Es wäre schön
Es wäre doch schön, sagte meine Mutter gerne, es wäre doch schön, wenn wir, wie andere Familien auch, einfach mal zusammen einen Ausflug machen könnten. Oder, es wäre doch schön, wenn wir uns einmal wie ganz normale Menschen unterhalten könnten. Sie sah dann mit Bedauern und Mitgefühl in die Runde, sie sah wohl so etwas wie Rollstühle und Krücken und uns den Mund verklebende Pflaster klar und deutlich vor sich und manchmal sagte sie dann ein abschliessendes: Schade!
Wenn meine Mutter einen schlechten Tag hatte, dann sagte sie nicht, es wäre schön, dann sagte sie, mit euch. Mit euch kann man nicht ein vernünftiges Wort wechseln, mit euch kann man keinen Schritt vor die Tür machen. Mein Vater gehörte nicht immer, aber meistens zu «euch». Wenn er nicht zu «euch» gehörte, sagte sie auch, aber das war nun wirklich selten, «denen». Das war gut für meinen Vater und schlecht für uns. Gut für uns wiederum war, dass jeder von uns seine schrecklichen, jede soziale Aktivität behindernden Eigenschaften verlor, wenn er alleine war. Allein, ohne die anderen, war jeder von uns ein ganz normales Kind. Jeder von uns hatte Freunde, besuchte die Schule, zwei von uns waren auf der Strasse gerne gesehene Fussballspieler und Thorsten, für den das nicht galt, war immerhin ein vorbildlicher Messdiener. Vielleicht lag es an den Wundergeschichten, die er in der Kirche immer zu hören bekam, dass Thorsten, der älteste von uns dreien, den meine Mutter Kai nannte, weil mein Vater ihn gegen ihren Willen bei der Behörde als Thorsten hatte eintragen lassen, dass ThorstenKai dem Glauben verfiel, es müsse uns doch auch gemeinsam möglich sein, was jeder Einzelne vermochte – normal zu sein. Denn selbst meine Mutter fand uns Einzelne ja zunächst normal, jedenfalls wenn sie keinen schlechten Tag hatte. Jeder hatte von ihr schon den Satz gehört, man kann ja auch ganz normal mit dir reden. Das überraschte sie immer wieder und in unterschiedlicher Intensität, nur bei ThorstenKai schien sie sich manchmal daran erinnern zu können, dass ihr dieser Sachverhalt bereits früher einmal aufgefallen war.
Manchmal hörte ThorstenKai ganz ohne Einwirkung meiner Mutter auf, einer von «euch» zu sein, und wurde ein anderer, auch wenn Alexander und ich anwesend waren. Zunächst passierte das nur abends, wenn wir im Bett lagen und Alexander und ich in hysterische Zustände gerieten, weil wir mit unseren irrsinnig komisch aussehenden Zehen wackelten, was uns in immer neue Lachanfälle geraten liess, aus denen wir selbst in den wenigen Momenten nicht herausfanden, in denen wir das versuchten. ThorstenKai sagte dann: denkt doch mal an Mutter, oder: ich glaube manchmal, Mutter hat Recht oder er rief: hört schnell auf, ich habe Mutter gehört.
Da ThorstenKai, wenn er so etwas sagte, nicht mehr einer von «euch» war, sondern aus ihm so etwas wie eine kleine Mutter wurde, verhielten wir uns dann auch so wie unserer grossen Mutter gegenüber – wir sagten nichts. Aber da ThorstenKai der Klügste von uns dreien war, konnte er manchmal uns gegenüber verbergen, dass er sich mal wieder in eine kleine Mutter verwandelt hatte, er lag dann im Bett und sagte, wenn wir beiden vor uns hinstarrten oder schaukelten oder uns ausmalten, wie es wäre, wenn wir einmal einen ganz normalen Ausflug machen könnten oder ins Schwimmbad gehen oder in einen Zoo, dann sagte er, wollen wir es ihr nicht mal so richtig zeigen? Und wir fielen natürlich darauf rein, denn so wie er das gesagt hatte, konnte kein Mensch oder zumindest keiner von uns beiden auf die Idee kommen, dass er gerade keiner mehr von «euch» war.
Wie denn zeigen, fragte einer von uns zurück, denn was wir zeigen sollten oder könnten oder müssten, wussten wir natürlich sofort – es konnte sich nur um ThorstenKais ehrgeizigen Normalitätsbeweis handeln. Wir könnten, sagte ThorstenKai dann, wir könnten uns doch einmal einen Tag lang ganz normal verhalten und obwohl es dunkel war im Zimmer merkte er, dass er da ins Grenzgebiet geraten war und dann, fragte ich und ThorstenKai gab keine Antwort und irgendwann schliefen wir ein, ohne noch etwas gesagt zu haben und nur ThorstenKai dachte vielleicht noch darüber nach, wie er sich besser tarnen könnte.
