Ein Buch zum Hineinschreiben
Alois Stöcklin: Tagebucheinträge aus den Jahren 1937/38, herausgegeben von seinem Grossneffen D.B.
8. November
Ich mag dreissig Jahre alt sein, aber innerlich bin ich jung geblieben.
13. November
Sturzenegger unauffindbar. In seiner kleinen verdreckten Nische streckt er uns allen die Zunge heraus.
25. November
Muss mich umkleiden. Bekomme Besuch.
28. November
Er weiss viel, aber ihm fehlt die praktische Erfahrung.
4. Dezember
Diese Strickjacke ist mir zu eng. Ich brauche eine grössere Grösse.
5. Dezember
Ich schliesse Freundschaften. Sitzfreundschaften hauptsächlich.
8. Dezember
Mit meiner Gesundheit steht es nicht zum Besten. Es ist schwierig, Ersatzteile zu bekommen.
13. Dezember
Donnerwetter. Ein Brief! An mich adressiert….
14. Dezember
Madeleine heisst sie, und sie stammt aus dem Welschland.
16. Dezember
Ich warte, bis sie volljährig ist.
19. Dezember
Nein, ich warte nicht.
21. Dezember
Bettruhe, Hoffmannstropfen, Essig, Franzbranntwein, Eau de Cologne. Wo sind die Schneuztücher? In allen Schränken und Schubladen die gleiche widerstandsfähige Unordnung wie in meinem Kopf.
22. Dezember
Er hat ein ehrliches Gesicht, aber das ist auch schon alles.
23. Dezember
Sind Sie beruflich hier oder zum Vergnügen? Ich kann die Frage bald nicht mehr hören.
30. Dezember
Dunkle Winkel und Ecken sind eher unangenehm. Ein Besen hilft da auch nicht weiter.
4. Januar
Sie ist nett. Alle haben sie gern.
7. Januar
Alle haben sie gern. Spinnen wir das in die Länge, dann haben wir etwas zu tun.
9. Januar
Albert referiert am Stubentisch. «Die Erde», sagt er, «hat die Form einer Kartoffel. Und zwar darum, weil die Meeresoberfläche unter dem Einfluss der Gravitationskräfte total verbeult ist.»
10. Januar
Eiergräupchensuppe mit Rotwurst.
13. Januar
Es hat keinen Sinn zu reden. Die Zeit zum Handeln ist gekommen.
19. Januar
Kleine Selbstermahnung eines Junggesellen. Bevor du heiratest, überzeuge dich durch den Augenschein, dass die Frau, die du zu heiraten gedenkst, auf den Badezimmerfliessen schöne Fussabdrücke macht.
26. Januar
Ist man mit mehreren anderen in einem Zimmer zusammen, so kommen nicht selten Verwechslungen der Trinkgläser vor: Das ist unangenehm und unappetitlich, ja gelegentlich auch gefährlich. Man vermeidet das leicht, indem man in sein Glas den Namen einritzt.
1.Februar
Er hat viel Geld, dieser Schnösel, aber kein Benehmen.
5. Februar
Bevor ich einen Tagebucheintrag mache, wasche ich mir die Hände und lasse sie abtropfen.
9. Februar
Die meisten Menschen schreiben mit der rechten Hand. Sie können nicht anders.
12. Februar
Entweder habe ich ihn nicht wiedererkannt, weil er seine Brille nicht aufgehabt hat, oder ich habe ihn nicht wiedererkannt, weil ich meine Brille nicht aufgehabt habe. Die Angelegenheit verwirrt mich. Ich frage mich, wer oder was dafür verantwortlich ist, dass ich ihn nicht wiedererkannt habe.
14. Februar
Da beisst keine Maus den Faden ab: Er ist es gewesen. Und die Frage ist, wie ich das feststellen konnte, ohne Brille.
15. Februar
Stehen alle Stühle an der richtigen Stelle?
Das und das wäre noch zu erwägen, aber unter diesen Umständen….
16. Februar
Schon wieder ein Brief….
18. Februar
Florence, meine Freundin aus dem Welschland. Sie schreibt auf Deutsch. Wer hätte das gedacht!
23. Februar
Die Naturähnlichkeit ist und bleibt die oberste Kunstregel.
25. Februar
Alle Kleidungsstücke müssen bei Nichtgebrauch hängen, sonst werden sie knitterig.
28. Februar
Fakten und Zahlen sind das Einzige, was zählt.
