März 2017

Es war einmal…

von Marco Schneiter
Jahresthema: Erste Sätze
Monatsthema: «Es war einmal.»

Es war einmal…

Ein Löwe!

Schon wieder ein Löwe?

Ja, ein schneeweisser.

Das kommt mir bekannt vor.

Mit langer Mähne.

Meinetwegen. Wer sonst noch?

Ein Prinz, eine Königin und eine Hexe. Der Prinz ist in die Königin verliebt.

Der Prinz ist in die Königin verliebt?

Und die Königin in den Prinzen!

Und der Prinz ist … der Sohn der Königin?

Nein! Er ist einfach ein Prinz.

Gut. Er ist also aus einem anderen Königreich… Aus welchem Land stammt er denn?

Aus dem Prinzenland.

Hätt› ich mir denken können. Und dann betrügt die Königin von … sagen wir Silberlöw, den König von Silberlöw mit einem Prinzen?

Nein. Er betrügt die Hexe!

Der Prinz?

Der Prinz!

Hatte er denn was mit der Hexe?

Die Hexe hat ihm gesagt, wenn er sich in die Königin verliebt, dann verwandle sie ihn in einen Frosch!

Nicht in einen Löwen?

Nein, in einen Frosch!

Und was machen wir mit dem Löwen?

Ach, Papa. Du bist dumm! Der Löwe beschützt die Königin!

Vor dem Prinzen?

Nein, vor den bösen Zwergen!

Ach, und wo kommen jetzt plötzlich die Zwerge her?

Hinter den Bergen! …Papa, du nervst!

Schön ruhig bleiben! Also, ich fasse zusammen. Der Prinz…nennen wir ihn Prinz von Lurch? Gut. Also, Prinz von Lurch, obschon die reelle Gefahr bestand, von der Hexe zu einer Amphibie verwandelt zu werden, pirschte sich an die Königin von Silberlöw heran, um sie dann…

Ja?

Dann betrügt die Königin den König mit dem Prinzen?

Nein, er betrügt die Hexe!

Ok! Nicht schreien, ich hab verstanden. Gut. Also, er betrügt die Hexe …aber weshalb muss er denn überhaupt die Hexe betrügen?

Weil sie ihn heiraten wollte!

Wieso frage ich auch? Aber Liebes, gehst du mit mir einig, dass wir mit der Geschichte dort beginnen müssen, wo der Prinz in die Fänge der Hexe gerät?

Ja, aber er war böse zu der Hexe.

Jetzt wird es interessant! Eine komplexe Persönlichkeit also, dieser Prinz. Lass mich überlegen.

Papa, weiter machen!

Hmmm…bevor wir weiter machen, brauchen wir eine Moral der Geschichte. Wie bei Struwwelpeter, weisst du. Kommt dir etwas in den Sinn?

Nein.

Wo hast du das Buch?

Struwwelpeter? Mama hat es weggegeben.

Was? Wieso denn?

Sie hat gesagt, das seien Brutalogeschichten. Nichts für kleine Kinder.

Aber du bist ein grosses Kind!

Ich habe es aber nicht selber lesen können. Es war zu schwierig. Und Mama wollte nicht vorlesen.

Ich hätte sie dir vorlesen können!

Ja, aber du bist ja nicht mehr hier.

Ich bin jetzt hier.

Papa, kannst du endlich weitermachen!

Ok, dann halt ohne Moral. Passt irgendwie in die heutige Zeit! Nun also, es war einmal der Prinz von Lurch, im Mai geboren, Sternzeichen Zwilling, mit einer abgründigen Seite. Ein Draufgänger, müsste man noch anfügen, ein Waghals, der eines schönen Tages tollkühn in den dunklen Wald ritt, den zu betreten sich alle fürchteten. Der Prinz jagte seinen Schimmel durch das dichte Unterholz, so dass sich die Büsche mit Hechtsprüngen in Sicherheit bringen mussten. Nur für den Raben Ahab kam jede Hilfe zu spät: Als ihn der flinke Prinz von Lurch auf einem Knusperhäuschen erspähte, legte er die Armbrust an und holte ihn ohne mit der Wimper zu zucken vom Lebkuchen herunter.
Ich weiss, sowas findest du toll. Aber die Geschichte ist hier noch nicht zu Ende. Denn der Rabe gehörte der Hexe … wie hiess die Hexe noch gleich?

Mama!

Seriös bleiben, mein Kind! Nennen wir sie Gretel. Gut. Also Hexe Gretel war über den Verlust ihres Raben erbost und … ist Gretel eine böse Hexe?

