August 2015

Ein Sommer, der die Hitze zum Vorwand nahm, sich flegelhaft zu benehmen

von Ruth Loosli
Jahresthema: Zitat
Monatsthema: Juli bis September: «Erst die Fremdheit bringt den Kern des Selbst zum Vibrieren.» (Martin R. Dean, "Verbeugung vor Spiegeln", Jung und Jung 2015)

Martine steht mit aufgestemmten Fäusten vor ihrer Wut. Sie muss sich ausdrücken können, malen. Ich muss malen, denkt sie.

Meine Worte im Mund erwärmen und auf die Leinwand spucken. Singen, flüstern, schreien.

Nähen, ich muss nähen. Im Zickzackstich durch die Gegend rasen. Eine Wiese mit hohem Gras und ich mähe in wilder Fahrt. Die Gräser fallen büschelweise und das Rehkitz hör’ ich nicht. Seh’ nicht die Mutter, die mit Spiegelaugen durch mich hindurch schaut.

Eine Landschaft aus Wellen, aus gefallenem Gras, das innert Kürze in der Hitze zerfällt. Zerdurstet.

Später Heu und duftend, der Prozess ist gewonnen, nur das Rehkitz muss man noch aus der Wiese schleifen. Der Mutter Zitzen sind geschwollen, ihr Kind liegt tot am schmalen Waldrand. Sie beschnuppert es kurz und geht davon, in die Kühle zurück. Ein Buchfink tut nichts zur Sache, er ist seine eigene Melodie.

Das Revier der Waldtiere wird immer kleiner.

Die Rehe müssen Quartierwege durchqueren, wenn sie von einer  kleinen Wiese nahe den menschlichen Bauten in den Wald zurückkehren wollen.

***

Die Hitze schnürt ein Bündel, das wir zum Altpapier stellen. Sie trocknet die Augen aus. Die plötzliche Hitze überfordert Martine. Und sie weiss, dass sie nicht die Einzige ist, die leidet. Meine Tante sitzt oben im Haus mit dem verwilderten Garten und sitzt und schaut, denkt Martine. Sie wartet auf ihre Tochter, deren Augen operiert worden sind. Und wieder und wieder musste sie unters Messer, irgend etwas war schief gelaufen. Gestern war sie in der Notaufnahme. Die Mutter wartet jeden Tag aufs Neue auf ihre Tochter. Warten ist mein Los, sagt sie. Aber der Tod wartet nicht auf mich. Sie lacht. Der Tod ist ein fremder Geselle und gesellt sich doch öfters zu ihr, um sich mit ihr anzufreunden. Wie wird es sein, fragt sie, nicht mehr zu erwachen? Sie klammert sich an die Frage; die Frage ist leicht wie ein Luftballon und trägt sie durch den Tag. Durch die Hitze.

Noch kommt die Tochter nicht. Dafür tritt die Spitex an sie heran, grüsst, berührt sie an der Schulter. Wenn man sich an eine Person gewöhnt, kommt bestimmt am nächsten Morgen eine andere. Also nicht in die Augen schauen, man könnte sich an die Farbe erinnern wollen. Und Erinnern ist ihre Sache nicht mehr. Sie weiss davon. Sie weiss, dass sie von Dingen erzählt, die sie etwas später nicht mehr erkennt als die ihrigen.

Die Tante sitzt oben in ihrem Haus und ich etwas weiter unten bei der Stadt. Wir sind Freunde der Nachsicht, jede weiss darum, auch wenn wir vergesslich sein mögen. Es ist zu heiss, als dass ich ihr durch einen Spaziergang die Stunde verkürzen könnte. Sie wird es mir verzeihen.

Martine seufzt und holt sich ein Glas Wasser, mit dem sie eine Schlaftablette hinunter spült. Sie will unbedingt schlafen, sonst ist sie am nächsten Tag zu nichts mehr zu gebrauchen.

***

Das Auge ist der Kosmos, in den ich schaue, denkt Martine. Sie sitzt am runden Holztisch in ihrer Wohnstube und schaut aus dem Fenster. Vor ihr der obligate schwarze Kaffee, eingeschenkt aus einer Isolierkanne in eine Espressotasse, damit sie immer wieder neu einschenken kann  – sie mag die Geste der rechten Hand, die sich darum kümmert.

***

Es muss lesbar sein, sagte Valentin und seine Hand deutete über den See, an dessen Ufer sie sassen. Sie hatten eine Bank gefunden, die durch eine Baumkrone beschattet wurde; Martine fühlte sich wohl und sonnig in seiner Anwesenheit. Ja, das Herz pochte so sachte in ihrem Leib, dass sie für eine Weile den Atem anhalten konnte und wie unter Wasser eine Korallenlandschaft betrachten.

Später fühlte sich der Abschied leicht wie ein Schmetterling an und schwer wie sein Schatten. Und noch später, als Martine vom Theater her kommend aus der S-Bahn aussteigt, ist die Dämmerung mit ihrem letzten Licht beschäftigt.

Ein kleiner Tisch mit zwei Kinderstühlen steht verlassen am Straßenrand, der Mond reicht noch nicht in diese Ecke des Quartiers, doch dies wird sich in ein oder zwei Stunden ändern.

Das hohe Gras der grossen Matte ist endlich gemäht worden und liegt in glitzernden  Wellen vor ihren Augen. Ein vollkommener Abend, der die Fremde der Gegenstände zu sich selbst besonders sichtbar zu machen scheint.

***

Martine ist daran, mit der Sprache auch das Vertrauen wieder zurückzugewinnen, doch alles Gedeihen kommt nur zögerlich voran. Sie macht so viele Rück- wie auch Fortschritte. Verliert die Wörter im Mund, ehe sie diesen verlassen haben. Keine Freundlichkeit zu viel, man könnte verletzt oder ausgefragt werden. Doch die Zeit drängt, scheint ihr plötzlich. Es nimmt alles seinen Gang, die Menschen klettern an Zäunen empor und bleiben hängen oder werden wütend oder krank. Es muss wieder eine Mitte geben, eine Ausrichtung auf die Menschlichkeit, denkt Martine und sie weiss beim besten Willen noch nicht, wo ihr Platz sein kann in dieser Entwicklung. Sie braucht ein Schlückchen Mut, ein Tablettchen Zuversicht und weiss doch, dass dort die Lösung nicht zu finden ist. Aber für heute gibt es beides: Einen Schluck Wermuth und zwei weisse „Tu recht gut“, die den Rachen hinunterschwimmen, als würden sie laichen gehen.