1.März
Albert referiert am Küchentisch. «Die Erde», sagt er. Auf seiner offenen Handfläche liegt eine Kartoffel.
3. März
Eine zwar hässliche, aber wie man zugeben muss praktische Erfindung sind die so genannten Tropfenauffänger.
4. März
Hausmeister Nägeli hat sieben Kinder. Das jüngste hat die Halsbräune, und dem Geschrei nach zu urteilen, bekommen sie alle die ersten Zähne. Die Frau ist eigentlich ganz nett, ausser am Waschtag.
Heute Morgen im Treppenhaus. Hausmeister Nägeli fuchtelt mit der Nationalzeitung vor meinem Gesicht herum. «Wer in Zeiten wie diesen seinen Kopf gebraucht, wird ihn verlieren!» Wahrscheinlich hat er wieder einen politischen Artikel gelesen.
5. März
Die Sache liegt einfacher, als wir denken.
8. März
Auf der Sendefrequenz von Radio Beromünster hört man den Schnee knirschen. Aber bald senden sie wieder den Frühling.
10. März
Suchen wir uns eine hübsche Stelle zum Picknicken. Wie wär’s mit dem Sofa?
11. März
Ja, die Stube ist schön. Und sie ist sehr zentral gelegen.
13. März
Sturzenegger möchte mit seiner Verlobten auf meinem Sofa herumturteln. Das halte ich für unverschämt.
Nun ja, solange es nicht meine Verlobte ist.
15. März
Er fällt vom Sofa und bricht sich den Arm. Geschieht ihm recht.
16. März
Es ist überhaupt nicht nötig, beim Telefonieren in die Sprechmuschel zu schreien.
18. März
Meine Unterwäsche aus Reformbaumwolle bewährt sich spät und langsam, aber doch spürbar. Ich bewege mich jetzt viel freier, viel unbeschwerter, und ich wage es sogar, auf offener Strasse ein Schwätzchen zu halten.
19. März
Herrenabend im Ochsen. Es ist Sturzenegger, der den ersten Vorstoss macht. «Den Witz, den ich euch erzählen möchte», sagt Sturzenegger, «habt ihr bestimmt schon gehört. Es ist die Sorte Witz, die man durchgehends schon kennt. Zum guten Glück habe ich einen Ersatzwitz auf Lager.»
27. März
Ich bekomme einen Schreck, als ich einen grossen Mann auf mich zuwanken sehe.
28. März
Ein wunderschönes Öldruckbild gekauft. Es hat hunderte von Einzelheiten, und es besticht durch eine Naturtreue, die in der allgemeinen Kunstverwilderung unserer Tage eher selten anzutreffen ist.
1. April
Schon der siebte Hausierer in dieser Woche. «Besitzen Sie zufällig einen Tropfenauffänger?»
Diese Hausierer sind nicht nur zudringlich, sie bieten auch noch minderwertige Ware an. Meine Schubladen sind vollgestopft mit Tropfenauffängern, die nicht funktionieren.
3. April
Politiker halten dauernd Versprechungen, die sie nie gemacht haben.
6. April
Sie ist eine Seele von Mensch, grundgütig, immer hilfsbereit. In den Hut des Blinden wirft sie ein Bündel Rabattmärkli.
11. April
Ich fasse mich so kurz und klar wie möglich: es ist Montag.
14. April
Dass man Kaffee nicht mit Metall in Berührung bringen soll, ist hinlänglich bekannt. Aber warum erwähne ich das überhaupt?
15. April
Eine Frau von Verstand gehört in den Vorstand.
17. April
Ich nehme ein Lichtluftbad. Es unterstützt die Ausscheidungen.
20. April
Die augenblicklich herrschende Ansicht ist: ohne Lineal keine gerade Linie.
23. April
Ich schalte das Radio ein, um Nachrichten zu hören. Dann schalte ich das Radio wieder aus, und das Frequenzband erlischt.
27. April
Früher habe ich 30 Zigaretten geraucht am Tag. Aber damit habe ich aufgehört. Ich rauche jetzt 40 Zigaretten am Tag.
30. April
Ich hänge noch immer den Worten nach. Die Gäste haben sich verabschiedet, im Wohnzimmer kehrt Stille ein. Ich lüfte. Der Rauch verzieht sich wie nach einer Schiesserei.
3. Mai
Ich schreibe gern in dieses Tagebuch.