Ja…, nein!

Gut, dann ebenfalls eine komplexe Persönlichkeit. Sie sagte mit krächzender Stimme: «Du hast meinen Raben umgebracht! Er war mein ein und alles!» Und die Hexe wollte weinen, aber ihre alten, vertrockneten Augen gaben nichts mehr her. Sie wimmerte deshalb leise: «Einmal war er ein schöner Prinz wie du, aber dann hat er den Schnabel zu weit aufgerissen und ich habe ihn in einen Raben verwandelt.»

Nein, in einen Frosch!

Nein, in einen Raben!

Nein, ich habe gesagt: Frosch!

Stopp, nicht weinen, Avalon, hör mir zuerst zu: Der alte Prinz, nennen wir ihn Prinz von Unglück, wurde von der bösen Hexe vor langer, langer Zeit in einen Raben verwandelt, vielleicht weil er der Hexe gesagt hatte, dass sie alt und hässlich sei und Warzen habe und ihre Haare aussähen wie die von Präsident Trump nach der Behandlung auf dem elektrischen Stuhl …Hör auf, nicht schlagen! Gut, diese Version ist gestorben. Wie auch immer, Prinz Unglück wurde von der Hexe vor langer Zeit in einem Raben verwandelt. Weshalb, sagte die Hexe nicht. Nun war der Rabe tot und die Hexe Gretel war ganz alleine.

Und damit sie nicht so allein war, wollte sie den jungen Prinz von Lurch heiraten!

Genau! Und wenn er sie nicht heiraten wollte, dann würde sie ihn verwandeln, nämlich in einen …

Frosch!

Genau! Oder gar in eine Geburtshelferkröte – was in Anbetracht der Umstände noch schlimmer gewesen wäre. Dem Prinzen grauste vor der alten Hexe. Wenn er sich hier aus der Affäre ziehen wollte, musste er eine List anwenden. Er sagte also der Alten, er freue sich sehr auf die Heirat, doch zuerst müsse er ins Königreich der Silberlöwen, um die sieben bösen Zwerge zu erledigen. Im Prinzenland konnte ein Prinz schliesslich nur heiraten, wenn er in der Fremde gefährliche Abenteuer bestanden hatte.
Die Hexe konnte sich nicht an diesen Brauch erinnern, aber sie hatte kein Problem damit. Sie sagte, sie freue sich, wenn er zu ihr zurückkehre und er solle doch aufpassen, dass er pünktlich erscheine – denn sie sei ganz schlecht darin, Tiere in Prinzen zurückzuverwandeln.
Der Prinz von Lurch hörte gar nicht recht hin. Er war schon wieder auf sein Pferd gestiegen und stieb davon. Er hatte einen gerissenen Plan. Er wusste nämlich, dass auch die Königin von Silberlöw magische Kräfte besass und ihn vielleicht von diesem Fluch der Hexe befreien konnte.

Doch dort bei der Königin lauerte der weisse Löwe!

Der die Königin beschützte. Aber gegen den Prinzen hatte der Löwe nichts, oder?

Doch. Der weisse Löwe wollte den Prinzen fressen!

Weshalb Prinz von Lurch geistesgegenwärtig sein treues Pferd opferte und dem Tiger zum Frass vorwarf.

Löwe!

Sag ich ja.

Nein, es war ein Löwe! Du hast Tiger gesagt! Wenn du das Märchen nicht kennst, dann rufe ich Mama.

Das wird schwierig. Mama ist an einer Sitzung.

Wann kommt sie zurück?

Wenn du schläfst.

Und du schläfst hier?

Nein, ich gehe nach Hause. Aber jetzt nicht abschweifen. Wir waren beim Prinzen. Der kommt zum Silberlöwen, füttert ihn mit seinem Pferd und stellt sich der Königin vor.

Und dann verlieben sich die beiden und werden ein glückliches Paar.

Naja, eigentlich wollte ich noch deine Zwerge reinnehmen, aber sagen wir, ja, sie verliebten sich, die Königin befreite den Prinzen von seinem Fluch und die beiden gingen auf einander los wie frisch verliebte Zwergfinken. Hmmm…aber was machen wir nun mit dem Mann der Königin? Dem König?

Warum schläfst du nicht mehr hier?

Das habe ich dir doch schon erklärt.

Ich habe es aber nicht verstanden.

Ok, hör zu: Weil Mama und ich, wir lieben uns nicht mehr so richtig.

