Ein rotes Tor
Sommer 1999
Grossvater, Grossmutter, eine Krankenschwester, ein Dorflehrer und zwei Kinder leben im Haus hinter dem roten Tor.
Grossvater und der grosse Garten. Grossvater war klein im grossen Garten.
Du lagst auf dem harten Bett mit dem gestickten Überzug in der Sommerküche. Grossmutter machte die Glastüre zu und sagte mir, ich solle nicht hinein gehen. Sie blickte mir nicht in die Augen und sagte es verärgert im Vorübergehen. Ich wusste nicht, weswegen sie verärgert war. Am Morgen hatte sie in der Küche Konfitüre gekocht. Noch roch es süss nach Aprikosen. Auch im Hof. Die Sommerküche ist der kälteste Platz des Hauses. Die Sommerküche ist der Ort des weissen Schrankes, der Porzellantassen, der blauen Fahrräder und des Kartoffelsacks mit den Schätzen aus unserer Kindheit. Es ist der Ort kleiner Vergangenheiten, welche von einer Staubschicht unter Verschluss gehalten werden. Und es ist der Ort für den Grossvater, wenn die Grossmutter verärgert ist.
Ich betrete die Küche. Es riecht nach Schnaps.
Du liegst auf dem Bett, spielst mit der Mütze in den Händen, mit meinem Namen im Mund und lächelst. Ein Goldzahn. Der Schnaps hat dir Anuschka – Màrika – süsse Tochter – meine Tochter auf die Zungenspitze und die Lippen gebrannt.
Aus dem Kartoffelsack hängt das braune Ohr eines Stoffhasen.
Wir sitzen in der Küche und lauschen Grossmutters Geschichten. Vor uns auf dem Tisch Gläser mit selbst gemachter Limonade. Der Fliegenvorhang perlt gegen den Türrahmen. Am Nachmittag war der Fliegenvorhang das lange Haar einer Prinzessin gewesen. Ich hatte das Haar zu einem Zopf geflochten. Auf der roten Treppe, in der Hitze des Nachmittags und zwischen Klängen eines Kinderliedes. Ich summte das Lied. Und ich summte nicht allein. Auch Zuckerdiebe summten. Sie stahlen sich zwischen Zopf und Türrahmen in die Küche und setzten sich dort auf das Gebäck der Grossmutter. Sie schimpfte, die Prinzessin darf nicht frisiert werden. Frisiert kann sie das Gebäck nicht schützen.
Immer wenn der Fliegenvorhang perlt kommt jemand nach Hause.
Du kommst zwischen dem vollen Haar der Prinzessin hindurch, hebst die Mütze zum Gruss und richtest die Uhr in der Ecke.
Deine Augen blinzeln Erschöpfung auf den Holzboden. Von Sonne und Feld sind deine Schultern zu einem Bogen gekrümmt.
Dann blickst du unter der Mütze hervor über den Tisch – zu mir hin. Wortlos wendest du dich ab. Du richtest die Uhr noch einmal. Die Uhr ist ein braunes Häuschen an der Wand. Aus dem Dachfenster hüpft jetzt ein nussbrauner Vogel. Kuckuck. Ich lache. Du auch. Nussbraun. Geh dich waschen, Grossvater, sagt die Grossmutter.
Farbe. Schwarzes Geld färbt deine Hände weiss, malt weisse Striche auf deine blaue Hose. Deine Nägel sind unten auch Tage danach noch weiss vom Schwarz.
Über dem Waschbecken im Badezimmer beisst die Bürste an deinen Fingerbeeren. Der Wasserhahn ist zu weit oben angesetzt. Es spritzt aus dem Becken.
Neben dem Waschbecken steht die alte Waschmaschine, welche dem Stoffhasen schäumend den Geruch aus dem Fell gequält hat. Danach spielte die Schwester nie wieder mit dem Hasen. Sie hat ihn aus ihrer Kindheit geweint. Weil sie gesehen hat, wie er vom Dröhnen der Maschine hin und her geworfen wurde. Und wie er dann, an den langen Ohren mit Wäscheklammern befestigt, tropfend im Hof hing und ohne Augen traurig in die rotgeweinten der Schwester blickte.
Im Badezimmer bleiben die Nägel trotz der schmerzhaften Bürste weiss geschwärzt.