5. Mai
Warum führe ich Tagebuch? Die Antwort ist simpel. Weil ich ein Tagebuch habe, ein Buch zum Hineinschreiben. Wo Tauben sind, da fliegen Tauben zu, sagt das Sprichwort. Die fest aufeinander liegenden weissen Seiten fülle ich mit meiner schönen Sütterlinschrift. Ich habe sie lange geübt, und auch die Wortwahl habe ich geübt. Ich schaue darauf, dass mir kein ungehöriges Wort entschlüpft. Orthographiefehler sind weniger schlimm. Aber warum Tagebuch? Ist es nur des Schreibens wegen? Die Antwort ist eigentlich simpel. Das Tagebuch gehört zum eisernen Bestand einer jeden privaten Schreibstube. Solche Bücher, Diarien genannt, sind in den verschiedensten Preislagen in jeder Schreibwarenhandlung zu haben. Natürlich kann man das Tagebuch auch selber herstellen, und zwar recht billig. Man kauft sich ein dickes liniiertes Schreibbüchlein mit schwarzem Deckel und rotem Schnitt, zieht rechts vom linken Rand eine senkrechte Linie, die einen fingerbreiten Raum abschneidet, sowie eine zusätzliche Linie am gegenüberliegenden Rand. Somit hat man rechts eine Spalte offengelassen, die man für Anmerkungen o.ä. gebrauchen kann. Auf dem mittleren freien Feld wird kurz die Sache bezeichnet, um die es jeweils geht. Das kann ein Erlebnis sein, ein Gedanke, eine Beobachtung, gleichviel was, man kann sich da notieren, was man will, eigentlich kann man gar nicht so viel falsch machen. In die linke Spalte kommt das Datum. Auch die flüchtigste Bemerkung muss datiert sein.
6. Mai
Sonderbarerweise glauben sehr viele Leute, dass man, wenn es klopft, die Tür aufmachen muss. In Tat und Wahrheit klopft es meistens ganz woanders.
10. Mai
Man kann sich, ohne es zu wollen und beseelt von den besten Absichten, so unbeliebt machen, dass man zum Teufel gejagt wird.
14. Mai
Gestern beim Hutkauf. «Bevorzugen Sie irgendeine bestimmte Farbe?»
18. Mai
Sie will mich verlassen. Ich verstehe die Gründe, aber ich billige sie nicht.
20. Mai
Ich weiss nicht, warum sie mich nicht leiden kann.
22. Mai
Sie will mich verlassen? Aber wir sind doch noch gar nicht zusammen!
23. Mai
Lust auf Rösti.
28. Mai
Gestern mit Fräulein Hugendubler auf der Rheinpromenade. «Sagen Sie mir doch die Meinung!» habe ich ausgerufen. «Ich habe nämlich keine.»
3. Juni
Die nötigen Anstalten sind getroffen. Ich setze mich hin und schreibe. Und bin schon fertig damit.
4. Juni
Diese Frau hat einen Kartoffelkopf. Das macht sie unwiderstehlich.
6. Juni
Florence und ich haben Ringe getauscht. Sie ist jetzt meine derzeitige Verlobte. Jeden Mittwoch gehen wir zusammen an den Säulimärt in Sursee.
9. Juni
Hoppla, wer kommt denn da angetanzt? Sturzenegger?
Fehlanzeige. Es ist Wipf.
13. Juni
Der Ausdruck Verschlimmbessern geht, wie man weiss, auf Lichtenberg zurück, nicht auf Sturzenegger.
18. Juni
Hosenstrecker sind aus zwei Gründen unpraktisch: Erstens wird der Stoff durch das starke Zerren allmählich sehr mitgenommen und ruiniert, und zweitens ist die Manipulation des Einspannens viel zu weitläufig.
3. Juli
Mit Fräulein Hugendubler auf der Rheinpromenade. Ihre schrille Stimme. «Fallen Sie mir gefälligst nicht in den Arm, während ich Sie noch ohrfeige!»
9. Juli
Von hundert Menschen, die auf Reisen gehen, kehren etwa siebzig nach drei Stunden wieder zurück.
12. Juli
Befasse mich mit der Volkswohlfahrt. Es soll uns ja schliesslich allen gutgehen.
14. Juli
Wer sich zuviel schneuzt, zwingt das Blut heraus.
16. Juli
Was ist das für ein Mensch? Sein Kopf auf dem gestielten Hals ist frei beweglich. Staunenswerte Anpassungsgabe!