Mama liebt dich noch. Hat sie gesagt. Sie hat gesagt, du seist aber nicht mehr so verliebt in sie.

Ja, das stimmt.

Und dass du eine andere gefunden hast. Wie der Prinz. Und Mama ist die Hexe.

Nein, mein Schatz! Mama ist keine Hexe. Im Gegenteil!

Aber du hast dich in eine andere verliebt. Wie der Prinz in die Königin.

Weisst du, das kannst du nicht wirklich vergleichen.

Papa, was ist mit der Hexe passiert? Und dem König und den Zwergen?

Ich weiss nicht. Sag du!

Du machst die Märchen!

Gut. Lass mich kurz überlegen. Der König musste also Hals über Kopf das Schloss verlassen, weil er befürchten musste, vom weissen Löwen gefressen zu werden. Der König irrte deshalb einsam und verlassen im Königreich umher und wäre vor Kummer fast verhungert – aber vor allem auch, weil er keine Ahnung hatte, wie er ohne Leibkoch überleben sollte. Und die Leute auf dem Land wollten dem armen Bettler nicht helfen, denn sie erkannten ihren König nicht – schliesslich hatten sie ihn nie ohne Krone und vornehme Kleider gesehen.
Irgendwann traf der verlauste König auf die sieben Zwerge. Diese waren hungrig und wollten den Bettler mit roter Beete und Weisskohl zu einer Suppe verkochen. Sie steckten den König in einen grossen Topf, gossen Wasser hinzu und begannen den Kessel zu heizen. Der König wehrte sich nicht, ihm war die Lust aufs Leben sowieso vergangen. Und während also das Wasser heisser und heisser wurde, sang der König ein Klagelied, das von seinem schlimmen Schicksal erzählte. Das Lied schlug den Zwergen so auf den Magen, dass sie den König aus dem Kochtopf befreiten und berieten, wie sie dem armen Geschöpf helfen könnten.

Waren die Zwerge denn nicht böse?

Nein, eigentlich nicht, aber sie bekämpften die Königin, seid dieser leidigen Geschichte mit Schneewittchen. Die sieben Zwerge kamen überein, den König in den dunklen Wald zu bringen und bei der alten Hexe zu verstecken. Die Hexe hatte zuerst überhaupt keine Freude am Besuch. Ihr Prinz von Lurch war nicht zurückgekehrt und sie war darob sehr aufgebracht. Sie versuchte, die Zwerge mit ihrem Besen zu verscheuchen. Diese deuteten ihr aber, zu schweigen und dem Klagelied des Königs zuzuhören.
So hob der König abermals zu seinem Klagelied an und als er fertig war, war es ganz still im dunklen Wald. Kein Tier stöberte durchs Unterholz, kein Vogel zwitscherte. Die alte Hexe war so gerührt, dass ihre alten Augen endlich wieder ein paar Tränen hergaben. Und nun begann auch sie zu singen, von der guten alten Zeit, als sie eine junge Prinzessin war, eine mit Zauberkräften, und verliebt, in den Prinzen von Glück. Doch weil der Prinz von Glück lieber an Pferderennen ging als mit sich mit ihr in der Kemenate zu tummeln, verwandelte sie ihn kurzerhand in einen Unglücksraben.

Papa, was ist eine Kemenate?

Jetzt nicht! Es wird gerade spannend! Eigentlich sollte die Verwandlung nur ein Scherz sein, aber sie konnte sich nicht mehr an den umgekehrten Zauberspruch erinnern. Und weil sie mit dieser Tat gegen die heiligen Gesetze der Zauberei verstossen hatte, wurde sie zur Strafe in ein altes warziges Weib verwandelt, das mitsamt Unglücksraben in den Wald verbannt wurde. Dort sollte sie bis an ihr Lebensende darüber nachdenken, was sie angerichtet hatte.
Der König war nun seinerseits so gerührt von der Geschichte, dass er die alte hässliche Hexe in die Arme schloss und beide weinten sie um die Wette. Als sie sich langsam aus der innigen Umklammerung lösten, war die Hexe wieder eine wunderschöne Prinzessin.

Weshalb?

Die Tränen des Königs hatten ihren Fluch beendet.
Und der König war glücklich, weil er die böse Königin losgeworden war und nun eine liebe und schöne Prinzessin hatte!

Das ist keine schlechte Geschichte, Papa. Und was ist mit dem Prinzen von Lurch?

Sag du!

Der wurde vom weissen Löwen gefressen…