Ich weiss nicht mehr, wie viel Zeit ThorstenKai vergehen liess, bis er den nächsten Versuch unternahm, aber es werden schon einige Wochen gewesen sein und er wird zwischendurch auch ein paar freche Töne geschwungen haben, um unser Vertrauen in die Grenzen zu festigen. Es war mittlerweile so, dass Alexander und ich schon tagsüber in nicht enden wollendes Gelächter ausbrachen, wenn wir an unsere verkrüppelten Zehen nur dachten und wie wir sie langsam unter der Decke zum Vorschein kommen liessen und es war so, dass uns die Vorhaltungen unserer Mutter, ihr Augenverdrehen, ihr Händefalten und zur Decke Starren, und selbst ihr theatralisches Ohrenzuhalten kaum noch etwas ausmachten, denn es war mittlerweile ebenfalls so, dass unsere Mutter nicht mehr mit uns redete. Also nicht nur nicht mit uns redete, wenn wir alle zusammen waren, das war ja fast immer so gewesen, sondern, dass sie auch nicht mehr mit uns redete, wenn wir Einzelne waren, jedenfalls nicht mit uns beiden und mit ThorstenKai auch nur heimlich. Wir waren überzeugt, dass die Heimlichkeit von unserer Mutter ausging und ThorstenKai also nichts dafür konnte, aber ganz sicher waren wir natürlich nicht. Es war recht geschickt von ThorstenKai, dass er uns seinen Vorschlag nicht abends im Bett unterbreitete, sondern an einem ganz gewöhnlichen Nachmittag unten auf der Strasse. Er war auch nicht extra zu uns gekommen, was uns vielleicht misstrauisch gestimmt hätte, denn wir wussten ja, dass ThorstenKai sich nicht gerne auf der Strasse aufhielt, ja dass er die Strasse mied, wann immer er konnte. Er kam von einer Jugendgruppe der Gemeinde und blieb stehen, als er uns sah, was zwar ungewöhnlich war, was wir uns aber damit erklären konnten, dass kein anderes Kind in der Nähe war, weil gerade der Eiswagen in der Parallelstrasse geklingelt hatte und die anderen Kinder unterwegs zu ihren Müttern waren, um Geld zu holen, zu erbitten oder zu erquengeln. Ich habe eine Idee, sagte ThorstenKai und schaute hoch zu dem Küchenfenster, aus dem unsere Mutter uns hätte beobachten können, wenn sie es denn gewollt hätte. Sein Blick, der etwas Heimlichtuerisches mit einer ärgerlich-trotzigen Note kombinierte, beeindruckte uns. Auch wir sahen also hoch, obwohl wir meine Mutter noch nie am Küchenfenster hatten stehen sehen und ich weiss noch, dass ich mich trotzdem fragte, ob wir uns nicht lieber in den Hauseingang verziehen sollten, als ThorstenKai schon sagte, wir könnten doch einfach so tun, als ob wir wirklich verrückt wären, nur so, als Spiel.
Es gab etwas an diesem Vorschlag, das uns gefiel, das uns in eine wohlige Aufregung versetzte und es gab etwas daran, das irgendwie nicht stimmte, das uns Unbehagen bereitete. Es hatte wahrscheinlich damit zu tun, dass wir uns selber manchmal verrückt fanden, dass wir dachten, unsere Mutter übertreibe zwar masslos mit ihren Anklagen und Verwünschungen und Untergangsprognosen, aber dass sie natürlich im Kern schon Recht hatte, denn das Aussehen unserer Zehen, unsere ständigen Lachanfälle, dass wir nie etwas Vernünftiges sagen konnten, wenn wir zusammen waren – all das war ja nun nicht so einfach von der Hand zu weisen. Gleichzeitig betrübte uns das nicht sehr, weil wir nie anders gewesen waren und weil es sich bei unserer Verrücktheit um etwas zu handeln schien, was nicht für uns selber, sondern nur für andere unangenehm oder irgendwie beeinträchtigend war.