20. Juli
Dieser Mann führt ein ruchloses Leben. In der Kinematothek befummelt er seine Sitznachbarin.
23. Juli
In warmen Nächten verlassen die Menschen manchmal ohne Zwang ihre Betten und stürmen in die Welt hinaus.
26. Juli
Ich verdunkle die Zimmer, damit die Sonne an den Schränken und Tischen keinen Schaden anrichtet.
3. August
Vor dem Spiegel übe ich meine Mimik für den Katastrophenfall. Wie soll man sich verhalten, wenn das und das passiert? Wenn eine Bombe auf dich zufliegt, zum Beispiel, ist es am besten, du lässt dir überhaupt nichts anmerken.
4. August
Schon wieder Sturzenegger.
8. August
Wenn ich auf dem verstimmten Klavier das hohe Cis anschlage, fahren die Küchenschaben wild durcheinander.
12. August
An meinem Hemd ist ein Knopf abgegangen.
13. August
Gestern Abend mit Oberleutnant Kählin in der Hasenburg. Er war wütend auf mich. «Kannst du dummer Esel nicht Obacht geben? Jetzt hast du mich schon zum zweiten Mal geduzt!»
20. August
Wenn man immer auf den Beinen ist und etwas macht, dann sehen einem die Leute am wenigsten an, dass man ein fauler Hund ist.
22. August
Er kennt keine Scham. Er kennt nur die Wissensbereicherung.
25. August
Sie ist immer noch böse auf mich, obwohl ich mich für mein Benehmen entschuldigt habe.
28. August
Sofern einem nicht die Handlungsfähigkeit entzogen ist, kann man jederzeit das Fenster aufmachen und frische Luft hereinlassen.
29. August
Wurmtreibende Mittel kaufen!
1. September
Habe mein Sofa in Reparatur gegeben.
3. September
Ohne mein Sofa bin ich wie ein Cowboy ohne Pferd.
6. September
Schon wieder einer von diesen Fragebögen. Fangen wir mit ein paar leichten Fragen an, bevor wir uns den schwierigen zuwenden.
9. September
Das Röhrenradiogerät schweigt.
12. September
Dort in der Ecke ist etwas gefangen. Es wackelt und zuckt, jammert und schreit. Ein langmähniges Etwas. Seit Sturzenegger auf meinen Hund gekotzt hat, ist mein Hund sehr menschenscheu.
13. September
Albert hat auf dem Sofa Platz genommen. Wie immer sind seine Hosentaschen voller Überraschungen. Im Moment, da sich die Stube samt Inhalt um die waagrecht liegende Achse dreht und Albert zur Höhe H über dem Erdboden angehoben ist, verlässt eine Murmel der Masse m seine Hosentasche, durchschlägt die Stubendecke und kullert auf die Strasse.
Frage: wie weit rollt die Murmel, bevor sie stillsteht?
14. September
«Bei allen Berechnungen», sagt Albert, «kann die Luftreibung vernachlässigt werden.»
23. September
Fräulein Hugendubler auf meinem Sofa. Sie fängt an, etwas zu sagen, o ja, sie sagt etwas, und dann redet sie weiter und hört nie wieder auf.
28. September
Wie ich aus gut unterrichteten Kreisen erfahren habe, hat sie sich heimlich mit einem WC-Sitzfabrikanten verlobt.
30. September
Ein Klempner muss her. Das immer wiederkehrende Geräusch der fallenden Tropfen ist auf die Dauer unerträglich, es kann einen um die Nachtruhe bringen, ja rasend machen.
4. Oktober
Im ganzen Land wird es niederschlagsfrei und sonnig sein.
9. Oktober
Ich lege mich ins Bett und habe einen Traum. Ich erwache, stehe auf, und der Traum geht weiter.
13. Oktober
Flecken, die durch reguläre Abnützung, das heisst durch Gebrauch entstehen, fallen nicht auf, wirken auch nicht unschön.
Ganz anders ist es bei Moderflecken.
21. Oktober
Es ist ja nicht jedem gegeben, amüsante Anekdoten zu erzählen, zu musizieren oder etwas vorzutragen, aber man kann sich wenigstens bemühen, nicht zu stören.
23. Oktober
Auf der Strasse, auf dem Postamt, in der Vereinskanzlei. Die Leute schauen mich an, als wüssten sie, dass ich sie in meinem Tagebuch erwähne.
Ich erwähne also diese Leute. Es wäre unlogisch, würde ich es nicht tun.