

von Sabine Imhof
Jahresthema: Bildbeschreibung
Monatsthema: Zu Camille Corot, «Le pont de Nantes»

Alle haben sie mich ausgelacht. Ausgerechnet Frankreich! Haben sich halb tot gelacht und Sprichwörter entstaubt. Sag niemals nie. Weil ich immer gesagt habe, da würden mich keine zehn Pferde hinkriegen, nie im Leben, nicht mal, wenn Frankreich nach dem Untergang der Welt als einzige Insel übrig bliebe. Weiss auch nicht genau, warum. Vielleicht genetisch bedingt. Vielleicht eine nicht allzu behindernde Erkrankung. Frankophobie, so habe ich sie benannt, als ich sie zum ersten Mal bemerkt habe. Durch allergische Reaktionen. Ich muss mich dann überall kratzen. Einmal hat mich einer im Flugzeug auf Französisch angemacht, und ich hab mich am Nacken und an der Kopfhaut gekratzt und gesagt, je ne parle pas cette langue là. Ich mag natürlich auch keine französischen Männer, weil die einen immer zuerst von unten ansehen und dann ganz langsam und ganz offensichtlich, fast andächtig, mit dem Blick nach oben wandern bis sie zu den Augen gelangen, und in die schauen sie ganz tief rein, so à la Alain Delon, wobei das der einzige Franzose ist, den ich jemals gemocht habe, vielleicht deshalb, weil ich ihn nie französisch hab sprechen hören, sondern ihn immer nur auf ARD gesehen hab. Synchronisiert. Von dem hatte ich sogar ein Poster an der Wand, früher. Aber sonst mag ich überhaupt nichts Französisches, weder diesen Schonwaschgang in der Stimme, die kleinen Portionen, die dort auf den Tellern liegen, und erst recht nicht die französischen Filme, in denen alle immer schweigen, weil sie so viel nachzudenken haben, während sie sehr in sich gekehrt, sehr gequält dreinschauend auf einer Fensterbank sitzen. Meistens zu einer Stunde des Tages, die kein Uhrzeiger fassen kann. Und wenn sie aufstehen, die Filmfranzosen, gehen sie nicht, sondern schweben über den frisch gebohnerten Parkettboden, und haben immer nur Unterwäsche an, und auf dem frisch gebohnerten Parkettboden liegt auch Unterwäsche rum, ganz kleine Höschen immer, alle dreckig. Und sie sind nicht nur im Film so. Ich hatte mal einen Freund, der vor mir eine Französin liebte, und die verteilte ihre Slips auch in der ganzen Wohnung, einfach so, manchmal lagen sie sogar auf dem Herd. Und mein Freund fand das sexy. Vielleicht ist er deshalb wieder zu ihr zurückgegangen, oder weil ich mich geweigert habe, ihm beim Liebemachen «etwas auf Französisch» ins Ohr zu hauchen. Er fand mich zu vulgär, hat er gesagt. Aber wahrscheinlich hat er mich einfach nicht geliebt, und mit Sprache hat das rein gar nichts zu tun.

Vielleicht habe ich mich deshalb in Julien verliebt. Julien, der französisch spricht, französisch isst, französisch die Beine übereinander schlägt und obendrein auch noch Franzose ist. Aus Nantes. Ausgerechnet ein Franzose! Alle haben mich ausgelacht und sich dabei an den unterschiedlichsten Stellen ihres Körpers gekratzt. Tja, habe ich nur gesagt, jedes Mal. Tja. Und mich nirgendwo kratzen müssen. Wir haben uns in einem Flugzeug getroffen, irgendwo über dem Atlantik, sehr weit oben, er sass neben mir und ist sich immer mal wieder über sein unrasiertes Kinn gefahren, ein Geräusch, das mich sehr aufregt, aber auf eine sehr angenehme Art. Anzieht. Vielleicht hat er es absichtlich getan. Wir haben nicht gesprochen, nur das typische Flugnachbarlächeln ausgetauscht, wenn ich aufs Klo und er deshalb aufstehen musste. Erst als der Pilot einen Witz gemacht hat, über die Lautsprecher, den niemand lustig zu finden schien ausser uns, hat er zu sprechen begonnen, miserables Englisch, und hat mich gefragt, ob ich Französin sei. Ich errötete und fragte, wieso. Mais, you look like French girl, sagte er. Sicher nicht, habe ich gesagt. Auf Deutsch. Das wüsste ich aber. Meine Handgelenke, zum Beispiel, meinte er und berührte sie leicht, weil er nicht wusste, wie man die auf Englisch nennt. Und ich weiss nicht, warum ich dann nicht meine Augen verdreht und meine Hand unter der dünnen Decke versteckt habe.

Irgendwann eine Postkarte, aus Nantes. Mit Brücke vorne drauf. Sehr impressionistisch, sehr französisch. Eine zum an den Kühlschrank kleben, mit der beschriebenen Seite nach oben. Er schrieb in seiner Sprache. Und ich habe sie gelesen. Mein Französisch ist sehr gut, kann auch nichts dafür. Musste gelernt werden, früher, und später habe ich es nie geschafft, es zu verlernen. Ich roch sogar daran, an der Karte. Und habe ein leichtes Kribbeln verspürt, an einer Stelle aber, die man nicht wirklich lokalisieren kann, einer Stelle, an der man sich nicht kratzen kann. Die Brücke, die sehe er, wenn er aus dem Fenster schaue. Er wolle sie mir zeigen, bei Gelegenheit. Nicht unbedingt von seinem Fenster aus, wenn ich es nicht wolle, aber auf einem Spaziergang, nur so.
Ich habe die Karte an unseren Kühlschrank geklebt, später, viel später, in Nantes. Mit dem Bild nach oben. Ich kann ganz schön kitschig sein. Ich kaufe dieselbe Karte unten an der Ecke, wo sich zwei Strassen kreuzen, deren Namen ich nie ausspreche, weil es klingt so bescheuert, diese Sprache, als hätte man Kaugummi im Mund, der keinen Anfang und kein Ende hat. Manchmal schicke ich eine dieser Karten an alte Freunde in Deutschland, damit sie mich auslachen und mich inkonsequent nennen können. Einfach so nach Frankreich gehen. Wo sie doch immer gesagt hat… Manchmal kratze ich mich noch, aber nur, wenn niemand es sieht. Durch die Manteltasche. Durch die Hosentasche. Ich will nicht unhöflich sein. Oder nachts, wenn ich nicht schlafen kann.
Einmal ist Julien davon aufgewacht und hat gefragt, ob ich mich wieder kratzen muss, und ob das vielleicht an ihm liegen könnte. Quatsch, habe ich gesagt, wie meinst du das jetzt? Es sei möglich, er hätte mal in einer Zeitung darüber gelesen. Über eine Frau, die sich von ihrem Mann trennen musste, weil sie allergisch auf ihn war, obwohl sie ihn liebte. Und ein angesehener Arzt habe es bestätigt. Mais non, habe ich gesagt und meine Hand auf seinen nackten Rücken gelegt, für eine Weile. Siehst du, ich spüre nichts. Kein Jucken, nichts. Er hat gelächelt, ein zufriedenes, französisches Lächeln, dann schlief er wieder ein.