Und wie sollen wir das machen, fragten wir ThorstenKai. Es hätte uns kein bisschen gewundert, wenn ThorstenKai keine Antwort gewusst hätte oder nur eine sehr vage. Aber ThorstenKai, der uns zu meiner Beruhigung mittlerweile von der Strasse weg in Richtung des Hauses gezogen hatte, gab uns sehr genaue Anweisungen. Vor allem, sagte er, denkt ihr von nun an, sobald wir mit Mutter zusammen sind, nur noch an eure Füsse. Ihr könnt sie euch auch zeigen, ja ihr könnt sogar während des Essens eure Schuhe, eure Strümpfe ausziehen und die Füsse langsam am Tischbein hochlaufen lassen. Ihr könnt dabei soviel lachen, wie ihr wollt. Ihr könnt aber auch ganz ernst bleiben. Nur reden dürft ihr nicht oder wenn, dann nur ganz unverständliches Zeug. Dass ihr nie wieder in ein Schwimmbad gehen wollt, weil ihr keine Lust habt in Erdbeereis zu ertrinken oder dass neuerdings auf dem Schulhof einer steht, dessen Kopf ein echter Fussball ist, also nicht nur so aussieht, sondern wirklich ein Fussball ist und dass der ihn sich sogar vom Hals abreissen kann und dann so ganz ohne Kopf dasteht und dass ihr schon eine ganze Pause mit diesem Ball Fussball gespielt habt, bis ein Lehrer kam, der aber nur geschimpft hat, weil man auf dem Pausenhof eben nicht mit einem Ball spielen darf.
Habt ihr Lust dazu, fragte ThorstenKai und es dauerte eine ganze Weile bis wir antworten konnten, denn zunächst hatten wir gegen unsere Sorge anzukämpfen, dass es ThorstenKai wäre, der jetzt wirklich und nicht nur gespielt und nicht nur ein bisschen verrückt geworden wäre. Aber dann lachte er, wie er noch nie gelacht hatte und das nahmen wir als gutes Zeichen und lachten mit und konnten einmal mehr gar nicht mehr aufhören zu lachen und in eine kleine Pause hinein, die nur entstand, weil wir ja auch mal Luft holen mussten, sagte ThorstenKai, am besten gehen wir direkt hoch, ihr seid genau in der richtigen Verfassung für unser Spiel.
Wir gingen also hoch, alle drei, gingen lachend und prustend die beiden Stockwerke nach oben und es war das letzte Mal, dass wir «euch» waren, vom nächsten Tag an waren wir für lange Zeit nur noch die «armen Kinder», aber das wussten wir da noch nicht. Wir wussten auch nicht, dass ThorstenKai nie mehr zur Kirche und manchmal noch nicht einmal in die Schule gehen würde, dass er sein abgedunkeltes Zimmer kaum noch verlassen würde.
ThorstenKai, der wegen seiner Vernünftigkeit als einziger von uns einen Hausschlüssel hatte, schloss die Tür auf und gab uns einen kleinen Schubs, was uns auch schon wieder so irre komisch vorkam, dass wir stolpernd an der Garderobe entlang lachten und weil die Tür zum Wohnzimmer auf war, schepperten wir ohne Verzögerung ins Wohnzimmer, in dem meine Mutter mit einer Nachbarin sass, was wir vorher nicht gewusst hatten, und wir lachten und kugelten um das Sofa, auf dem sie sassen herum und zogen unsere Schuhe, dann unsere Strümpfe aus, wir wälzten uns wie Käfer auf dem Boden und zeigten unsere verkrüppelten Zehen, wir merkten, dass wir tatsächlich noch viel verrückter waren, als wir es je für möglich gehalten hätten und sahen nicht unsere Mutter, die zunächst den Kopf schüttelte, ihn dann in den Händen barg und später wohl auch schrie, wir schrien ja selber. Wir bemerkten zunächst noch nicht einmal, dass wir irgendwann alleine waren, dass die Nachbarin und dann die Mutter den Raum verlassen hatten.
Die Mutter hatte nicht nur das Wohnzimmer verlassen, sondern gleich die Wohnung, sie hatte sie auch nicht wirklich verlassen, wenn man sich unter verlassen so etwas wie einen geordneten Rückzug vorstellt, sondern sie war geflohen, sie war gerannt, sie war, auch sie war gestolpert, aber nicht im Flur, oder gegen die Wohnzimmertür, sie war nirgendwo gegengescheppert, sondern runtergeflogen, ohne natürlich wirklich fliegen zu können, sie war also zwar geflogen, aber nicht gelandet oder doch schon gelandet, aber eben nicht gut, nicht glatt oder vielleicht sogar zu glatt, sie war jedenfalls so gelandet, auf der Treppe gelandet, dass sie sich nicht mehr bewegte. Nie mehr bewegte.