Hinter roten Rosen sitzt du vor dem roten Tor auf deinem Schemel. Unter dem Zwetschgenbaum. Oder unter dem Fenster. Grossvater. Du blickst die Strasse hinunter der Sonne entgegen. Ein langer, dünner Stock ruht in deiner Hand und wartet auf die ersten Staubwolken. Du stehst auf.
Schafe wirbeln staubschwarz aus der goldenen Sonne. Zuerst sind sie schwarz, dann weiss. Und wenn sie weiss sind, fressen sie deine Rosensträucher. Der Stock droht den Schafen. Hufe weichen zurück und Nüstern und Blüten zwischen den Zähnen. Immer nach den Schafen folgt der Esel. Zuletzt hebt der Hirte in schwarz seinen dunklen Hut und verschwindet mit seinen drei Hunden hinter dem gelben Tor. Schafgeruch trampelt, bebt und trommelt den Rhythmus in die Luft.
Als ich mich zum Frühstück in die Küche setzte, warst du bereits wieder da. Du warst auf dem Feld bei der Kartoffellese.
Du trinkst. Das Wasser des Dorfes. Das Wasser des Dorfes ist süss.
Wer ein Mal von diesem Wasser trinkt, wird immer wieder an diesen Ort zurückkehren wollen.
Eine blaue Meerjungfrau bewegt auf deinem Oberarm ihre Flosse.
Du reichst mir den Krug.
Du verbietest mir in den Keller zu gehen. Es ist kalt, steil und die Stufen sind kaputt. Die erste Stufe gehe ich mit, dann bleibe ich stehen und halte mich fest. Ich fürchte mich. Vor dem Kellerwesen. Es kauert lauernd in der Tiefe. Dein Fuss kennt die beschädigten Stufen genau. Auch im Dunkeln. Immer wieder blickst du zurück. Du hast Angst, dass ich dir folge und hinunter falle. Ich falle nicht.
Am Nachmittag zogen Pferde den beladenen Wagen durch die Strassen. Ein Mann rief saftige Melonen in unseren Schlaf zwischen den Laken. Mit Grossmutters schwarzem Geldbeutel, ihrem Lächeln und klebendem Schlaf in den Augen rannten wir im Staub der Strasse dem Wagen hinterher. Er hielt an der Ecke, da wo die Kirche dem Marktplatz gegenüber steht.
Die Melone ist schwer, die Stufen kaputt. Das Kellerwesen. Ich hab Angst, du kommst nicht wieder. Kinderfüsse tippeln die Kellertreppe hinunter. Diese Füsse kennen die Stellen nicht, an welchen der Gnom mit seinen spitzen Zähnen gekaut hat. Ich falle. Eine raue Hand mit weissen Nägeln packt aus dem Dunkeln einen zarten Arm und zieht ihn zurück – hoch in die Luft. Die Melone poltert die Treppe hinunter. Du fluchst.
Wir essen die Melone in der Küche. Mutter hat sie mit dem Brotmesser zerteilt. Schrecken pulsiert mir auf der Zunge und im Hals – ich schlucke ihn mit dem süssen Rot der Melone.
Ein Bräutigam. Ein Matrose. Ein Soldat. Ich finde Bilder in einer Schachtel. Im Schrank neben den grünen Pastillen. Die Grossmutter steht hinter mir und sagt, dem Schönen sind sie alle hinterher gerannt.
Ich schweige. Du auch?
Sie lacht. Nein. Zu mir ist er gekommen.
Als wir das Dorf verliessen, standest du am Tor und hieltst es fest, damit es offen blieb und nicht auf den Wagen traf. Während wir hinaus fuhren, drückte dich das Tor in die Trauben.
Du hältst das Tor und du hältst die Mütze. Deine Tränen aber, die hältst du nicht. Unter dem Traubenblatt, da hab ich dich zum ersten Mal weinen sehen.
Die Kirche ist immer das Erste und das Letzte, was wir sehen. Ich schaue aus dem Rückfenster. Wir fahren die grosse Dorfstrasse entlang. Das rote Tor. Unser Haus. Das Haus der Tante. Die Familie von Ruzsa. Das Haus von Baba am Dorfrand. Die Kirche wie sie immer kleiner wird. Auch nach der Bahnschranke schaue ich noch. Ich schaue bis der silberne Turm in hohem goldenem Gras versinkt.
Im Wagen summt ein Zuckerdieb.