Ein unerträglicher Zustand
Unter der Tür schimmert Licht durch. Das ist ein unerträglicher Zustand. Im gelblich, länglichen Streifen Lichts, das da unter der Tür hervorquillt, sieht er die Zeitung auf dem Holzboden liegen. Eine Zeitung mit uralten Informationen von gestern, oder vorgestern oder vorletzter Woche. Er hebt sie auf, setzt sich genau an die Kante von Licht und Schatten auf die dunkle Seite des Holzbodens, lehnt den Oberkörper an die Raufasertapete, entfaltet das Titelblatt und knüllt es zu einer langen Zeitungswurst zusammen. Dann schiebt er diese mit den Zeigefingern in den Spalt zwischen Tür und Boden. Doch das Licht ist tückisch, es schlägt überall durch, es quetscht sich an der zusammengeknüllten Zeitung vorbei. Er nimmt ein weiteres Blatt, dreht es fest zwischen den Händen und stopft es zum ersten. Auch zwei Zeitungsblätter sperren das Licht nicht zur Gänze aus. Mit dem kleinen Finger der rechten Hand pult er die Zeitung wieder heraus aus dem Spalt, lässt die zwei Papierwürste achtlos im Lichtquadrat liegen, wo sie einen länglichen Schatten werfen. Die Deckenbeleuchtung will er nicht betätigen, obwohl der Schalter genau über seinem Kopf angebracht ist und er nur den Arm zu heben bräuchte – aber das kommt nicht in Frage. Das ist ausgeschlossen. Ausserdem kennt er den Raum gut genug, um zu wissen, dass er hier nirgendwo geeignetes Material finden wird, um diesen Lichtschimmer auszusperren. Behutsam streicht er sich mit dem Zeigefinger über die Augenbraue, sodass die kleinen Haare seine Haut kitzeln und es dieses seltsame Geräusch macht, das er so gern hat, dann zieht er sich an den Brauen, gerade so viel, dass es ein wenig schmerzt, und dann hat er eine Idee. Er entfaltet ein weiteres Blatt der Zeitung, reisst einen schmalen Streifen ab und steckt ihn in den Mund. Das Papier ist zäh zwischen seinen Zähnen und widerspenstig, aber er schiebt es hinten zwischen seine Backenzähne und kaut es zu einem nassen Klumpen, dann steckt er sich einen weiteren Zeitungsstreifen in den Mund. Immer wieder muss er Speichel sammeln. Es ist, als würde das Zeitungspapier alles Wasser aus ihm heraussaugen. Das Papier in seinem Mund hat sich in eine Masse verwandelt und er schiebt es ganz vor auf seine Zunge, nimmt es zwischen Daumen und Zeigefinger, drückt es etwas in Form und schiebt es kräftig in den Spalt. Und tatsächlich, die Licht- Schatten-Kante verschiebt sich ein wenig zugunsten des Schattens. Er fährt fort mit Einspeicheln und Formen und Abdichten. Manchmal hält er sich den Kiefer und massiert die Muskulatur mit zwei Fingern – denn das Kauen ist harte, ungewohnte Arbeit. Als Säugling, denkt er, hatte ich wahrscheinlich relativ zum Rest meines Babykörpers die meisten Muskeln in den Wangen und der Zunge. Das Saugen an der Mutterbrust ist sicher ein unglaubliches Muskeltraining, Training überlebenswichtiger Muskeln: kein Saugen, kein Essen, kein Leben. Doch ab dem Tag des ersten Babybreis haben sich die Muskeln in meinem Mund zurückgebildet, so wie der Körper alles zurückbildet, was nicht lebensnotwendig ist. Die Muskeln, das Wissen, das Fühlen – der ganze herausforderungslose Mensch schrumpft in sich zusammen, denkt er und schüttelt den Gedanken gleich wieder ab, der eine unliebsame Herausforderung für sein Gehirn wäre. Die Trägheit ist ein Perpetuum Mobile. Die Lethargie füttert sich selbst mit Lethargie und wo soll das enden? Endet das? Das Kauen endet, denn es ist ausreichend Zeitungsspeichelmasse in den Zwischenraum gestopft, dass kein gelblicher Schimmer mehr hervordringt. Seine Zunge klebt pelzig im Mund, wahlweise – je nach Zungenstellung – am Zungengrund oder am Gaumen. Es schmatzt, wenn er die Zunge bewegt. Er hat fürchterlichen Durst. Er lässt sich seitwärts an der Wand abgleiten, die Raufasertapete kratzt ihm kurz und angenehm den Rücken. Gut, denkt er, dass ich hier die Raufasertapete nicht abgerissen habe, wie im Rest der Wohnung. Abgerissen hat er sie aus ästhetischen Gründen – Raufaser ist so altbacken. Aber momentan bewertet er, auch angesichts der Lichtverhältnisse, nicht nach ästhetischen Kategorien. Er liegt seitwärts auf dem Boden. Er versucht dem Durst nicht nachzugeben. Dazu lenkt er all seine Konzentration auf seinen Brustkorb, der sich beim Atmen gegen den harten Holzfussboden wölbt. Der Durst wird sehr mächtig und ihm ist sehr übel. Mit einem jammernden Geräusch steht er auf, er ist ein Versager im Ringen mit dem eigenen Körper. Tastet in der Dunkelheit nach der Türklinke, stellt sich mit einem unerwartet tiefen Schmerz vor, wie er die eingespeichelte Zeitung beim Öffnen der Tür in den Raum hineinschiebt, öffnet die Tür, geht durch das Wohnzimmer, wo das gelbe Licht brennt, das ihn blendet, stösst sich darum das Knie, hat Knie- und Augenschmerzen, füllt in der Küche ein Glas mit Wasser, das trüb ist und widerlich aussieht, stürzt das Wasser herunter, leert dann ein zweites Glas und stellt bei einem Blick in den Spiegel fest, dass Mund und Zunge schwarzblau sind; gefärbt von der Druckerschwärze. Vielleicht habe ich mich vergiftet, denkt er. Vielleicht. Aber wenigstens war da kein einziger winziger Lichtschimmer mehr unter der Tür, und er lächelt ein breites, schwarzes Lächeln.